Brüderlichkeit, Flucht und der Islam

9. Februar 2021 in Interview


„Heute werden weltweit Tausende von Christen um ihres Glaubens willen getötet – in islamistischen und kommunistischen Staaten.“ Ein Gespräch zwischen Kardinal Gerhard Ludwig Müller und Lothar Christian Rilinger


Rom (kath.net) Europa wird als Ziel der Flüchtlingsströme immer beliebter. Nach wie vor zieht es Personen aus Afrika und Asien in den Raum der Europäischen Union, um hier ein Leben führen zu können, von dem sie sich erhoffen, dass sie es als ein gelungenes empfinden können. Der Zustrom von Flüchtlingen stellt allerdings die europäischen Staaten vor finanzielle Herausforderungen, aber auch vor kulturelle, die die europäischen Gesellschaften zu spalten drohen. Europa erwuchs aus dem Christentum und hat sich trotz der nihilistischen Revolutionen und Diktaturen noch nicht vollständig von dieser Grundlage entfernt. Noch basiert unsere westlichen Rechtssysteme – als die eigentliche Grundlage unserer Gesellschaften – auf der römischen Rechtstradition und den Werten der Evangelien, obwohl gerade diese ethische Tradition überwunden werden soll. In der Flüchtlingspolitik prallen die kulturellen und religiösen Grundlagen der Flüchtlinge und die der einheimischen Bevölkerung aufeinander und damit auch die Grund- und Menschenrechte dieser beiden Gruppierungen. Hieraus ergeben sich philosophische und theologische Fragen, die wir mit Kardinal Gerhard Ludwig Müller, dem emeritierten Präfekten der Glaubenskongregation und Honorarprofessor seiner alten Alma mater, der Ludwig-Maximilians-Universität zu München, erörtern wollen.

Lothar C. Rilinger: Zunächst müssen wir uns mit der Begründung der Grund- und Menschenrechte beschäftigen, bevor wir dann auf Fragen im Zusammenhang mit dem Islam eingehen wollen. Auf welcher philosophischen Grundlage müssten die Grund- und Menschenrechte fußen. Auf der Grundlage der Aufklärung, wonach diese durch den Allgemeinen Willen zugewiesen werden sollen – ein Begründungschema, welches sich in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 wiederfindet – oder auf der christlichen Grundlage, wonach jeder Mensch als imago Dei, als Ebenbild Gottes, über diese Rechteverfügen kann, ohne, dass sie ihm von Menschen verliehen werden müssen?

Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Man kann hier keinen Gegensatz aufbauen, da auch die Ideen der Menschenrechte in der Aufklärungsphilosophie in der abendländischen Tradition gründen, die ohne das christliche Menschenbild undenkbar ist. Es wurde versucht, jenseits der konfessionellen Gegensätze, die das christliche Ideal wegen der Gräuel in den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts unglaubwürdig gemacht haben, eine gemeinsame Basis des Zusammenlebens nach den Prinzipien der natürlichen Vernunft und Moral aufzubauen. Konkret wurden auch die Grundrechte des Menschen gegen die absolutistische Staatsgewalt, die die Fürsten mit ihrem angeblichen Gottesgnadentum rechtfertigten, erkämpft. So ergab sich der Hass der Revolutionäre nicht nur gegen den Adel, sondern auch gegen „die Kirche". Gemeint ist mit „Kirche" hier natürlich nicht die von Christus gestiftete Heilsgemeinschaft mit ihren Gnadenmitteln und ihren vom Heiligen Geist bestellten Dienern an Wort und Sakrament, sondern die in der Feudalgesellschaft als Erster Stand bezeichnete Kirche, die als ein politischer Machtfaktor und eine ideologische Rechtfertigungsinstanz der absoluten Königsgewalt angesehen wurde.

