Blinde Flecken im Film „Gott von Ferdinand von Schirach“

25. November 2020 in Kommentar


„Der Film reiht sich ein in eine Reihe von Filmen in den letzten Jahren, die für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe warben.“ Gastbeitrag von Manfred Spieker


Berlin (kath.net) 1. Der Film war sehenswert, die Schauspieler waren durchweg sehr gut, die Texte meist präzise und kompetent. Der seltsame Titel erklärt sich daraus, dass der Film ein Theaterstück präsentiert, das Drama „Gott“ von Ferdinand von Schirach. Der Film ist ein Kammerspiel. Er zeigt die fiktive Sitzung eines Ethikrates, in der es um die Frage ging, ob ein Arzt dem sterbewilligen, 78-jährigen, gesunden Richard Gärtner ein tödliches Mittel verabreichen darf oder nicht. Dahinter steht die m.E. falsche Frage, ob das Leben Gott oder dem Menschen gehört. Ob Gärtner das tödliche Mittel erhalten soll oder nicht, darüber sollen am Ende des Films die Zuschauer abstimmen. 70,8 % stimmten denn auch dafür, 29,8 % dagegen. Das Ergebnis überraschte mich nicht. Es gibt seit rund 20 Jahren Umfragen mit ähnlichen Ergebnissen. Ich kenne nur eine einzige Umfrage aus dem Jahr 2002, die eine Mehrheit gegen die aktive Sterbehilfe erbracht hat und das auch nur bei Menschen, die mehr als einmal pro Woche den Gottesdienst besuchen. Aber auch da war die Mehrheit mit 57 % nicht gerade eindrucksvoll.

2. Der Film reiht sich ein in eine Reihe von Filmen in den letzten Jahren, die für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe warben: Clint Eastwoods „Million Dollar Baby“ (2004), Alejandro Amenabars „Das Meer in mir“ (2005), Michael Hanekes „Liebe“ (2012). Zu den Vorläufern der filmischen Werbung für die Akzeptanz der Tötungsbeihilfe zählt nicht zuletzt der Göbbelsche Propagandafilm „Ich klage an“, der die Tötung einer unheilbar erkrankten, schwer leidenden Pianistin als Tat der Nächstenliebe ihres Gatten präsentierte.

3. Der Film „Gott nach Ferdinand von Schirach“ setzt bereits das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe in § 217 StGB voraus. Das Gericht verwarf dieses Verbot als verfassungswidrig und behauptete, aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht in Artikel 2, Absatz 2 und der Gewährleistung der Menschenwürde in Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes ergebe sich ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“. Dieses Recht dürfe nicht von materiellen Kriterien wie dem Vorliegen einer unheilbaren oder tödlich verlaufenden Krankheit abhängig gemacht werden. Es schließe auch das Recht ein, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Ferdinand von Schirachs Drama ist die filmische Vermarktung des Urteils. An der Seite des suizidwilligen Richard Gärtner steht im Film ein Rechtsanwalt, vielleicht ein Spiegelbild seines Erfinders, der die Sachverständigen – eine Verfassungsrechtlerin, einen Mediziner und einen Bischof – befragt und sein Halbwissen mit reichlich Arroganz zu überspielen versucht. Die Befragungen zumindest des Bischofs und des Arztes, der die Suizidbeihilfe unter Berufung auf den Eid des Hippokrates ablehnte, gleichen mehr einem Kreuzverhör als einer akademischen Veranstaltung. Der Anwalt will erreichen, dass seinem suizidwilligen Mandanten das tödliche Gift legal bereitgestellt wird.

