„Alle Menschen, die zum Dienst in der Kirche bestellt sind, müssen geschützt werden!“

16. November 2020 in Interview


Holger Doetsch im kath.net-Interview, nachdem sein Bruder und er in Kirche zusammengeschlagen worden waren: „DBK muss Sicherheitskonzept auf ihre Tagesordnung nehmen“ – Ärgerlich: Berliner Bistumssprecher sprach von „Einzelfall“. Von Petra Lorleberg


Berlin (kath.net/pl) „Auf einmal rannte ein junger Mann nach vorne, Kirchenbesucher berichteten später, er habe in den Mittelgang gespuckt, brüllte hochaggressiv in Richtung meines Bruders ‚Du bist der Sohn der Hure Maria!‘, drang dann in den Altarraum ein und schlug meinen Bruder zusammen. Ich war schnell aufgesprungen und rannte dem Mann hinterher, doch mein Bruder lag schon am Boden. Er drehte sich um, sah mich, nahm das Lektionar vom Ambo, riss mehrere Seiten heraus und rammte es mir hiernach mit voller Wucht in den Nacken, sodass ich zu Boden ging und einige Sekunden ohnmächtig war.“ Das erläutert Holger Doetsch im kath.net-Interview. Doetsch (57) ist seit 1998 Mitarbeiter im Deutschen Bundestag, Hochschuldozent und Buchautor. Er hatte im August die Sonntagsmesse in der Kirche St. Joseph in Berlin-Wedding mitfeiern wollen, der sein Bruder Msgr. Jürgen Doetsch, Priester des Bistums Trier und Mitarbeiter der Apostolischen Nuntiatur Berlin, vorstand. Während der Messfeier wurde sein Bruder von einem Mann tätlich angegriffen, als Doetsch seinem Bruder zu Hilfe eilte, wurde er auch selbst niedergeschlagen. Die Kirche St. Joseph dient vorübergehend als Berliner Bischofskirche, da die Kathedrale St. Hedwig im Innern renoviert und umgebaut wird. Der Staatsschutz ermittelt. Doetsch berichtet im kath.net-Interview von dem Vorfall und seinen Folgen.

kath.net: Herr Doetsch, Sie gehen nur noch mit Pfefferspray in den Gottesdienst. Warum? Was ist passiert?
 
Holger Doetsch:
Am 30. August 2020 hielt mein Bruder Jürgen in der Berliner „Ausweichkathedrale“ St. Joseph das Hochamt, ich saß in der ersten Reihe am Gang. Jürgen war fast am Ende seiner Predigt angelangt, als im hinteren Kirchenschiff Unruhe ausbrach. Auf einmal lief ein junger Mann nach vorne, Kirchenbesucher berichteten später, er habe zuvor in den Mittelgang gespuckt, brüllte hochaggressiv in Richtung meines Bruders „Du bist der Sohn der Hure Maria!“, drang dann in den Altarraum ein und schlug meinen Bruder zusammen. Ich war schnell aufgesprungen und rannte dem Mann hinterher, doch mein Bruder lag schon am Boden. Der Mann drehte sich um, sah mich, nahm das Lektionar vom Ambo, riss mehrere Seiten heraus und rammte es mir hiernach mit voller Wucht in den Nacken, sodass ich zu Boden ging und einige Sekunden ohnmächtig war. Um meinen Bruder kümmerten sich derweil zwei Ordensschwestern, um mich die Messdienerin, die an diesem Sonntag Dienst hatte.
 
kath.net: Wie ging es dann weiter?
 
Doetsch:
Ich eilte schließlich in die Sakristei, wo Jürgen die Stelle, an der ihn der Faustschlag des Angreifers getroffen hatte, kühlte. Als er mich sah, sagte er sinngemäß, dass er den Gottesdienst zu Ende zelebrieren werde, und so geschah es dann auch. Nur die Kommunion hat er nicht erteilt, damit die inzwischen eingetroffenen Rettungskräfte ihn und mich behandeln beziehungsweise nachschauen konnten, wie schwer die körperlichen Folgen des Anschlags waren.

Inzwischen ermittelt der Staatsschutz, leider konnte der Täter noch nicht gefasst werden. Dass das Landeskriminalamt diesen Fall an sich gezogen hat, scheint mir ein Hinweis darauf zu sein, dass hier nicht in erster Linie mein Bruder angegriffen worden ist, sondern dass es sich um einen Anschlag auf unsere Kirche handelt.
 
kath.net: Wie hat denn Ihr Bruder, Monsignore Jürgen Doetsch, das Geschehene weggesteckt? Spüren Sie beide noch die psychischen Folgen des Anschlags?
 
Doetsch:
Ehrlich gesagt muss ich in der Nachbetrachtung sagen, dass wir beide unmittelbar nach dem Gottesdienst gar nicht richtig registriert haben, was da eigentlich geschehen ist. Man könnte es „Schock“ nennen. Wir sind sogar noch in ein italienisches Ristorante nahe der Kathedrale gegangen und auf dem Weg dorthin sind wir einem Mann begegnet, der ein T-Shirt trug mit der Aufschrift „Jesus ist dein Retter!“, und so war es ja irgendwie auch.

Erst Stunden später wurde mir klar, dass das, was da passiert ist, ein einschneidendes Erlebnis im Leben war. Ich bin nachmittags in meine Stammkneipe gegangen und begann auf einmal zu heulen. Was war ich froh, dass zu dieser Zeit keine Gäste und nur die Tresenkraft zugegen war, die mir sofort ein, zwei Schnäpse brachte.

