Solidarität – quo vadis?

3. Februar 2021 in Kommentar


„Auf der Suche nach der wahren Bedeutung eines in diesen Tagen inflationär und höchst einseitig verwendeten Begriffs.“ - Kommentar von Michael Koder


Linz (kath.net) Ich bin am Heimweg und quere die Linzer Landstraße. Plötzlich springt mir ein Mann ins Auge, der, vorne und hinten mit Tafeln behängt und weitere Schilder in der Hand haltend, mitten in der Fußgängerzone steht und von einer Menschentraube umringt ist. Ein anderer Mann diskutiert mit ihm, friedlich und auf Augenhöhe. Die Aufschriften seiner Tafeln sind in letzter Zeit nichts Neues: „Weg mit der faschistischen Corona-Diktatur!“, so etwa lautet eine. Plötzlich fahren zwei Polizeiautos vor und vier Polizisten umringen den einsamen Demonstranten. Sie nehmen seine Personalien auf, lassen sich nicht auf eine Diskussion ein und ziehen wieder von dannen. Der Grund der Amtshandlung erschließt sich mir als Juristen nicht: eine unerlaubte Versammlung liegt jedenfalls nicht vor, denn dafür braucht es schon rein begrifflich mindestens zwei Menschen. – Auch der Demonstrant macht sich dann aus dem Staub; beim Weggehen spricht ihm der Mann, der zuvor mit ihm diskutiert hat, noch Mut zu. „Ich würd‘s zwar nicht so krass formulieren, aber er hat schon Recht. Und man spürt, dass die Stimmung langsam kippt“, so sagt er mir noch.

Eine Bekundung von Solidarität, die in den Wirren dieser Zeit selten ist, zumindest in der allgemeinen Wahrnehmung. Denn von Regierungspolitikern und Massenmedien bekommen wir wie ein Trommelfeuer eine Solidarität als Einbahnstraße eingetrichtert: „Seid solidarisch mit den Risikogruppen, mit denen, die Angst vor dem Virus haben, mit denen, die die Vorschriften auf Punkt und Beistrich erfüllen oder sogar übererfüllen!“ Ja, es gibt viele Leute, die Angst vor der Krankheit und dem Tod haben. Aber es gibt auch viele Leute, die Angst vor der Armut und einem Leben in Elend haben. Menschen, die keinen Job finden, aber eine Familie ernähren müssen. Einen Mann, der sich das Leben nehmen will angesichts der Verzweiflung darüber, dass sein Gasthaus schon monatelang zu ist. Einen „emotionalen Ausnahmezustand“ bei Kindern und Jugendlichen und dementsprechend überfüllte Psychiatrien, wie Kathrin Sevecke, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, an die Politik appelliert.

Und es gibt auch Menschen, die Angst vor einer Diktatur haben, wie der einsame Demonstrant auf der Linzer Landstraße. Nicht nur Angst vor der Ausnützung dieser Pandemie durch Eliten für ihre sinisteren Pläne einer Neuen Welt, sondern auch Angst vor sozialer Ächtung, wenn sie die Maske nicht schon „brav“ zehn Meter vor dem Supermarkteingang aufsetzen. Angst davor, den einschneidenden Maßnahmen nicht entsprechen zu können: Ja, es ist nicht für jeden zumutbar, eine halbe Stunde im Zug oder eine Stunde in der Messe eine „eng anliegende“ Maske zu tragen. Dafür muss man nicht Asthma oder eine Panikstörung haben, es reicht schon ein beklemmendes Gefühl und die latente Angst vor der nächsten Zugfahrt. Schwangere Frauen werden angepöbelt, weil sie aus gesundheitlichen Gründen keine Maske tragen dürfen, oder trauen sich einen Einkauf ohne Maske nicht. Mitbürger, wo bleibt da eure Solidarität?

