Das Verschwinden der kirchlichen Eheschließungen

21. Jänner 2021 in Aktuelles


Welche neuen Utopien sollten wir erwarten? Wenn die Kinder fehlen... ‚Mit brennender Sorge’ – ein Nachdenken von Ettore Gotti Tedeschi. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as/egt) Es könnte so ausschauen, als handle es sich um eine Geschichte „aus dem Ausland“, die den Durchschnittsdeutschen und den deutschsprachigen Durchschnittskatholiken wenig interessiert oder interessieren muss. Dem ist nicht so. In Italien wurde in den letzten zwölf Monaten zwischen Covid-19-Lockdowns und Panikmache nicht mehr geheiratet. Das heißt: es wurden „wenige“ Familien gegründet und „wenige“ Kinder gezeugt. Erst in ein paar Monaten werden wir wissen, die groß der Einbruch de facto war/ist (die Demographen spitzen schon die Bleistifte und machen Updates für ihre MacBooks, um sich dann in die Analysen zu stürzen). Vor allem wurde aber nicht mehr kirchlich geheiratet. Das ist in dem Land, dessen Primas an und für sich der Papst ist, eine für die Kirche (und wir werden sehen: nicht nur für diese) katastrophale Sache.

Viele Beobachter erstaunte immer wieder die „Antwort“ der Kirche auf eine sogenannte Pandemie: war das „früher“ nicht einmal einer der Momente, in dem das „Kerngeschäft der Kirche“ – den Menschen das Heil Gottes zu verkünden, die Hoffnung auf das ewige Leben zu schenken und zu stärken – in besonderer Weise sichtbar und fruchtbar wurde? Das heißt: die oft vorlaufende und sprachlose de-facto-Unterwerfung unter Maßnahmen staatlicher Gewalt, ohne sich das Problem deren (verfassungsmäßiger, menschenrechtlicher und wissenschaftlicher) Legitimation zu stellen und ohne die Folgen für das Glaubensleben als primäres Element zu betrachten.

Und die Sakramente... die Sakramente sind weder von der Materie zu trennen noch von der physischen Nähe. Keines! Taufe, Firmung, Eucharistie, Bußsakrament, Krankensalbung, Weihesakrament in den drei Stufen der Diakon-, Priester- und Bischofsweihe (Novus Ordo), Ehe: da geht ohne Materie und ohne Nähe nichts. Materie schließt bedingend Körperlichkeit ein.

Wie steht es da also mit der Idee des „social distancing“ (man beachte die „contradictio in adiecto“), mit dieser radikalen anthropologischen Neuordnung, die an der Substanz des (kirchlichen) Lebens (nicht aber: des Glaubens) frisst, diese verleugnet und Verwesung schafft? Teilweise skurril war es in diesen Monaten dann, Diskussionen über „Sex in der Covid-Zeit“ zu verfolgen. Das fing an mit dem „Problem“ der Prostitution (und in Deutschland/Österreich der Bordelle) und endete auch im Schlafzimmer von Ehepaaren, mit sinnigen Ratschlägen für „Sex mit Abstand“, von der Maske bis hin zu alternativen Formen der Selbst- oder Andersbefriedigung.

Aber zurück: in Italien haben wir pandemiebedingt einen radikalen Einbruch der Eheschließungen, es wird wenig geheiratet, es werden noch weniger Kinder geboren, die kirchlichen Eheschließungen sind verschwunden. Von wegen „Amoris laetitia“, da nutzt es auch nichts, „Jahre“ auszurufen. Das Problem ist ein anderes geworden, und es ist dies die auch eine dramatische Ironie der Geschichte: nach zwei turbulenten „Familiensynoden“ in den letzten Jahren mit ihren ideologischen Kunstprodukten gibt es auch hier einen „great reset“. Die Kirche hat das mit all ihren „Experten“ und „Theologen“, die sich im „Feldlazarett“ „im Aufbruch“ sahen, anscheinend noch nicht wahrgenommen oder folgt einer anderen (welcher?) politischen Agenda. Es wäre interessant zu untersuchen, wie dieses Problem, diese schwerwiegende Situation in der Welt und weltkirchlich angegangen wird.

