23. Jänner 2021 in Buchtipp
Burkhardt Gorissen beschreibt den momentanen Ist-Zustand der Welt, die durch ungesteuerte Migration und die Corona-Krise vor einer enormen Belastungsprobe steht. Leseprobe Teil 3
Linz (kath.net)
Leseprobe 3
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts trat die Menschheit in eine Epoche der großen eschatologischen Kriege ein. Aus dieser Logik heraus begann sich nach dem Ersten Weltkrieg die Endform des Nihilismus auszuprägen, die in der Postmoderne im Selbsthass von Kunst, Kultur und Politik zerstäubt. Zunächst blieb diese Zerstörungswut begrenzt auf Kunst und Literatur, wo sich die radikalste Ausformung im Dadaismus zeigte. Man intonierte den Lobpreis des Absurden und spie Gottesbeschimpfungen aus, in der Hoffnung, dies sei ein Gegengift gegen die zunehmende Verzweiflung. Im Gegensatz zur Denkströmung des 19. Jahrhunderts wurde ein Leben ohne Ratio postuliert, frei von jeder Bindung, beheimatet in bitterer Sinn- und Zwecklosigkeit. Diese Bitternis, ein latent keimendes Merkmal des Nihilismus, richtete sich schon damals in seiner Zerstörungswut explizit gegen Gott und Gebot. Friedrich Nietzsche, legitimer Gottvater der modernen Verzweiflung, bekannte in Ecce Homo: „Ich kenne den Atheismus durchaus nicht als Ergebnis, noch weniger als Ereignis: Er versteht sich bei mir aus Instinkt.“[1] Nietzsche, man muss es ihm zugutehalten, ging es um die Befreiung des Wesens inmitten einer Auflösungsepoche. Hedonismus oder Eudämonismus standen nicht auf seinem programmatischen Fahrplan: „[…] seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“[2]
Die Welt barst im Schock der Moderne. Juan Grisʼ »Porträt von Pablo Picasso«[3] belegt den Verlust der Ganzheit. Nichts mehr hält zusammen, alles ist Nuance verlorener Unschuld: Gesicht und Körper kubistisch verrutschtes Fragment, die Sinne aus dem Konzept gefallen, die Augen gebrochen ins Erblindende geneigt. Was in der Aufklärung noch als Morgenlicht menschlichen Geistes gepriesen wurde, versank mit der geschundenen Kreatur in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Nietzsche hatte recht behalten, die Welt war „jenseits von Gut und Böse“. Inmitten dieses Zusammenstoßes von Realität und Vorstellung entstand eine Welt der Entseelung und des Tragischen, deren negative Lösung im Umsturz jeder Ordnung bestand. Der Verlust christlicher Denkbilder war prometheischer Hybris geschuldet, der Verlust der Menschlichkeit menschlicher Schwäche. Bei welchem Stockwerk endete der Turmbau zu Babel?
Die Wunderkinder der Moderne, die großen und kleinen Genies in Wissenschaft und Kunst, blieben Gefangene in ihrem selbst errichteten Atheismus-Käfig. Quo vadis, homine? Quo vadis, munde?[4] Mit Blick auf die Tiefe von Seele und Kosmos erblickten Freud und Einstein die Enge der Welt – aber sie blickten darüber nicht hinaus, ähnlich Rilkes Panther lähmt sie ein betäubter „großer Wille“, das Leben als Ansammlung neurochemischer, muskulärer Leistungen. So vergitterten sie ihre Denkakte in ihrem Theoriengefängnis und hörten, aller Freiheit verlustig, „im Herzen auf zu sein“.[5]
Viele Theorien der Moderne sind heute Abfallprodukte auf dem Recyclinghof für Wohlstandsmüll. Die Weltgeschichte nahm keine Rücksicht darauf. Nach dem Zweiten Weltkrieg, der die enorme Traumatisierung durch den Ersten Weltkrieg fast ins Unermessliche steigerte, stürzte das Wertesystem in eine noch tiefere Krise. Wenn Gott nicht tot war, wo war er auf den Schlachtfeldern der Weltkriege gewesen? Oder war Gott etwa selbst eine menschenfressende Bestie? Wolfgang Borchert artikulierte im Nachkriegsdeutschland den gellenden Schrei einer Jugend, die sich um ihr Leben betrogen sah, den „Aufschrei ihrer Herzen“: „[…] wir haben dich gesucht, Gott, in jeder Ruine, in jedem Granattrichter, in jeder Nacht. Wir haben dich gerufen. Gott! Wir haben nach dir gebrüllt, geweint, geflucht!“ In dieser Jugend, die sich verloren nannte, verbreitete sich seuchenartig Areligiosität, „weil für sie kein Zuhause mehr da ist“. Ihr Zuhause war: Draußen vor der Tür.[6] Borchert hypostasierte die Absurdität einer leeren Transzendenz. Sein Schrei bleibt zeitloses Zeugnis völliger seelischer und geistiger Leere. Er hallt bis heute nach.
[1] Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hier:„Warum ich so klug bin“. Hanser Verlag, München 1954, Band 2, S. 1082.
[2] Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hier:„Von den drei Verwandlungen“, Hanser Verlag, München 1954, Band 2, S. 293-295.
[3] Juan Gris, „Porträt von Pablo Picasso“, 1912. Juan Gris war Mitglied der Pariser Loge „Voltaire“. Nicht ganz zufällig ist Gris einer der führenden Vertreter des Kubismus. In der Freimaurerei gilt der kubische Stein als Symbol des geläuterten Gewissens.
[4] „Wohin gehtst du, Mensch? Wohin gehst du, Welt?“ (Anm. d. V.).
[5] Rainer Maria Rilke, Der Panther, LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag, Göttingen 2019, S. 29.
[6] Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen, Rowohlt Verlag, Reinbek 1962, S. 46.
[6] Ebd., S. 8.
kath.net Buchtipp
Gesellschaft ohne christliche Identität. Die Orientierung fehlt
Von Burkhardt Gorissen
Media Maria 2020
176 Seiten
ISBN: 9783947931231
Preis: Euro 17,50
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