26. November 2020 in Schweiz
„Der Apostolische Stuhl hat stets versucht, in der Deutschschweiz mit Chur ein Gegengewicht zu den Problembistümern Basel und St. Gallen zu installieren.“ Gastkommentar von Carrie White
Linz-Chur-Zürich (kath.net) Am 23. November sollte das Domkapitel des Schweizer Bistums Chur einen neuen Bischof wählen, lehnte jedoch die Dreierliste des Papstes per Mehrheitsbeschluss ab. Dazu heißt es in einigen Medien, man habe die Terna als Affront empfunden. Auf dieser standen der Churer Offizial Joseph Bonnemain, der Abt von Disentis, Vigeli Monn, und Mauro Giuseppe Lepori, der Generalabt der Zisterzienser in Rom. Diese Namen, so die Medien, seien als Versuch empfunden worden, Chur an den liberalen Kurs der anderen Deutschschweizer Diözesen anzugleichen. Im Vorfeld der Wahl hatten sich offenbar die Bischöfe von Basel und St. Gallen und der Abt von Einsiedeln eingemischt. Dies empfanden die Domherren als Versuch der Gleichschaltung mit den Bistümern Basel und St. Gallen, wo man hinsichtlich der Sexualmoral, der Frauenordination oder des Zölibats für eine Anpassung an den Zeitgeist plädiert. In der Tat gilt Mauro Giuseppe Lepori als Kritiker der kirchlichen Hierarchie und spricht sich für einen stärkeren Einbezug der Frauen aus. Vigeli Monn wiederum wurde von Mitgliedern der Schweizer Bischofskonferenz vorgeschlagen, was kein gutes Zeichen ist. Das Bistum Chur hatte über Jahre liberale Vorstöße der Bischofskonferenz gebremst, die nicht mit der Lehre der Kirche vereinbar waren. Joseph Bonnemain schließlich, der einzige Diözesanpriester auf der Liste, ist bereits 72½ Jahre alt. Er wäre eine Übergangslösung gewesen, die niemand wollte. Zudem gilt Bonnemain als Verfechter der so genannten «Landeskirchen». Diese verwalten das Geld der Kirche. Sie hatten im Vorfeld der Bischofswahl öffentlich geäußert, dass sie je nach Ergebnis dem Bistum die Gelder sperren würden. Die Domherren wollten verständlicherweise keinen Verfechter eines solchen Systems zum Bischof wählen, welches das Bistum Chur erpresst.
Die Kirche in der Schweiz nimmt jährlich rund 1,3 Milliarden Franken ein. Davon werden 98 % unabhängig von den Bischöfen verwaltet, von den sogenannten «staatskirchenrechtlichen Körperschaften». Die Zürcher Landeskirche ist eine solche Körperschaft. Die Körperschaften sind demokratisch organisiert und der zivilrechtliche Arbeitgeber für die Angestellten in Seelsorge und Verwaltung. Der Bischof hat praktisch keinen Einfluss auf diese Struktur, in der meist Laien das Sagen haben und mehr oder weniger tun können, was sie wollen.
In der Schweiz ist der gesellschaftliche Druck auf die Kirche in den letzten Jahren stark gewachsen. Viele Landeskirchen und Laiengremien möchten eine Kirche, die sich den moralisch-weltanschaulichen Standards der Gegenwart beugt. Sie wollen eine Kirche, die der säkularen Mehrheitsmeinung folgt. Es soll eine Kirche sein, die nicht mehr die eigene Lehre, die Tradition oder die Zehn Gebote als normativ betrachtet, sondern die säkularisierte «Lebensrealität». Dieser Anpassungswunsch wird aber nicht transparent gemacht. Stattdessen führt man personalpolitische Debatten mit begrifflichen Gegensatzpaaren wie „reaktionäre Bischöfe“, „ultrakonservative, weltfremde Bischöfe“ versus „liberale, weltoffene Bischöfe“. Es ist eine irreführende Personalisierung, die von den eigentlichen, inhaltlichen Differenzen ablenkt. Es geht nicht um Personalprobleme, sondern um einen geistigen und geistlichen Kampf zwischen der Verweltlichung und Verbürgerlichung der Kirche einerseits und der Verteidigung der Kirche als von Jesus Christus gestifteter geistlicher Gemeinschaft andererseits.