So sehr man im Allgemeinen die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in den USA, Polen und erst an dritter Stelle in Frankreich begrüßen kann, so muss man auch das Fehlen einer Bremse der Volkssouveränität konstatieren. Auch und gerade der demokratische Staat kann seine Autorität dem Bürger gegenüber nur rechtfertigen, wenn er die Grundrechte auf Leib und Leben, religiöse und bürgerliche Freiheit als unverfügbar anerkennt, weil sie in der geistig-sittlichen Natur des Menschen liegen und weil das natürliche Sittengesetz den Unterschied von Gut und Böse vorgibt, also nicht die Staatsmacht positivistisch entscheiden kann, was wir sittlich zu tun oder zu lassen haben. Mit der Staatsräson werden Verbrechen nicht zu Tugenden. Die Perversion der Volksouveränität zur Rechtfertigung von Terror, Angriffskriegen und Völkermord haben wir seit der Terror-Herrschaft der Jakobiner, dem gewaltsamen Kolonialismus im 19. Jahrhundert, den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts genügend erleben und erleiden müssen.

Es ist darum wichtig – so wie im Deutschen Grundgesetz nach den Schrecken der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft – die Menschenrechte auf die Transzendenz der Person zu beziehen, auf die „Verantwortung vor Gott", und damit der menschlichen Willkür – selbst dann, wenn sie von einer Mehrheitsentscheidung stammt – zu entziehen.

Rilinger: Nach der Französischen Revolution wurde in der Kirche Notre Dame zu Paris die Göttin der Vernunft, verkörpert von einer jungen hübschen Frau, die sich auf dem konsekrierten Altar lasziv rekelte, angebetet, so dass in der Hauptkirche Frankreichs ein Götzendienst abgehalten wurde. Gehen Sie gleichwohl davon aus, dass sich der Kampf der aufklärerischen Revolutionäre gegen die Kirche, der als Laizismus bezeichnet wird, nur gegen die sichtbare, von Menschen gemachte Kirche gewandt hat, nicht aber gegen die unsichtbare, gegen diejenige, die von Gott selbst gestiftet worden ist, gerichtet hat?

Kard. Müller: Diese wenig subtilen Revolutionäre waren geistig nicht in der Lage zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen in der Kirche zu unterscheiden. Aber im tiefsten war bei ihnen der Hass auf Gott, den sie an den armen Priestern, Ordensleuten und gläubigen Laien grausamst ausgelassen haben.

Rilinger: Wenn jedem Menschen, unabhängig von seiner Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht pp., die Menschenrechte zustehen, können dann auch alle Menschen als Brüder oder Schwestern, also als Geschwister angesehen werden?

Kard. Müller: Nach dem christlichen Glauben ist Gott der Schöpfer aller Menschen, der sie väterlich umsorgt und der ihr Wohl und Heil bei unserem kurzen Erdenlauf und nach dem Tod in alle Ewigkeit will. Wir Menschen stammen durch die Generationenfolge von der Ur-Menschheit ab (biblisch: repräsentiert von Adam und Eva). Darum sind wir untereinander Brüder und Schwestern in der Menschheitsfamilie und wir haben einen Gott und Vater im Himmel. Das Wissen um eine Grundsolidarität aller Menschen ist auch in den Religionen und Philosophien außerhalb der jüdisch-christlichen Überlieferung vorhanden und hat sein Echo ebenfalls im Islam, wo Gott als der eine Schöpfer aller Menschen geglaubt wird.

Rilinger: Auch wenn alle Menschen als Kinder Gottes angesehen werden und damit als Geschwister, könnten Sie sich vorstellen, dass durch den gemeinsamen Glauben an den dreifaltigen Gott, an den Gott des Alten und des Neuen Testamentes, eine besondere Beziehung, gleichsam ein besonderes Gewaltenverhältnis, das auch eine besondere Verantwortung den Geschwistern in Gott gegenüber einschließt, gebildet wird?

Kard. Müller: Die Jünger Jesu sind durch den Glauben und die Taufe zu Söhnen und Töchtern Gottes geworden und darum in einem tieferen Sinne Brüder und Schwestern in Jesus Christus, dem Mensch gewordenen Sohn Gottes.