„Flagrante cura“ – „Mit brennender Sorge“: genau mit dieser Thematik beschäftigte sich in diesen Tagen Ettore Gotti Tedeschi, Ökonom, Bankier, Finanzethiker, emeritierter Präsident des IOR (Institut für religiöse Werke) von 2009 bis 2012. Der Wissenschaftler und namhafte katholische Intellektuelle Italiens (dies in einer Zeit, da Bischöfe und auch Priester zum Rückzug geblasen haben) lässt die Alarmsirene erklingen und weitet, wie es seinem Denkansatz entspricht, die Perspektive. Staatliche „Maßnahmen“, die die Freiheit beschränken und eine Gegen-Anthropologie propagieren, töten die Gesellschaft und den Sinn des Menschlichen, der rein politisch entlang ideologischer-weltlicher Wege neu orientiert wird.

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Das Verschwinden der kirchlichen Eheschließungen. Von Ettore Gotti Tedeschi

Ein mindestens ebenso beunruhigendes Phänomen wie der Einbruch der Geburtenrate ist das fast völlige Verschwinden der kirchlichen Eheschließungen. Letzten Freitag habe ich zusammen mit Prof. Giancarlo Blangiardo, dem Präsidenten des ISTAT, an einer Konferenzdebatte teilgenommen, die vom Senat der Republik gesponsert und von Senatorin Tiziana Drago für „New Generation Italy“ organisiert wurde (Anmerkung: das „Istituto Nazionale di Statistica“ - ISTAT, deutsch: „Nationales Institut für Statistik“, ist das italienische Statistikamt mit Sitz in Rom, ähnlich dem Statistischen Bundesamt in Deutschland, der Statistik Austria in Österreich oder dem Bundesamt für Statistik der Schweiz). In dieser Konferenz „Demografisches Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung – Covid-Effekt auf die Geburtenrate“ illustrierte Prof. Blangiardo einige noch vorläufige Daten über die Eheschließungen in Italien im beobachteten Zeitraum Januar-Juli 2020. Diese Daten verdienen besondere Aufmerksamkeit.

Zwischen Januar und Juli 2020 lag die absolute Zahl der Eheschließungen in Italien bei 34.059, gegenüber 101.461 im gleichen Zeitraum 2019 und den 107.990 im Jahr 2018. Das überraschendste und beunruhigendste Phänomen ist jedoch das Verschwinden der kirchlichen Eheschließungen, die wiederum zwischen Januar und Juli 2020 bei 4.141 gegenüber 47.025 im Jahr 2019 lagen. In der Praxis machten kirchliche Eheschließungen im Betrachtungszeitraum 2019 fast die Hälfte (46,5 %) der gesamten Eheschließungen aus, 2020 nur noch 12 %.

Effekt „geschlossene Kirchen gegen offene Standesämter“? Effekt „Verschiebung der kirchlichen Trauung auf bessere Zeiten“? Effekt „Aussichtslosigkeit des Wertes des Sakraments der Ehe“? Es wird interessant sein, die Kommentare der „Experten“ in einer eventuellen Debatte zu diesem Thema zu lesen, aber in der Zwischenzeit müssen wir die Ernsthaftigkeit des Phänomens und seine Folgen erkennen, nicht nur für die Familienbildung, sondern auch für das daraus resultierende Problem der Natalität, das wir erst im Jahr 2021 und den folgenden Jahren sehen werden. Bald werden wir das Lamento über einen weiteren Geburteneinbruch hören, gelehrte Kommentare über den demografischen Winter lesen, der Geschrei der Babywindelhersteller wird laut werden, und vor allem von der Selbstgefälligkeit über die immer notwendiger werdende weitere Anlandung von „Migranten“ wird zu lesen sein, die die Bevölkerungslücke füllen sollen.

