„Ich glaube an die Wissenschaft, besonders die humane und so gut wie allmächtige“

18. März 2021 in Aktuelles


Eine neue Art von im Glauben „Fremdgehen“ und immer mehr Bischöfe gehen sogar mit. Gastbeitrag von Helmut Müller


Vallendar (kath.net) Das scheint das neue Credo von manchen Theologen zu sein. Sie tragen es wie eine Monstranz vor sich her und leider folgen ihnen immer mehr Bischöfe. Diesen Eindruck habe ich schon länger und erst recht, wenn man die Stellungnahme des Mainzer Moraltheologen Stephan Goertz zusammen mit dem Freiburger Fundamentaltheologen Magnus Striet zur jüngsten römischen Verlautbarung  Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts bei katholisch.de vom 16. 3. 21 liest. Striet gibt es sogar in einem Interview mit Christiane Florin zu: „Ich weiß nicht, ob ich mich als wissenschaftsgläubig bezeichnen möchte, aber ich würde zunächst einmal doch ein starkes Pathos für die Wissenschaften vertreten wollen“. Im weiteren Verlauf fragt ihn Florin: „Hilft es Ihnen in dieser Situation [gemeint ist der erste Lockdown in März 2020], Theologe zu sein?“ Striet: „Ach, das ist eine schwere Frage. Ich weiß auch nicht, ob die Frage sich an einen Theologen oder an einen gläubigen Menschen richtet. Florin: Das sollte ja eigentlich zusammengehen. Striet: (lacht) Ja, das ist eine spannende Frage. Ich rede mal aus der Perspektive eines gläubigen Menschen, der aber auch immer wieder von Zweifeln überfallen wird“ 1 Nicht besser klingt der Bezug von Stefan Goertz zur kirchlichen Theologie 2 : Die Kirche hat sich „von den Humanwissenschaften aufklären zu lassen“, fordert er. Das ist zunächst nicht verkehrt, aber die alte Fixierung auf Sexualität in der Ehe und auf die Fortpflanzung sei aufzugeben. Er meint weiter dass „die Zeit der kirchlichen, moralischen Bevormundung der menschlichen Sexualität wohl tatsächlich unwiderruflich vorbei ist“.[…] „Menschen wissen auch ohne Katechismus zum einen, was es mit der menschlichen Sexualität auf sich hat und zum anderen wie man diese auch moralisch verantwortet leben kann“. Wir würden zudem in einer Zeit leben in der Sexualität ihre Ausrichtung auf Nachkommenschaft und ihre soziale Funktion eingebüßt hat. Unglaublich! Wovon wird er eigentlich leben, wenn er mit hohem Salär einmal emeritiert sein wird? Gehört das zu den neuen Erkenntnissen der Humanwissenschaften? Klar, wenn es neben 200 Lehrstühlen für Gender nur noch einen für Bevölkerungswissenschaften in Rostock gibt, können Humanwissenschaften diesen Eindruck erwecken.

   Beide Aussagen, die von Striet vor einem Jahr und die von  Goertz vor ein paar Tagen, erinnern mich an eine Podiumsdiskussion, die ich 2009 mit einem Biologen führte. Anlässlich des 150. Jahrestages von Charles Darwins Werk „On the Origin of Species“ hatte die Universität Koblenz zum Thema „Schöpfung oder Zufallsprodukt. Ein Streitgespräch über die Evolutionsbiologie“ eingeladen. Ich machte den Biologen darauf aufmerksam, dass Wissenschaften von ihrer Methodik her hypothetisch arbeiten, worauf ich zur Antwort bekam. Wir [die Biologie] sind mittlerweile so nahe an der Wirklichkeit dran, dass die noch fehlende Deckung mit ihr unerheblich sei. Sind die viel gerühmten Erkenntnisse der Humanwissenschaften auch so nah an der Wirklichkeit? Die genannten o. g. Theologen haben offenbar, den Glauben unter dem sie angetreten sind auf die Humanwissenschaften übertragen. Dieses „Fremdgehen mit dem Glauben“ wird immer mehr hingenommen.