Rilinger: Wenn durch den Glauben an Gott eine besondere Gemeinschaft zwischen den Juden und den Christen gebildet wird, würde es sich deshalb rechtfertigen, dass Flüchtlinge aus dieser Gemeinschaft im Rahmen der Verteilung auf die einzelnen europäischen Staaten eher die Flüchtlingslager verlassen dürfen als Flüchtlinge, die aus anderen Kulturkreisen kommen?

Kard. Müller: Die Aufnahme von Asylanten, Kriegsflüchtlingen oder Auswanderungswilligen ist Sache des Staates. Allerdings sind die europäischen Staaten – trotz antichristlicher Bewegungen – im Grunde noch ihrer christlichen Herkunft verpflichtet und damit der Menschlichkeit im Namen der Nächstenliebe. Aber die Staaten haben auch die Pflicht, die rechtliche Ordnung auf ihrem Gebiet zu gewährleiten

Rilinger: Durch die Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen Kulturkreisen dürfte sich das Meinungsspektrum in dem aufnehmenden Land verändern. Können Sie sich vorstellen, dass sich dadurch die denkerische Grundlage einer Gesellschaft und damit auch die eines Staates verändert?

Kard. Müller: Ein Staat ist ein abstraktes Gebilde. Erst durch die Kultur und die Mentalität der Bevölkerung bekommt er konkretes Leben. Die Menschen anderer Kulturen werden eine große Veränderung bringen, die sich in der Erziehung, in der Rechtsprechung etc. erheblich auswirken wird.  Auch die Interpretation unserer Verfassung wird davon beeinflusst werden. Denn sie ist nicht bloß aus einer überzeitlichen, abstrakten Vernunft abgeleitet, sondern von geschichtlichen Erfahrungen und anthropologischen Grundüberzeugungen geprägt.

Rilinger: Es drängen vornehmlich Flüchtlinge aus islamischen Ländern nach Europa. Dadurch wird es auch notwendig, sich mit dem Islam zu beschäftigen. Diese Religion wird als eine der drei abrahamitischen Religionen, neben der jüdischen und der christlichen, bezeichnet. Kann deshalb der Gott Allah als identisch mit dem der Juden und der Christen bezeichnet werden?

Kard. Müller: Die Rede von den abrahamitischen Religionen ist künstlich und wird auch durch die allgemeine Verbreitung nicht wahrer. Judentum, Christentum und der Islam definieren sich durch ihr je eigenes Wahrheitsverständnis, und niemand will sozusagen nur ein Variante der andern sein oder nur die historisch-relative Verwirklichung einer abstrakten Idee.

Rilinger: Allah hat dem Propheten Mohammed den Koran geoffenbart. Bezieht sich die Offenbarung auf den Koran in seiner Gesamtheit oder – wie im Alten und Neuen Testament – nur auf Teile, die den Glauben betreffen?

Kard. Müller: Das Christentum ist keine Buchreligion. Gott hat sich seinem Volk im Laufe einer langen Geschichte offenbart und dies hat seinen Niederschlag gefunden im Alten und Neuen Testament, die von uns – im menschlichen Wort und Verständnis – als Gotteswortangenommen werden. Letztlich ist Christus als Mensch der Offenbarer des Vaters, weil er kraft seiner göttlichen Natur die Person des Wortes in der Dreifaltigkeit ist, also in den menschlichen Worten, Heilstaten und dem Geschick Jesu bis zum Kreuz und zur Auferstehung. Die Grundkonzeption hinter dem Koran als Diktat des Gottes (durch den Erzengel Gabriel) direkt an Mohammed ist etwas davon sehr Verschiedenes. Hier haben wir es mit einem ganz anderen Verständnis von Offenbarung zu tun, nämlich nur als Information über den göttlichen Willen und nicht als Selbstmitteilung Gottes in Wahrheit und Leben und Liebe, die eben Gott selbst ist. (vgl. 1 Joh. 4,8 und16).

