28. Oktober 2020 in Interview
Kardinal Müller: „Immer wenn Kirchenfeinde, Atheisten und LGBT-Aktivisten die Gesprächspartner des Nachfolgers Petri sind, ist ein entgegengesetztes Ergebnis möglich.“ Interview von Lorenzo Bertocchi (La Verità)
Vatikan (kath.net/La Verità/pl) kath.net dankt S.E. Gerhard Kardinal Müller und Lorenzo Bertocchi (Il Timone) für die freundliche Erlaubnis, dieses Interview in deutscher Sprache veröffentlichen zu dürfen. Erstveröffentlichung in der mailändischen Tageszeitung La Verità.
Lorenzo Bertocchi (La Verità): Sie werden das laute Mediengetöse gehört haben, das durch einige der Äußerungen des Papstes zum Thema der eingetragenen Lebenspartnerschaften in einem in diesen Tagen präsentierten Dokumentarfilm ausgelöst wurde. Welche Einschätzung haben Sie dazu?
Kardinal Müller: Immer wenn Kirchenfeinde, Atheisten und LGBT-Aktivisten die Gesprächspartner des Nachfolgers Petri sind, ist ein entgegengesetztes Ergebnis möglich. Entweder der Papst führt sie an den katholischen Glauben heran, oder diese verdrehen seine Aussagen zu ihren Gunsten und verwirren die Katholiken, die treu zum Papst stehen wollen.
Kein Katholik kann die Lehre der Kirche in der Interpretation der kirchenfremden Gesprächspartner ernst nehmen. Es ist völlig unerheblich, was sie aus ihren Gesprächen mit dem Papst berichten oder wie er in ihren Filmen und Interviews auftritt.
Und vom Standpunkt der wissenschaftlichen Theologie stellen diese privaten pastoralen Mutmaßungen keinen locus theologicus dar. Sie haben keine Autorität für einen katholischen Christen, selbst wenn der Papst damit "Prozesse anstoßen" will.
Der Glaube ergibt sich aus der Offenbarung Gottes und nicht aus dem manipulativen Wording und Framing von theologischen und politischen Influencern.
Die Glaubenslehre über den Ursprung, den Sinn und die Grenzen der Autorität des Papstes in Fragen des Glaubens und der Moral sind eindeutig definiert vom Konzil von Florenz und besonders deutlich vom I. und II. Vatikanum.
Die Autorität des päpstlichen Lehr- und Hirtenamtes beruht nicht in der begrenzten Persönlichkeit des jeweiligen Inhabers des Thrones Petri. Das sehen wir an dem Fischer Simon, den Jesus zum Petrus machte, sondern auf seiner göttlichen Sendung.
Seine Vollmacht, die den religiösen Gehorsam aller Katholiken erfordert, besteht ausschließlich darin, das zu bekennen, was ihm der himmlische Vater geoffenbart hat: nämlich, dass Jesus nicht irgendein Prophet oder moralisches Vorbild ist, sondern der Sohn Gottes (Mt 16, 16). Jesus ist auch nicht "Sohn Gottes" in einem abgeleiteten oder übertragenen Sinn, etwa so wie wir Söhne Gottes durch die Adoption in Gnade sind (vgl. Röm 8, 16) Er ist der Sohn in der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, der uns Seinen Vater offenbart ( Mt 11, 27) und dem – als dem Sohn – alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist. Die Apostel und ihre Nachfolger lehren nur das, was ihnen Jesus aufgetragen hat (Mt 28, 20).
Ein blinder Gehorsam gegenüber Menschen, wie in den totalitären Systemen des Personenkultes ihrer Führer, ist das Gegenteil von religiösem Gehorsam als Teilelement des übernatürlichen Glaubens, der sich unmittelbar auf Gott richtet, der nicht täuscht und nicht täuschen kann (Lumen gentium 25.
Bertocchi: Abgesehen von den Umständen und möglichen Fehlinterpretationen des Denkens von Papst Franziskus bleibt eine seiner Erklärungen über die Möglichkeit einer rechtlichen Absicherung für die zivil vorhandenen Verbindungen. Was halten Sie von dieser Möglichkeit?
Kardinal Müller: Die manchmal bewusst herbeigeführte Konfusion besteht in der Verwechselung der objektiven Wahrheit der natürlichen und sakramentalen Union von Mann und Frau in der Ehe und den persönlichen Problemen, die manche individuelle Personen haben mit einer erotisch-sexuellen Anziehung von Personen des gleichen Geschlechtes. Ein säkularer Staat bezieht seine Normen nicht aus der übernatürlichen Offenbarung oder aus einer konkreten Religion, aber aus dem Naturrecht, das sich in der Vernunft erschließt.
Die Kirche – als Wahrerin auch der natürlichen anthropologischen Wahrheiten – muss der Anmaßung des Staates oder ideologischer Organisation wie LGBT entgegentreten, die nach ihrem Gusto die Ehe von Mann und Frau als eine soziale Konstruktion relativieren und in der Folge auch die gleichgeschlechtlichen oder verschiedengeschlechtlichen Kontakte zu einer Art von Ehe umdefinieren wollen.
Päpste und Bischöfe müssen es in der Medienwelt von heute lernen, sich so klar und eindeutig auszudrücken, dass die pastorale Sorge für einzelne in Menschen in schwierigen Situationen nicht missbraucht wird zur Unterminierung der Anthropologie, deren ontologische und moralische Prinzipien sich aus der Vernunft und aus der Offenbarung ergeben.
