21. Februar 2021 in Deutschland
Kölner Kardinal Woelki in Fastenhirtenbrief: „Tiefe Risse“ gehen „durch unser Erzbistum“ – „Fehler habe ich sicher auch im Rahmen der Aufarbeitung der Missbrauchsvergehen sowie der damit verbundenen Krisenkommunikation gemacht“ – VIDEO
Köln (kath.net/pek) kath.net dokumentiert den Fastenhirtenbrief 2021, „Das Leben lieben“, des Kölner Erzbischofs Rainer Maria Kardinal Woelki in voller Länge:
Liebe Schwestern und liebe Brüder, eine der Weihnachtskarten, die ich zum Ende des letzten Jahres zugeschickt bekommen habe, zeigt die Heilige Familie mit der Erdkugel in Händen. Eine zeitgenössische Künstlerin hat die Welt so brüchig gestaltet, wie sie in vielerlei Hinsicht geworden ist – so jedenfalls auch mein Empfinden. In ihrem Bild droht der Erdball förmlich auseinanderzubrechen. Doch da sind kleine und große Hände, die den Erdball stützen. Frauenhände, Männerhände, Kinderhände. Behutsam halten Maria, Josef und das Christuskind zusammen, was kaum noch zusammenzuhalten ist: eine Welt von Rissen durchzogen.
Schaue ich auf die einzelnen Risse in der Mitte des Bildes, das mich nun schon seit einigen Wochen begleitet, dann tauchen bestimmte Realitäten vor meinem inneren Auge auf: Menschen auf der Flucht, weltweit – und auch bei uns. Eine sich mehr und mehr verschärfende Klimakrise, weltweit – und auch bei uns. Menschen, die auf der Straße leben, weltweit – und auch bei uns. Ihre Lebenssituation hat sich wie die so vieler Menschen in der Corona-Krise dramatisch zugespitzt, weltweit – und auch bei uns. Immer extremer agierende Kräfte in Politik und Gesellschaft höhlen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aus, schüren Ausgrenzung und Hass und setzen gezielt auf Angst und die Spaltung ganzer Gesellschaften, weltweit – und auch bei uns.
Und dann sind da tiefe Risse, die durch unser Erzbistum gehen. Ich habe sie nicht „nur“ vor Augen, ich spüre sie jeden Tag: den Verdacht von Vertuschung im Kontext der Aufarbeitung von Machtmissbrauch, sexualisierter Gewalt und pädophilen Verbrechen. Den gravierenden Vertrauensverlust. Die fehlende Akzeptanz und die Frustration, weil wir in unserer pastoralen Entwicklung nicht so vorankommen, dass wir uns wirklich miteinander auf dem Weg wissen. – All das bewegt und bedrückt mich sehr.
Unser Miteinander, das trotz mancher Kontroversen eine verlässliche Grundlage für unser Ringen um Gegenwart und Zukunft der Kirche – und unseren Beitrag in der Welt – sein sollte, ist empfindlich gestört. Dabei weiß ich, dass viele Menschen in unserem Erzbistum (und darüber hinaus) mich persönlich dafür verantwortlich machen.
Liebe Schwestern, liebe Brüder, Sie haben mir in den letzten Wochen und Monaten geschrieben, mich besucht oder mich am Rande verschiedener Termine angesprochen. Sie tun sich schwer, nachzuvollziehen, warum es eine zweite unabhängige Untersuchung braucht, um die systemischen Zusammenhänge jahrzehnte-langen Missbrauchs in unserem Erzbistum aufzudecken und im Detail aufzuzeigen. Tatsächlich benötige ich als Bischof hinsichtlich aller relevanten Personen eine bestimmte qualitative und quantitative Faktenlage, die ein klares und konsequentes Veränderungshandeln dann auch nachhaltig möglich macht. – Zudem mahnen Sie mehr Gelegenheiten und andere Möglichkeiten an als bisher für Begegnung und Gespräch sowie die Beteiligung an den Entscheidungen zu den anstehenden pastoralen Veränderungen.