4. Wie das Urteil vermeidet auch der Film die Frage nach den Grenzen der Selbstbestimmung. Selbst wenn der Suizidwillige den Wunsch zu sterben noch selbstbestimmt äußern sollte – dass das in der großen Mehrzahl der Suizide nicht der Fall ist, wurde im Film durchaus thematisiert –, so entzieht sich der Ablauf des Suizids doch häufig seiner Kontrolle. Selbstbestimmung am Ende des Lebens bleibt eine Illusion. Am Ende des Lebens ist Selbsthingabe statt Selbstbestimmung gefragt. Die Suizidbeihilfe kann scheitern und zwingt den Arzt zu einer aktiven Tötung. Der Assistent des Suizids wird zu seinem Meister. Schon die ersten Berichte der Regionalen Kontrollkommissionen zur Überprüfung der aktiven Sterbefälle nach der Legalisierung der Euthanasie in den Niederlanden berichteten von 26 derartigen Fällen. In einer Untersuchung im Kanton Sankt Gallen über „Sterbehilfeorganisationen in Betagteneinrichtungen“ war davon die Rede, dass es keine Informationen über die genauen Umstände des Todesfalls gebe. In der Bundestagsdebatte über Sterbehilfe am 13. November 2014 wies der Arzt und CDU-MdB Richard Henke mit Recht darauf hin, dass der Patient, der ärztliche Suizidbeihilfe in Anspruch nehme, doch nicht wolle, dass der Arzt weggeht, wenn er den tödlichen Cocktail ans Bett gestellt habe. Er soll vielmehr dabeibleiben und den Ablauf überwachen. Er soll intervenieren, wenn etwas schief geht oder der Suizident sich quält. Deshalb sei die Grenze zwischen Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen „sehr, sehr unscharf“.

5. Sehr an der Oberfläche blieb die Debatte über die gesellschaftlichen Folgen einer Legalisierung der Suizidbeihilfe bzw. der aktiven Sterbehilfe, den sogenannten Dammbruch. Die Behauptung der verfassungsrechtlichen Sachverständigen, in keinem der Länder, die die Suizidassistenz legalisiert haben, sei die Zahl der Suizide gestiegen, ist falsch. Sie wurde in der an den Film anschließenden Sendung „hart aber fair“ eindrucksvoll zurückgewiesen. Diese Länder weisen ohne Ausnahme eine deutliche Zunahme der assistierten Suizide aus. Niemand erinnerte an die Berliner Rede des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau zu Fragen der Bioethik, der am 18. Mai 2001 feststellte: „Wo das Weiterleben nur eine von zwei legalen Optionen ist, wird jeder rechenschaftspflichtig, der anderen die Last seines Weiterlebens aufbürdet“. Es entsteht ein psychischer Druck, den medizinischen, pflegerischen und finanziellen Aufwand zu vermeiden und sich dem Trend eines sozial- oder generationenverträglichen Frühablebens anzuschließen. Niemand brachte auch zur Sprache, dass es diese Plädoyers in der Philosophie (Dagmar Fenner) und in der Rechtswissenschaft (Manfred von Lewinski) längst gibt.

6. Erstaunlich war auch, dass sich der katholische Bischof im Film überfordert zeigte, die Behauptung des Anwalts, in der Bibel gebe es kein Verbot des Selbstmordes, zurückzuweisen. Kein Hinweis auf das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“ oder auf das Hauptgebot Jesu, den Nächsten zu lieben „wie sich selbst“, dem ebenfalls ein solches Verbot zu entnehmen wäre.

Weiterführende Literatur:
Manfred Spieker, Euthanasie – die tödlichen Fallen der Selbstbestimmung, in: Manfred Spieker, Der verleugnete Rechtsstaat. Anmerkungen zur Kultur des Todes in Europa, 2. Aufl. Paderborn 2011, S: 47-62
Rainer Maria Kardinal Woelki/Christian Hillgruber/Giovanni Maio/Christoph von Ritter/ Manfred Spieker, Wie wollen wir sterben? Beiträge zur Debatte um Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 112 S. Paderborn 2016.

Manfred Spieker, Sterbehilfe? Selbstbestimmung und Selbsthingabe am Lebensende. Eine katholische Perspektive, in: Thomas Sören Hoffmann/Marcus Knaup, Hrsg. Was heißt: In Würde sterben? Wider die Normalisierung des Tötens, Wiesbaden 2015, S. 215-245.

Manfred Spieker, Die Logik des assistierten Suizids, in: Rainer Beckmann/Claudia Kaminski/Mechthild Löhr, Hrsg., Es gibt kein gutes Töten. Acht Plädoyers gegen Sterbehilfe, Waltrop/Leipzig 2015, S. 27-39.

Manfred Spieker, Die Logik der Suizidbeihilfe. Kritische Anmerkungen zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB, in: Die Neue Ordnung, 74. Jg. (2020), erscheint im Dezember

Manfred Spieker, Anfang und Ende des Lebens in Robert Spaemanns Bioethik, in: Zeitschrift für Lebensrecht, erscheint Anfang 2021.

Prof. Dr. Manfred Spieker ist emeritierter Professor für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück.

 


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