27. Oktober 2020 in Aktuelles
Starkes Bekenntnis des alten aber weisen Mannes: „Ich habe mich täuschen lassen!“ – Ihm sei nicht bewusst gewesen, „dass auch schreckliche Entstellungen des Glaubens“ in der Integrierten Gemeinde möglich gewesen seien. Von Bernhard Müller/PUR-Magazin
Vatikan (kath.net/Pur Magazin) Dem emeritierten Papst Benedikt XVI. gelingt es trotz seines hohen Alters und seines schwer angeschlagenen Gesundheitszustandes immer wieder, die Öffentlichkeit zu überraschen. Seit langem scheinen alle Biografien über den Ratzinger-Papst zu Ende geschrieben zu sein, da setzt er weiter neue Zeichen, die zeigen, dass sein großes Leben immer noch nicht abgeschlossen ist. Mit einer Stellungnahme in der November-Ausgabe der „Herder-Korrespondenz“ hat der 93-jährige jetzt den dritten verblüffenden Coup in diesem Jahr gelandet.
Nach der gewaltigen medialen Aufmerksamkeit, die ein Beitrag Benedikts zur theologischen Begründung des Zölibats in einem Ende Januar diesen Jahres erschienen Buches von Kardinal Robert Sarah auslöste, verblüffte der inzwischen körperlich sehr gebrechliche emeritierte Papst im Juni die Welt damit, dass er zum ersten Mal nach seinem Rücktritt im Februar 2013 den Vatikan verließ, um seinen todkranken Bruder Georg in Regensburg zu besuchen.
Und nun, weitaus weniger spektakulär, das starke Bekenntnis des alten aber weisen Mannes: „Ich habe mich täuschen lassen!“. Mit diesen Worten distanziert sich Benedikt jetzt von der „Integrierten Gemeinde“ (IG), zu der er jahrzehntelang enge Verbindungen unterhielt. Offensichtlich sei er über manches im Innenleben der IG nicht informiert oder gar getäuscht worden, so Benedikt in seiner Erklärung in der „Herder-Korrespondenz“. Das bedauere er.
Joseph Ratzinger, der die Gruppierung in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising 1978 kirchlich anerkannte, gesteht heute ein, dass ihm damals nicht bewusst gewesen sei, „dass auch schreckliche Entstellungen des Glaubens“ in der „Integrierten Gemeinde“ möglich gewesen seien.
Die 1968 gegründete „Integrierte Gemeinde“ sollte nach eigener Darstellung „ein Ort für ein aufgeklärtes und unverkürztes Christentum“ sein und galt jahrelang als vielversprechender Aufbruch in der Kirche. Inzwischen haben zahlreiche ehemalige Mitglieder von schweren Eingriffen in das Privatleben – etwa die Wahl des Wohnorts und die Zahl der Kinder – und von massivem psychischen Druck auf Angehörige berichtet.
Benedikt XVI. hat das nicht kalt gelassen. Er will nicht sterben, ohne die Klage der Opfer gehört und beantwortet zu haben. Reue macht den Starken zum Heiligen und zeigt seine wahre Autorität. Joseph Ratzinger gesteht mit seiner Stellungnahme nicht nur einen Fehler ein, den er über Jahre hinweg begangen hat, sondern er steht auch zu seiner menschlichen Begrenzung. Er versucht nicht, sein Leben und sein Pontifikat mit weißer Farbe als makellos zu übertünchen, sondern hat den Mut, seine frühere Meinung als Irrtum einzugestehen. In diesem Fall erforderte es sicherlich mehr Mut und Kraft, seine alte Einstellung zu ändern als ihr treu zu bleiben. Die dritte Überraschung, die der emeritierte 93-jährige Papst in diesem Corona-Jahr 2020 vollbrachte, ist vielleicht die öffentlich unbeachtetste, aber menschlich die größte.
Archivfoto: Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. in seiner Zeit als Kardinal
© 2020 www.kath.net