Beides ist ungemein wichtig und drängend: die konsequente und transparente Aufklärungsarbeit genauso wie eine Pastoralentwicklung, die ernst nimmt, dass es Veränderungen braucht, wenn wir unserem kirchlichen Leben möglichst breit in die Zukunft verhelfen wollen.
Doch die Zeit, die jetzt vor uns liegt, braucht zunächst das eine vor dem anderen. Denn nichts schürt mehr Misstrauen und zunehmend auch Hass als die Ungewissheit und die Verdächtigungen im Blick auf die Ergebnisse der von mir in Auftrag gegebenen zweiten unabhängigen Untersuchung zu den Missbrauchs-Zusammenhängen. Diese werden am 18. März öffentlich. Zeitnah wird dann neben dem veröffentlichten Gutachten der Kölner Kanzlei auch das der Münchener Kanzlei zur Einsicht freigegeben: zuerst für die Betroffenen und dann auch für Journalisten und weitere Interessierte. Das wird uns – hoffentlich – helfen, wieder neu aufeinander zuzugehen und uns wieder bereitwilliger zuzuhören in den Anliegen, die uns bewegen.
Liebe Schwestern, liebe Brüder, es war und ist meine Absicht, eine transparente, konsequente Aufklärung der Missbrauchsvergehen und ihrer systemischen Umstände in unserem Erzbistum zu erreichen – selbstverständlich auch im Blick auf meine eigene Person. Ebenso war und ist es meine Absicht, mit Ihnen allen gemeinsam einen geistlichen Weg in die Zukunft unserer Ortskirche zu gehen. Dabei werden wir nicht an Strukturveränderungen vorbeikommen. Doch sie sind nicht das Herzstück des Pastoralen Zukunftsweges. Pfarrei- und Gemeindestruktur, Verwaltung, Finanzen, kirchliche Einrichtungen: All das soll unser Leben aus dem Glauben unterstützen, nicht zerstören, wie es manche von Ihnen empfinden. Vielmehr geht es darum, verantwortungsvolle und solidarische Entscheidungen zu treffen, mit denen wir uns für die Jahre und Jahrzehnte, die vor uns liegen, eine realistische Basis für die Gestaltung unseres kirchlichen Lebens schaffen.
Damit diese Vorhaben wieder eine neue Grundlage für uns alle erhalten, braucht es mehr als Worte und auch mehr als diesen Brief von mir. Dessen bin ich mir sehr bewusst. Wir können – und dürfen – die Risse, die da sind, nicht einfach überspringen oder zukitten. Wir brauchen das offene Gespräch und ein ehrliches Abwägen der Sachverhalte und Notwendigkeiten, bevor wir die Entscheidungen etwa zur Pfarreireform endgültig treffen. Das möchte ich Ihnen hiermit zusagen.
An dieser Stelle möchte ich für mich persönlich auch sagen, dass ich während meines ganzen Lebens – in den unterschiedlichsten Zusammenhängen – immer wieder auch Fehler gemacht habe, auch in den Jahren als Erzbischof von Köln. Mal leichter. Mal schwerer. Das trage ich mit mir. Als Mensch und als Bischof. Fehler habe ich sicher auch im Rahmen der Aufarbeitung der Missbrauchsvergehen sowie der damit verbundenen Krisenkommunikation gemacht. Da habe ich auch Schuld auf mich geladen. Das tut mir von Herzen leid. Dennoch möchte ich Ihnen versichern: Es ging und es geht mir um konsequente Aufarbeitung und dabei zuerst und zuletzt darum, dass das Leid der Betroffenen das Handeln bestimmt – und nichts anderes.
Foto: Kardinal Woelki im Fastenhirtenbrief-Video (c) Erzbistum Köln/Screenshot aus dem Video
VIDEO - Kölner Kardinal Woelki - Fastenhirtenbrief 2021 in voller Länge - ´Tiefe Risse gehen durch unser Erzbistum´
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