Rilinger: Nach unseren rechtlichen und religiösen Vorstellungen sind alle Menschen als gleich anzusehen, so dass eine Ungleichbehandlung von gleichen Sachverhalten als verwerflich verurteilt wird. In der 9. Sure, 19 ist hingegen festgelegt, dass vor Allah nicht alle Menschen gleich sind. Ist diese Feststellung mit der juristischen und philosophischen Grundlage unseres Staates und damit unserer Rechtsordnung vereinbar?

Kard. Müller: Man muss unterscheiden zwischen der internen Auslegung des Koran, die den islamischen Autoritäten vorbehalten ist, und der Anwendung solcher Normen auf die zivile Gesellschaft. Kein Staat, der dem Wohl seiner Bürger verpflichtet ist, darf rechtlich die Bürger ungleich behandeln gemäß den Vorstellungen einer Religion oder auch nur einer Ideologie, wie etwa in den USA noch bis 1865 die Sklaverei geduldet wurde oder durch die Rassenlehre im Dritten Reich, die aus pseudo-wissenschaftlichen Gründen Bürger entrechtet und verfolgt hat. Nach dem christlichen Glauben sind vor Gott alle Menschen ihrer Natur und Würde nach und ihrer Berufung zur Gotteskindschaft gleich. Es gibt aber Unterschiede in den Talenten, die in der Verschiedenheit allen zugutekommen sollen. Der Mensch kann sich durch seine Freiheit vor Gott verschließen, so dass sich die Ungleichheit von Sündern und Gerechtfertigten ergibt – eine Ungleichheit, die aber mit unserem gesellschaftlichen Zusammenleben im gemeinsamen Staat nichts zu tun hat oder religiös kein Grund ist, dass sich die „Guten" vor Gott rühmen und dafür Privilegien beanspruchen könnten.

Rilinger: Im Koran, Sure 9, 5 wird gefordert, dass Götzendiener, also Personen die nicht an Allah glauben, getötet werden sollen. Sie sollen ergriffen werden und ihnen in jedem Hinterhalt aufgelauert werden. Darf eine religiöse Mission auch mit dem Schwert erfolgen, wie es der Kriegsherr Mohamed gefordert hat oder nur durch die Kraft der Argumente?

Kard. Müller: Es wäre eine Frage an die islamischen Autoritäten, wie dies mit ihrem Gottesbild vereinbar ist. Und wer entscheidet, ob jemand im Herzen gläubig ist – außer Gott allein? Der Glaube kann nicht erzwungen werden, sonst wäre er nur eine Heuchelei, die uns nicht bei Gott wohlgefällig machen würde. Es kann heute keine religiös homogene Gesellschaft mehr geben. Somit ist der inneren Forderung Genüge getan, dass der Glaube eine Sache der Gnade Gottes und der Freiheit des Menschen ist. Der Vergleich mit den christlichen Staaten des Mittelalters, um islamitischen Religionszwang zu relativieren, ist einfach nur anachronistisch. Das Herstellen von ideologisch gleichgeschalteten Gesellschaften durch Mainstreaming vollzieht sich heute gegen die wahre Religionsfreiheit. Und das sollte man auch in Staaten mit überwiegend islamischer Bevölkerung respektieren.

Rilinger: Halten Sie es mit den Grundlagen unserer Gesellschaft und unseres Staates für vereinbar, dass im Koran, Sure 22, 17. Teil, Vers 20 gefordert wird, für Ungläubige, also für Personen, die nicht dem Islam angehören, müssten Kleider aus Feuer zurechtgeschnitten und diesen müsste siedendes Wasser über die Köpfe gegossen werden?

Kard. Müller: Natürlich nicht.