Ich mag diesbezüglich über das Befinden meines Bruders nichts weiter sagen. Ich aber befinde mich noch immer in einem psychisch angegriffenem Zustand, zumal die Verbrechen an Christen in Lyon und Nizza ein Trigger waren.
 
kath.net: Trigger?
 
Doetsch:
„Trigger“ bedeutet in der Medizin und der Psychologie ein Auslöser für Etwas, und die Bilder aus Nizza und Lyon waren in meinem Kopf der Auslöser, in dessen Folge ich irgendwie bis heute zurückgeworfen worden bin. Anders formuliert: Es ist nur wenige Tage nach diesem 30. August in Frankreich etwas geschehen, das dazu geführt hat, dass ich mich schmerzlich daran erinnert habe, was einem selbst passiert ist und auch was hätte passieren können. Der Mann, der meinen Bruder und mich niedergeschlagen hat, hätte ja auch ein Messer bei sich haben können. Die Erinnerung an den 30. August 2020 werde ich wohl immer mit mir herumschleppen ...
 
kath.net: Sie, Herr Doetsch, fordern ein Sicherheitskonzept für Gottesdienste. Was schwebt Ihnen vor?
 
Doetsch:
Seine Exzellenz, Erzbischof Dr. Heiner Koch, hatte mich noch am Tag des Anschlags angerufen und mir versichert, dass er für meinen Bruder und mich betet. Das hat mich wirklich sehr gefreut. Aber, mit Verlaub, das reicht mir nicht.

Ich habe schon einen Tag nach dem Anschlag ein Sicherheitskonzept für Gottesdienste gefordert, also bereits vor den schrecklichen Verbrechen in Nizza und Lyon. Es geht nicht um meinen Bruder, und auch nicht um mich. Alle Menschen, die zum Dienst in der Kirche bestellt sind, müssen bestmöglich geschützt werden. Von den Messdienern über die Lektoren bis hin zum Kardinal.

Insofern gehört ein Sicherheitskonzept nicht nur auf die Tagesordnung des Erzbistums Berlin, sondern auch auf die der Deutschen Bischofskonferenz!

Mir ist klar, dass es einen vollumfänglichen Schutz nicht geben kann. Und die vom Bistum Berlin engagierten Sicherheitsmänner, die derzeit in St. Joseph wachen, werden auf Dauer auch nicht bezahlbar sein, zumal ich ja ein Sicherheitskonzept für möglichst alle Kirchen fordere.

Was in der Berliner Kathedrale geschehen ist, kann so oder noch schlimmer auch in einem Gotteshaus in Aurich oder sonstwo geschehen, zumal diese Welt ja zunehmend außer Rand und Band gerät.

Deshalb schwebt mir vor, dass künftig auf freiwilliger Basis in der ersten Reihe ein, zwei der Gottesdienstbesucher aus der jeweiligen Gemeinde mit entsprechender Statur, die ich leider nicht habe, aufmerksam darüber wachen, was passiert, und, wenn so etwas passiert, beherzt eingreifen.

Sie haben mich vorhin nach dem Pfefferspray gefragt, das ich seitdem mitführe. Ich tue dies, weil ich mich so sicherer fühle und hoffe, dass ich es nie brauchen werde.
 
kath.net: Finden Sie bei Ihren Forderungen Gehör?
 
Doetsch:
Jein. Ich habe mich vor diesem Interview bei dem für das von mir geforderte Sicherheitskonzept zuständigen Domprobst, Tobias Przytarski, nach dem aktuellen Stand der Dinge erkundigt, ich lasse da sicher nicht locker. Es wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, weiterhin führt er entsprechende Gespräche mit dem Präventionsbeauftragten der Polizei. Domprobst Przytarski hat mir Hoffnung gemacht, spätestens im Januar des kommenden Jahres ein entsprechendes Konzept vorlegen zu können.

Auf der anderen Seite fühle ich mich nicht ernstgenommen, wenn der Bistumssprecher Stefan Förner auf Medienanfragen hin mit Blick auf den Anschlag auf meinen Bruder und mich allen Ernstes von einem „Einzelfall“ sprach so nach dem Motto „Alles nur halb so wild ...“, und dann auch noch quasi locker-flockig nebenher behauptet, Jesus Christus lade ja alle Menschen zum Gottesdienst ein, was so totaler Quatsch ist. Jeder Angriff auf Priester etc. ist ein Einzelfall.

Der Bistumssprecher hat in seinen Mitteilungen in meinen Augen nicht nur jegliche Empathie missen lassen, sondern er hat darüber hinaus dann auch noch die Öffentlichkeit in die Irre geleitet, indem er behauptet hat, es gäbe dieses Sicherheitskonzept schon. Das ist schlicht falsch.

Im Übrigen: Sofern er das mit dem „Einzelfall“ gegenüber den Medien ohne Absprache mit der Bistumsleitung von sich gegeben hat, wäre das ein unverzeihlicher, ein abmahnungswürdiger Vorgang gar. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe in den letzten Jahrzehnten einige Pressestellen verantwortlich geleitet. Sollte Herr Förner seine Stellungnahmen aber mit der Bistumsleitung abgesprochen haben, dann wäre das in meinen Augen ein Skandal.
 
kath.net: Sorgen Sie sich, dass Christen eine potentielle Zielgruppe für solche Angriffe sind?
 
Doetsch:
Selbstverständlich sorge ich mich. Und das, was in Nizza, Lyon und anderswo geschehen ist, und was schon in den vergangenen Jahren bereits geschah – die Liste verletzter und ermordeter Christen ist lang – beantwortet Ihre Frage im Grunde von selbst.
 
kath.net: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Doetsch!

Archivfoto Holger Doetsch (c) Holger Doetsch


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