Erstaunlich ist, dass dieser fundamentale Interessenkonflikt in Rom nicht gesehen wird oder bei der Besetzung von Bischöfen zumindest keine entscheidende Rolle spielt. Anders ist es nicht zu erklären, dass man in Chur auf blasse, der Problematik nicht gewachsene Kandidaten gesetzt hat, als könnten diese in einer harten Auseinandersetzung, in der es um das Wesen der Kirche geht, standhalten. Es ist, als wolle man ein Krokodil, das hungrig ist, mit Appeasement-Politik dazu bringen, nicht zuzubeißen. Deshalb wurde der sogenannte „Mann der Mitte“ gesucht, der dem Krokodil gut zureden und es irgendwie mit der Kirche versöhnen sollte. Aber eine friedliche Koexistenz zwischen Katholizismus und Krokodil-Säkularismus wird nicht gelingen. Der heutige Säkukarisierungsschub durch Globalisierung, Digitalisierung und einen aggressiv auftretenden, atheistischen Wohlstands-Atheismus will sich überall durchsetzen und hat keinen Platz für eine Kirche, die sich diesem Programm verweigert. Für die Kirche kann es nicht um einen goldenen Mittelweg zwischen ihrem nicht aufgebbaren Wesen und einem letztlich atheistischen Säkularismus gehen. Sondern es geht um eine inhaltliche Entscheidung: entweder man beugt sich dem Säkularisierungsprogramm oder man leistet Widerstand. Entweder man glaubt, dass der Liebe und dem Heil der Seelen gedient ist, wenn die Kirche sich im herrschenden Zeitgeist auflöst wie ein Zuckerwürfel im Tee. Oder man glaubt, dass der Liebe und dem Seelenheil gedient ist, wenn man dem ganzen Evangelium treu bleibt, im Sinn der Lehre der Kirche.
Dass der Papst dem Churer Domkapitel eine Liste vorgesetzt hat, die darauf ausgerichtet war, die Anpassung an das Schweizer System zu forcieren, bedeutet auch, dass man nichts gelernt hat seit den Zeiten von Bischof Haas, von Bischof Amédée Grab oder Bischof Vitus Huonder. So verschieden diese Persönlichkeiten waren, wurden sie von den eigentlichen Machthabern der Kirche in der Schweiz, den Landeskirchen und Laiengremien, stets vor die gleiche Wahl gestellt: sie sollten tun, was diese von ihnen erwarteten, oder sich auf Krieg einstellen. Bischof Grab hat getan, was Landeskirchen und Laiengremien wollten, also herrschte mehr oder weniger Ruhe. Doch die Bischöfe Haas und Huonder, die sich erlaubten, gemäß der Lehre der Kirche zu führen, wurden bekämpft und dämonisiert. Nach der Amtszeit von Bischof Huonder hat der Papst vor anderthalb Jahren entschieden, einen Apostolischen Administrator einzusetzen, Bischof Peter Bürcher. Er ist ein geistlicher, tief gläubiger Mensch, sanft und freundlich im Auftritt. Auch das hat nicht geholfen. Denn der Apostolische Administrator hat sich erlaubt, für die Lehre der Kirche und ihre Disziplin einzutreten. Deshalb wurde er wie seine Vorgänger unter Druck gesetzt und öffentlich angegriffen.
Sollte in Chur bald ein Bischof wirken, der so handelt wie die Bischöfe von St. Gallen und Basel, ist die Identität der katholischen Kirche und ihr geistliches Wesen in Gefahr. Aufgrund der herrschenden Konkordate kann der Apostolische Stuhl in Basel und St. Gallen den Bischof nicht frei ernennen. Er kann nur die vom Domkapitel gewählte Person bestätigen. Allein in Chur gibt es die Möglichkeit, direkt Einfluss zu nehmen. Das ist der Grund, warum Chur meist konservativere Bischöfe hatte. Der Apostolische Stuhl hat stets versucht, in der Deutschschweiz ein Gegengewicht zu den Bistümern Basel und St. Gallen zu installieren und so die Kirche in der deutschsprachigen Schweiz in der Balance zu halten. Denn es braucht wenigstens eine Stimme, die den Gläubigen auch in den Problembistümern Basel und St. Gallen Orientierung gibt und die Hoffnung, dass sie der herrschenden Kultur nicht schutzlos ausgeliefert sind. Deshalb geht es bei der Ernennung in Chur um das Ganze. Es steht das Schicksal der Kirche in einem der reichsten und säkularisiertesten Länder auf dem Spiel.
© 2020 www.kath.net