Aber während wir auf der einen Seite das Geflüster derer hören, die den Zusammenbruch der Geburtenrate beklagen, hören wir auf der anderen Seite die Jubelschreie über den gleichen Zusammenbruch der Geburtenrate, der es ermöglicht, den Planeten „besser zu schützen“, dank weniger Mäuler, die zu stopfen sind und die die Ausbeutung der Umwelt durch die gierige menschliche Kreatur erfordern. Hier ist dieser Widerspruch zwischen denen, die sich über Nichtgeburten beschweren, und denen, die die Nichtgeburten bejubeln, beunruhigend. Keine Geburten, unabhängig von moralischen Bewertungen, bedeutet den Einbruch des Wirtschaftswachstums, aber auch (für die malthusianischen Umweltschützer) Schutz der Umwelt. Ein Widerspruch, der ebenso irrational wie gefährlich ist für die Lösungen, die daher nie angenommen werden.

In Bezug auf diesen „Widerspruch“ sehen wir, dass sogar phantasievolle Vorhersagen nebeneinander bestehen, die aber im Ergebnis einander entgegengesetzt sind.

Die katastrophalen und alarmierenden Vorhersagen der Malthusianer und Umweltschützer besagen zum Beispiel, dass es im Jahr 2100 mehr als 10 Milliarden Menschen auf der Erde geben wird, was unerträglich sei, weil Greta zu sehr leiden würde. Diese Vorhersagen kollidieren mit jenen, viel weniger phantasievollen, die besagen, dass im Jahr 2100 die Bevölkerung von 20 Ländern (darunter Italien und Japan) um 50% reduziert sein wird, und das wird deren Ende sein, aber Greta wird nicht zu ihrer Beerdigung gehen.

Dies ist dasselbe Modell des demographischen Terrorismus, das von Malthus und in jüngerer Zeit vom Begründer des Neo-Malthusianismus Paul Ehrlich von der Stanford University (derjenige, der 1968 das berühmte Buch „The Population Bomb “, „Die Bevölkerungsbombe“ schrieb. Paul R. Ehrlich, * 29. Mai 1932 in Philadelphia, Pennsylvania, ist Professor für Biologie an der Stanford-Universität. Er ist renommierter Entomologe mit dem Spezialgebiet Schmetterlinge. Er ist dann ebenso bekannt als Forscher und Autor im Themenbereich Überbevölkerung) verwendet wurde. Ehrlich hatte dank des Bevölkerungswachstums Hunderte von Millionen von Hungertoten in Asien-China vor dem Jahr 2000 vorhergesagt.

So wie dies heute bei Covid und Impfstoffen der Fall ist, habe ich noch nie eine öffentliche und angemessene Konfrontation zwischen Befürwortern gegensätzlicher Ansichten in der Frage Natalität-Umwelt erlebt. Auch hatte ich es nie geschafft, eine Auseinandersetzung mit dem großen Prof. Giovanni Sartori zum Thema der Natalität zu bekommen, das ihn sehr zu interessieren schien, wenn auch mit entgegengesetzten Ansichten zu den meinen. Ich habe noch nicht einmal an einer Diskussion über die Analyse der weltwirtschaftlichen Entwicklung teilnehmen können, ausgelöst durch den Geburteneinbruch in der westlichen Welt seit den 70er Jahren, der uns diese letzten 50 Jahre beschert hat, die die ganze Welt verändert haben. Vielleicht, weil die Ursachen moralisch waren und Moral nie diskutiert werden sollte?

Aber noch einmal: wie können sich unsere (italienischen) Regierenden einbilden, sie wüssten, wie sie ein glaubwürdiges und realisierbares Konjunkturprogramm („Recovery Plan“) entwerfen und ihren europäischen Partnern vorschlagen können, wenn die „Driver“ des Wirtschaftswachstums, die in der gegenwärtigen Situation auf Eheschließungen und Geburten beruhen, nicht klar sind? Welche neuen Utopien sollten wir erwarten?

Anmerkung : Thomas Robert Malthus (* 13. Februar, nach anderen Quellen am 14. oder 17. Februar 1766 in Wotton bei Dorking in der englischen Grafschaft Surrey; † 29. Dezember 1834 in Bath) war ein britischer Ökonom, der zu den Vertretern der klassischen Nationalökonomie gezählt wird.

Das italienische Original des Beitrags Gotti Tedeschis kann auf dem Blog des Vatikanisten Marco Tosatti "Stilum Curiae" eingesehen werden. Ich danke Marco für die Zusammenarbeit. as

 

 

 

 

 


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