Causa Woelki - „Übertötung“ eines Kardinals

13. Februar 2021 in Kommentar


„Rational verständlich wird das Verhalten erst, wenn man einen weiteren Umstand mit bedenkt: Der Kardinal wird als ein Bremser des laufenden Reformprozesses der katholischen Kirche in Deutschland eingeschätzt.“ Gastkommentar von Helmut Müller


Vallendar (kath.net) Übertötung „ist ein Begriff aus der Kriminalistik, der verwendet wird, wenn bei einem Tötungsdelikt der Angreifer gegenüber dem Opfer deutlich mehr Gewalt anwendet, als zur eigentlichen Tötung nötig gewesen wäre“, liest man bei Wikipedia. Überschüssige Emotionen sind offenbar ursächlich für Umstände, die das Geschehene rational nicht mehr verstehen lassen.

Ähnliches lässt sich schon seit Wochen bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der Erzdiözese Köln beobachten: Ein zugegeben unglückliches Agieren der Bistumsverwaltung wird dem Kölner Kardinal in einem Ausmaß angelastet, das sich nicht mehr am Fehlverhalten selbst messen, sondern überschüssige Emotionen vermuten lässt. Es gibt offenbar nicht nur eine nach oben offene Erdbebenskala, sondern eine ebenso nach oben offene Empörungsskala, die durch Berichte über vermehrte Kirchenaustritte in der Erzdiözese, weiteres Durchstechen von Fällen aus dem Gutachten noch weiter hoch geschraubt wird. Eine römische Entlastung des Kardinals wird durch die Empörung eines Bonner Kirchenrechtlers darüber wieder neutralisiert. Niemand, der mit den Umständen der Aufarbeitung klerikalen Missbrauchs in Köln konfrontiert wird, nimmt noch ein Maß an denselben, sondern treibt die Spirale der Empörung offenbar weiter in die Höhe. Mittlerweile haben sich sogar Mitbrüder im bischöflichen Amt in diesem Sog mitreißen lassen. Ihre Äußerungen lassen sich nicht mehr bei den Umständen selbst verorten, sondern schon in einer der Spiralen der Empörung.

   Rational verständlich wird das Verhalten erst, wenn man einen weiteren Umstand mit bedenkt: Der Kardinal wird als ein Bremser des laufenden Reformprozesses der katholischen Kirche in Deutschland eingeschätzt. Und jetzt wird deutlich wer diejenigen sind, die „dem Opfer deutlich mehr Gewalt anwende[t]n, als zur eigentlichen Tötung nötig gewesen wäre“ (Wikipedia): Es sind vor allem seine innerkirchlichen Gegner: Kirchenredakteure, einfache Pfarrer und Gläubige, der Kölner Diözesanrat, liberale Theologen und Kirchenrechtler, die schon andere missliebige Bischöfe zu Fall gebracht haben.

   Um zu verstehen was da geschieht, muss man offenbar einen ziemlichen Abstand von der Kirche selbst haben. Christian Geyer von der FAZ sieht „kein[en] Grund zur Raserei“. Und ausgerechnet ein Spiegelkolumnist (!), der Jurist Thomas Fischer, macht auf die Unverhältnismäßigkeit des Geschehens aufmerksam und beendet seinen Artikel mit Bezug auf einen 45 Jahre alten Fall, der vor allem dem Kardinal selber angelastet wird: „Meine persönliche Entrüstung über diesen Fall hält sich in Grenzen. Und damit will ich wahrlich nicht sagen, dass die missbräuchlichen und zerstörerischen Übergriffe von Klerikern gegen Kinder harmlos gewesen seien. Aber nach 45 Jahren, einer schweren Demenz und dem Eintreten des Todes [des Beschuldigten] könnte man die stellvertretende Rache gut sein lassen. Es gibt genügend Kinder im Jahr 2021, die der Fürsorge des Publikums bedürfen.“ Die arte-Nachrichten vom 10. 2. 20 unterstreichen das noch. Sie berichten von sieben Millionen Fällen von Inzest in der Bevölkerung Frankreichs, eine wahrhaft unglaubliche Zahl, wie viele werden es wohl bei uns sein? Das erinnert mich an eine Bemerkung des Pariser Religionsphilosophen Rémi Brague, wenn er von einer „bizarren Rückkehr der großen Flagellanten-Umzüge“ spricht „die zu Zeiten der Pest [heute Corona?] stattfanden – mit dem Unterschied, dass wir lieber unsere Ahnen [oder eben einen missliebigen Kardinal] als uns selbst auspeitschen“. Das soll nicht heißen, dass klerikale Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden sollen, wenn noch mehr Missbrauch in Familien geschieht. Der Kölner Kardinal hat die Aufarbeitung solcher Fälle eben nicht vertuscht, sondern ein rechtssicheres Gutachten für den März bestellt. Aber bis dahin will man den Kardinal offenbar erledigen, weil dann der Vorwurf der Vertuschung gegenstandslos werden wird.

kath.net-Buchtipp:
Zeitgerecht statt zeitgemäß
Spurensuche nach dem Geist der Zeit im Zeitgeist
Von Helmut Müller
Hardcover, 244 Seiten
2018 Bonifatius-Verlag
ISBN 978-3-89710-790-8
Preis Österreich: 15.40 EUR

 

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