Bertocchi: Einige Bischöfe haben gesagt, dass die Äußerungen des Papstes ein Irrtum in Bezug auf das vorherige Lehramt seien, man sehe beispielsweise die „Nota” der Kongregation für die Glaubenslehre aus dem Jahr 2003, in der es heißt, dass keine rechtliche Anerkennung derartiger Verbindungen möglich ist. Wie werten Sie das?
Kardinal Müller: Zuerst muss der Papst inhaltlich mit der Offenbarung in Übereinstimmung stehen, wie sie in der Heiligen Schrift und der Apostolischen Tradition enthalten und bezeugt ist. Dann muss er auch formal alle dogmatischen Entscheidungen der vorangehenden Konzilien und Päpste anerkennen.
Weder der amtierende Papst noch seine Vorgänger können ihre subjektiven Ansichten (über die Weltpolitik, die Kindererziehung oder die Kochkunst) der ganzen Kirche zu glauben vorlegen.
So sind z. B. politische Ansichten zum Verhältnis von Kaiser und Papst im Mittelalter zeitbedingt und nicht für den offenbarten Glauben verbindlich.
Man kann und muss viele Denk- und Verhaltensweisen einzelner Päpste kritisieren, ohne die göttliche Sendung und Vollmacht des Papstes als Nachfolger Petri in Frage zu stellen.
Jesus hat den Simon zum Petrus gemacht, auf den er seine Kirche baut. Und zugleich hat Jesus, das wahre Haupt der Kirche, ihn doch schwer kritisiert vor allem für seine Verleugnung während der Passion Christi. Die Heiligen Hieronymus, Augustinus und Thomas von Aquin haben in ihrem Galaterbrief-Kommentaren den hl. Paulus für seinen Freimut in der heftigsten Kritik an Petrus und umgekehrt Petrus für seine Demut gelobt, mit der er diese brüderliche Zurechtweisung angenommen hat. Damals hat Petrus der Einheit der Kirche einen unschätzbaren Dienst erwiesen.
Und die Ausübung des Primates der römischen Kirche muss sich immer die beiden Apostelfürsten vor Augen halten, die mit ihrem Märtyrerblut der Kirche von Rom den Primat in der Gemeinschaft der bischöflichen Ortskirchen erworben haben.
Bertocchi: Ein Teil der katholischen Welt glaubt, dass es ausreicht, dass die Zivilunion nicht Ehe genannt wird und sich damit also nicht auf die Familie bezieht, dass aber eine Anerkennung von Zivilgewerkschaften möglich ist. Würden Sie hier zustimmen?
Kardinal Müller: Gläubige Christen sind keine Sophisten und treiben mit den Worten einen nominalistischen Scherz. Die Ehe ist die lebenslange Union von einem Mann und einer Frau gemäß der Definition des Wortes und der Sache in der Schöpfungs- und der Erlösungsordnung. Jedwede Art des Zusammenlebens von Menschen des gleichen Geschlechtes (z. B. in einer Ordensgemeinschaft) oder des anderen Geschlechtes (z. B. Großfamilien) hat einen moralischen und religiösen Wert.
Aber man kann sie nicht Ehe nennen und jede geschlechtliche Vereinigung außerhalb der Ehe ist objektiv eine schwere Sünde.
Daran können auch „progressiv“ sich brüstende Theologen, die sich auf eine angebliche Nähe zu Papst Franziskus berufen, nichts ändern.
Historisch ist es schon vorgekommen, dass sogar einzelne Päpste in Glaubensfragen schwankend waren oder sich schwer verirrten.
Denn die Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittenfragen ist nur gegeben, wenn ein Papst ex cathedra eine geoffenbarte Glaubenslehre der ganzen Kirche zu glauben vorlegt. Er kann also nicht seine persönlichen Lebenserfahrungen, seine subjektiven Wertsetzungen und begrenzten philosophischen und theologischen Theorien der Kirche – als ihm geoffenbart – zu glauben vorlegen.
Denn die Offenbarung in ihrer konstitutiven Realität ist mit dem Tod des letzten Apostels definitiv abgeschlossen. Päpste und Bischöfe sind nur Diener Christi und Zeugen der ein für allemal erfolgten Offenbarung Gottes in Jesus Christus, und nicht Empfänger einer neuen Offenbarung, die über Christus hinausginge oder sogar Christus auf eine Vorstufe der höheren Gotteserkenntnis reduziert.
Hinter dem pseudo-intellektuellen Gerede vom Paradigmenwandel steht nur die unverhüllte Häresie, die das Wort Gottes verfälscht und den Wein der Hochzeit zu Kana wieder in Wasser zurück verwandelt.
Mit dem Licht des Heiligen Geistes bewahren Papst und Bischöfe die ein für allemal in Christus ergangene und in Schrift und Tradition hinterlegte Offenbarung. „Eine neue öffentliche Offenbarung als Teil der göttlichen Glaubenshinterlage (=fidei depositum) empfangen sie jedoch nicht.“ (Lumen gentium 25).
Früher haben uns die Protestanten zu Unrecht vorgeworfen, dass wir den Papst über Christus setzten, heute verteidigen wir zu Recht die authentische Lehre vom Papsttum gegenüber solchen Katholiken, die die kirchenpolitische Machtstellung des Papstes verabsolutieren und seine göttliche Sendung, „das immerwährend und sichtbare Fundament der Einheit im Glauben und der Gemeinschaft“ der Bischöfe und ihrer Ortskirchen zu sein (II. Vatikanum, Lumen gentium 18; 23) relativieren.
Archivfoto Kardinal Müller (c) Emmanuel du Bourg de Luzencon
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