Rilinger: Auch wenn Allah in Sure 2, 2. Teil, Vers 192 ausdrücklich fordert, dass diejenigen, die nicht seine Sache vertreten, die Ungläubigen, getötet werden sollen, ja, sie sollen vertrieben werden, „denn Verfolgung ist ärger als Totschlag“, halten Sie es gleichwohl für möglich, dass derartige Textstellen im Koran, in denen ja zum bewaffneten Kampf gegen die Juden und Christen, aber nicht nur gegen sie, aufgerufen wird, gestrichen oder vielleicht vergessen werden – wie es Karl Rahner hinsichtlich der Geltung von missliebigen Dogmen vorgeschlagen hat, um ein gedeihliches Zusammenleben zu ermöglichen?

Kard. Müller: Bewaffneter Kampf gegen Menschen anderer Religionen im Namen Gottes ist absolut auszuschließen und das nicht nur, weil es dem „aufgeklärten Bewusstsein" und dem Geist der bürgerlichen Toleranz widerspricht, sondern weil es ein Widerspruch ist zu Gott, der auch den Sünder liebt und Andersgläubige entsprechend ihrem Gewissen leitet und deren Heil er allein zu realisieren weiß.

Es gibt kein Dogma (=Glaubensartikel) der christlichen Offenbarung, das zu Gewalt aufruft. Sie sind so zu interpretieren, dass sie als kirchliche Auslegung des Wortes Gottes unter heutigen kulturellen Bedingungen besser verstanden werden können, aber nicht, um sie einer relativistischen Mentalität anzupassen.

Der Glaube, wie er im biblischen Wort Gottes und in der Lehre der Kirche dargeboten wird, ist ein inneres Ganzes und darf nicht positivistisch auf einen einzelnen, aus dem Zusammenhang gerissenen Einzelsatz reduziert werden, um das Ganze in Misskredit zu bringen. Die Bibel kann nur im Ganzen des kirchlichen Glaubens und konkret mit der historisch-kritischen Methode wissenschaftlich ausgelegt werden. Man kann nicht irgendwo einen Satz herausnehmen und daran seine kleinbürgerlichen Lebensweisheiten oder halbwisserischen Stammtischparolen als Maß anlegen, um sich von einem Bibelzitat bestätigt zu sehen oder sich darüber zu empören.

Rilinger: Unsere gesellschaftliche Ordnung basiert auf der Vorstellung, dass sie nicht auf Klassen im Sinne von Karl Marx fußt, so dass immer eine Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Gesellschaftsschichten besteht – was ja auch praktiziert wird. Diese Durchlässigkeit bezieht sich auch auf die Religionszugehörigkeit. Im Koran, Sure3, 3. Teil, Vers 29 hingegen ist festgelegt worden, dass „die Gläubigen […] sich nicht Ungläubige zu Freunden nehmen“ sollen. Können Sie sich vorstellen, dass durch dieses Gebot die Integration von Muslimen erschwert wird?

Kard. Müller: Gegen ein Denken in Kasten und Klassen richtet sich die christliche Gesellschaftslehre mit ihren drei Prinzipien der Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Ob Muslime andere Menschen am Arbeitsplatz oder in den Familien als ihre Freunde anerkennen, ist deren Entscheidung. Man kann Sympathie-Gefühle für andere nicht erzwingen. Es wird gewiss schwieriger sein, in der Ehe und Familie mit Partnern eines gänzlich anderen Glaubens und Weltbildes zusammenzuleben. Aber niemand kann etwa die Ehe zwischen Partnern anderen Glaubensabsolut verbieten, weil sie aus dem Naturrecht hervorgeht. Darum gibt es im katholischen Kirchenrecht auch einen Dispens für die Eheschließung bei Konfessions- oder Religionsverschiedenheit.

Rilinger: Halten Sie es für gerechtfertigt und mit unseren Vorstellungen von Freiheit vereinbar, dass der Leugner Allahs, wie in der Sure 7, 8. Teil, Vers 38 vorgeschrieben, getötet werden darf? In diesem Zusammenhang ergibt sich auch die Frage, ob Sie es für gerechtfertigt erachten, dass – wie inzwischen von verschiedener Seite gefordert wird – die Blasphemie, die Verunglimpfung Gottes, nicht mehr unter Strafe gestellt werden soll?