Es ist wohl ein Kennzeichen der moralischen Verblendung unserer Zeit, dass der Solidaritätsbegriff derart einseitig gebraucht, und dadurch missbraucht werden konnte. Welcher Theologe, welcher Bischof, welcher Kardinal hat sich in den letzten zehn Monaten dazu geäußert, auf wen sich Solidarität aller bezieht und wie weit sie eigentlich reicht? Der Kirche, als oberster Hüterin der Moral, ureigenste Aufgabe wäre es gewesen, sich gesellschaftsethisch mit den verordneten Corona-Maßnahmen auseinanderzusetzen und gegebenenfalls dagegen Widerstand zu leisten, anstatt sie auf Zuruf des Kanzlers duckmäuserisch zu übernehmen und das sakramentale Leben in Untergrundkirchen zu verbannen. Wo bleibt die öffentlich thematisierte Güterabwägung zwischen ewigem Heil, körperlicher Gesundheit, psychischer Gesundheit, betriebs- und volkswirtschaftlichen Aspekten, kulturellen Bedürfnissen und familiären Pflichten? Wie das Kaninchen vor der Schlange verharren die zuständigen moralischen Instanzen nach wie vor in Schockstarre, lassen zu, dass das Recht des Stärkeren, der durchsetzungsfähigeren Branche, des Lobbyisten bei der Regierung immer mehr um sich greift, und eine wirklich ganzheitliche Lösung rückt angesichts so vieler unverständlicher Sonderkompromisse auch im kirchlichen Bereich (Stichwort: Begräbnisse ja, Taufen und Hochzeiten nicht einmal im kleinsten Kreis) in unerreichbare Ferne.

Was heißt Solidarität aus theologischer Sicht? Der Begriff ist eines der vier Grundprinzipien der katholischen Soziallehre und wurde vor allem ab der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in mehreren päpstlichen Sozialenzykliken thematisiert, zumeist in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, mit Blick auf den Weltfrieden („soziale Frage“). Das Kompendium der katholischen Soziallehre definiert die Solidarität als einen entschlossenen Einsatz für das Wohl aller und des Einzelnen (Komp. 193). Laut dem Katechismus geht es bei dieser Tugend darum, allen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen durch Teilen der materiellen, vor allem aber der geistigen Güter (KKK 1939). In dieser Umschreibung wird schon deutlich, dass die Solidarität nicht bei den irdischen Gütern Halt machen darf. Und dass sie nicht nur auf das „Teilen“ von Wohlstand und Gesundheit bezogen ist, sondern auch von Freiheit – im Sinne eines von staatlichen Vorschriften (und nicht bloß Empfehlungen) unberührten Lebensraums – und von den göttlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung, die den irdischen Horizont übersteigt, und der Liebe Gottes, die aller Liebe Urquell ist. Eine Solidarität, die sich rein auf ein möglichst langes, möglichst gesundes und möglichst „glückliches“ irdisches Leben bezieht, oder gar noch verengter auf ein bloß „Corona-freies“ Leben, ist eine entchristlichte, eine entkernte, eine verkehrte Solidarität.

Die Menschen spüren, dass etwas in die falsche Richtung geht. Wenn jegliches Verständnis für Maßnahmenkritiker fehlt und sie von den (auch kirchlichen) Meinungsbildern unserer Gesellschaft pauschal wie „egoistische“ Aussätzige behandelt werden, die – durch Staatsmacht und Big Tech blockiert – ihre Sorgen nicht äußern und zur Schau tragen dürfen, dann darf es nicht verwundern, dass sich die Fronten immer mehr verhärten, und eine immer verbissenere und erbittertere Gegnerschaft gegen „die Mächtigen“ geradezu heraufbeschworen wird.

Ja zur Solidarität – mit ALLEN Schwachen, Ängstlichen, Ausgestoßenen: Ich habe Verständnis mit dem einsamen Demonstranten auf der Linzer Landstraße, auch wenn man über seine Formulierungen und auch seine inhaltlichen Positionen diskutieren kann. Ich habe auch Verständnis mit der alten Dame, die sich seit Monaten aus Angst vor Ansteckung nicht mehr aus dem Haus traut. Und ich hoffe auf ein (Frühlings-)Erwachen aller Menschen guten Willens, aus dem Nebel einer diffusen und propagandistisch eingeimpften Angst, in das Licht des Wahren, Guten und Schönen.

 


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