Kard. Müller: Natürlich ist die Tötung eines anderen Menschen immer ein schweres Unrecht. Wir sind gegen die Todesstrafe in Kriminalfällen und bei Delikten gegen die Religion, die früher auch als Straftaten von den weltlichen Gerichten geahndet wurden. Aber diese gesellschaftliche Konstellation gehört einer fernen Zeit an.

Heute werden weltweit Tausende von Christen um ihres Glaubens willen getötet – in islamistischen und kommunistischen Staaten.

Beim Blasphemie-Paragraphen in westlichen Ländern geht es nicht um die Beleidigung Gottes, den niemand beleidigen kann, ohne sich selbst lächerlich zu machen. Es geht darum, ob man Menschen wegen ihres Glaubens beleidigen darf, was manche als Meinungsfreiheit kaschieren. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das sollten sich die dümmlichen Spötter über die Glaubensüberzeugungen ihrer Mitmenschen hinter die Ohren schreiben.

Rilinger: Auch wenn viele Stellen im Koran die Differenz zwischen den Religionen des Judentums und des Christentums betonen – halten Sie es für möglich, dass sich gleichwohl Muslime in unsere nach wie vor auf dem Christentum aufgebauten Gesellschaften integrieren werden und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?

Kard. Müller: Ja, wenn Muslime die Erste Sure des Koran ernst nehmen, dass Gott gnädig und barmherzig ist, dann haben sie einen guten Leitfaden, sich in unserer Kultur zurechtzufinden – aber vorausgesetzt, dass unser Christentum kein Lippenbekenntnis ist und mit dem falschen Gefühl der westlichen Überlegenheit verwechselt wird, sondern Gottes- und Nächstenliebe bedeutet.

Rilinger: In den westlichen Staaten ist im Regelfall die Trennung von Staat und Kirche konstituierendes Moment des Staates. Wäre es deshalb vorstellbar, dass auch im Islam eine Trennung von Moschee und Staat erfolgen könne, um den Islam in unsere Gesellschaft integrieren zu können?

Kard. Müller: An dieser Konsequenz führt kein Weg vorbei.

Rilinger: Können Sie sich eine vollständige Integration des Islam und der Muslime in unserer Gesellschaft vorstellen? Und wenn dies der Fall wäre: Unter welchen Voraussetzungen?

Kard. Müller: Es kann nur verlangt werden, dass jeder Bürger seine Pflichten erfüllt und die Rechte der anderen respektiert. Eine totale Integration würde eine totale Kontrolle bedeuten. Wer ist dafür zuständig? Die Partei, die Geheimdienste? Verhältnisse wie in totalitären Staaten wollen wir nicht. Es reicht der wechselseitige Respekt vor dem Anderssein des Anderen, damit eine pluralistische Gesellschaft gedeihen kann.

Rilinger: Gehört also der Islam als Staats-, Gesellschafts- und Religionstheorie schon jetzt zu unseren westlichen Staaten und Gesellschaften oder doch nur die Muslime?

Kard. Müller: Die westlichen Staaten begründen sich naturrechtlich und nicht in Bezug auf eine bestimmte Religion. Diese Grundlage wird fälschlicherweise als säkular bezeichnet, als ob sie im Gegensatz zur religiösen Gottbezogenheit der Menschen konstituiert sei und als ob der Agnostizismus – in Frankreich etwa als Antikatholizismus – das Maß wäre. Nach dieser ziemlich intoleranten Vorstellung sind die Christen nur geduldete Bürger zweiter Klasse, die lediglich im Hinterzimmer ihre Religion als Privatsache praktizieren dürften.

Rilinger: Sie sehen die Grundlage des Staates im Naturrecht. Allerdings wird das Naturrecht inzwischen auch von anderen christlichen Religionen als eine katholische Sonderlehre angesehen, die vom Positivismus überholt sein soll. Wird das Naturrecht trotzdem allgemein als Grundlage unserer westlichen Staaten akzeptiert?

Kard. Müller: Auf welchem Recht haben denn die Staaten außerhalb des christlichen Kulturkreises ihre Legitimität bezogen. Hier bleibt nur die Alternative der bloßen Macht des Stärkeren oder des Rechtes, das in dem Dasein des Menschen als eines geistig-sittlichen Wesens gründet. Der Positivismus ist nichts anderes als ein theoretisch verschleierter Sozialdarwinismus.

Rilinger: Bedeutet diese Feststellung, dass das Naturrecht die Grundlage eines Staates bildet, im Umkehrschluss, dass weder das Christentum noch der Islam zu unseren Staaten und Gesellschaften gehören?

Kard. Müller: Der Staat hat nur die freie Religionsausübung zu garantieren. Die Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht, das mit dem Menschsein mitgegeben ist. Eine Religionsgemeinschaft braucht von einem Rechtsstaat nicht – wie in China oder Nordkorea – eine Lizenz zu ihren Aktivitäten. Der Staat muss sich auf die zeitlichen Belange des Gemeinwohls beschränken und darf sich nicht in die Kunst, die Wissenschaft, die Religion wie ein Big Brother oder ein Demiurg der Neuen Weltordnung einmischen. Hier liegt der Unterschied zwischen einem Staat, der die in der Natur des Menschen begründeten Menschenrechte anerkannt hat oder einer Perversion des Staates in eine absolutistische oder totalitäre Diktatur. Dahinter steht ein Irrtum über die Natur des Menschen.

Es gibt einen Existentialismus, der dem Menschen ein bestimmtes Wesen abspricht. So kann jeder individuell autonom entschieden, ob er sich als Mensch oder Tier fühlt, ob er Mann oder Frau oder Divers sein will, ob er sich (evtl. mit Hilfe eines andern) selbst ermordet.

Es gibt aber dann auch die kollektive Entscheidung der Partei, des Führers, der Oligarchie der Philanthropen, die entscheiden, wie viele Kinder ein Ehepaar haben darf, wann meine Organe einem andern zur Verfügung gestellt werden, ob Kranke und Senioren eine Last für die Gesellschaft sind und dann entweder freiwillig oder per Gesetz aus dem Leben zu scheiden haben.

Rilinger: Zum Schluss gestatten Sie mir noch eine Frage zum Stellenwert des Christentums in der Welt. Die wichtigsten Rechte für das Zusammenleben der Menschen, die Grund- und Menschenrechte, basieren auf der christlichen Vorstellung des Menschen als imago Dei, so dass jeder Mensch über diese Rechte verfügt, auch ist das Christentum die stärkste religiöse Gruppe auf der Welt mit allein 1,3 Milliarden katholischen Personen, die den Bischof von Rom als Papst anerkennen. Dazu müssen wir noch die Christen hinzurechnen, die den Papst nicht als Oberhaupt anerkennen, die Mitglieder der Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften der Reformation und die gesamten orthodoxen Kirchen. Meinen Sie, dass trotz der Vielzahl an Mitgliedern das Christentum und trotz des Rekurses auf christlich orientierte Regeln, um das Zusammenleben der Menschen zu ordnen, das Christentum seine führende Stellung in der Welt verloren hat?

Kard. Müller: Das Maß ist die Kraft, das Evangelium Christi zu verkünden, dass jeder Mensch zum ewigen Leben berufen ist. Der gesellschaftliche Einfluss folgt daraus, ist aber nicht die Existenzberechtigung des Christentums. Die Kirche ist keine Lobby für ihre eigenen Interessen. Das Zeugnis von der Würde jedes Menschen und die praktizierte Nächstenliebe sind Ziele ihres Wirkens hinein in die Kulturen. Die universale Mission der Kirche besteht darin, für das Kommen des Reiches Gottes zu wirken in Wort und Tat.

Rilinger: Eminenz, vielen Dank.

Lothar C. Rilinger ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht i.R., Stellvertretendes Mitglied des Niedersächischen Staatsgerichtshofes a.D.. Außerdem ist er Autor des Buches VRBS AETERNA. Bd.3

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