    Aber was geschieht bei diesem Fremdgehen eigentlich? Natur- und Humanwissenschaften liefern Fakten: Sie interessieren Gesetzmäßigkeiten, denen Fakten unterworfen sind. „Erst die Theorie entscheidet, was man beobachten kann“ (Albert Einstein) (Vielleicht auch der Glaube an die Humanwissenschaften?). Beobachtungen werden dann in schon Bekanntes, in Theorien eingeordnet, in ein Netzwerk oder Gewebe von Sätzen und Tatsachen, zugespitzt, in ein Gewebe von Logik und Empirie. Das Hempel-Oppenheim-Schema ist eine Art Basismodul eines solchen Gewebes:
   Dieses Schema verbindet Beobachtungen oder Tatsachen mit einer Gesetzlichkeit, Empirie mit Logik. Allerdings müssen die Beobachtungen „aufbereitet“, testbar, wiederholbar, wissenschaftlich standardisiert werden. Das H.-O-Schema gilt also nur für kontrollierte Erfahrung. Erfahrung ist aber mehr als das. Trotz aller Anstrengungen, Erfahrung „aufzubereiten“, wird es immer einen nicht standardisierbaren Rest geben. Es gibt Erfahrungen von singulären Ereignissen, etwa Gutenbergs Buchdruck, also Erfahrungen, die nicht metaphysisch sind und nicht in das Raster der Naturwissenschaften passen. Es ist selbstverständlich, Metaphysik, z. B. die Erschaffung der Welt und des Menschen, aus dem Bereich der Naturwissenschaften auszuklammern. Eine Formulierung wie die eines amerikanischen Naturwissenschaftlers ist allerdings eine Kriegserklärung an alle „Metaphysiker“: „Wir Naturwissenschaftler wissen uns vor aller wissenschaftlichen Tätigkeit, »dem Materialismus verpflichtet … Dieser Materialismus ist absolut, denn wir können keinen göttlichen Fuß in der Tür (der Natur und des Weltlaufs) zulassen.“ Er macht den starken Naturalismus zum Kern seines Wirklichkeitsverständnisses. Diese unerleuchtete Aussage kann man sicherlich nicht auf Goertz und Striet ohne Differenzierung übertragen. Aber kommt dieser „göttliche Fuß in der Tür (der Natur und des Weltlaufs“ bei ihnen als Theologen überhaupt noch vor?

    Wenn es um die in Frage stehende geschlechtliche menschliche Paarbindung und ihre Gestaltung geht, muss ein sehr komplexer Sachverhalt bedacht werden. Alle Teilgebiete der Humanwissenschaften, Humanbiologie, Neurologie, Psychologie, Soziologie, vergleichende Kulturanthropologie müssen hinzu gezogen werden. Denn die trieb- und instinktgeleitete „Natur“ eines Tieres ist nicht analog auf den Menschen zu übertragen. Der Mensch ist zwar nicht gänzlich trieb- und instinktfrei, dafür sollte unsere „Natur“ hochgradig vernunftgeleitet. sein. Das heißt, die Humanwissenschaften liefern Erkenntnisse, die geisteswissenschaftlich philosophisch und theologisch in einem Modus des Verstehens in Handlungen umgesetzt werden. So „zwingen“ humanwissenschaftliche Erkenntnisse und „Erklärungen“, dass es vielfältige geschlechtliche Paarverhältnisse als Tatsachen gibt noch nicht dazu, manche als „naturgegebenen Varianten“ (Goertz) auch zu „verstehen“ und damit auch schon zur moralischen Rechtfertigung von Handlungen. Die Handlungsnorm wird bestenfalls von humanwissenschaftlichen Erkenntnissen inspiriert, dann aber durch praktische Vernunft gesetzt. Diese normsetzende Vernunft wird allerdings in christlich-katholischem Verständnis auch noch von anderer Seite inspiriert. Offenbarung in katholischem Sinn ist nämlich keine inhaltslose nominalistische Kommunikation Gottes mit dem „Hörer des Wortes“, wie manche Theologien meinen. Wir sind keine neuzeitlichen Maitres et posseseurs de la nature (etwa: Herren und Meister der Natur), weder der Natur außer uns und um uns herum, (das ist beinahe jedem klar) aber auch nicht derjenigen in uns. Das könnte noch klarer werden. Desweiteren ist Natur für Christen einmal
•    ein ungeschriebenes Wort (nämlich Schöpfung)  neben
•    dem geschriebenen (der Schrift) und
•    dem Fleisch gewordenen Wort (Christus).

Diese „Worte“ sollten auch inhaltlich vom „Hörer des Wortes“ gehört werden. Um von dem „Wortgeklingel“ um uns herum nicht taub zu werden, glauben Katholiken eigentlich noch an ein Lehramt (bei aller möglichen Kritik). Davon wollen uns beide o. g. Theologen mit anderen zusammen befreien und rufen schon seit Jahren zum nicht auf es hören, also zum Ungehorsam auf. Oder man hört was anderes, wenn es nicht passt, so wurde aus einer Ermahnung aus Rom zu Beginn des synodalen Weges, eine Ermunterung. Wie die Aufklärung, das siècle de la lumière, (Jahrhundert des Lichts) das Mittelalter verfinstert hat, so verfinstern sie mit ihrer angeblich modernen, ebenfalls aufgeklärten Vernunft das Lehramt, mit allen die ihm beipflichten.

   Bedacht werden muss allerdings auch bei dem „ungeschriebenen Wort“, also der Schöpfung, dass wir ihr nur mit den Brüchen in ihr begegnen. Die sollten nicht schön geredet (etwa es ist gut so, wie ich bin), sondern angeschaut werden. Nicht umsonst geht der Verkündigung des Evangeliums der Umkehrruf voraus: Wir dürfen aber sicher sein: Keiner von uns ist so, wie Gott uns gewollt hat, wirklich keiner, aber jeder und jede wird von ihm mit Sicherheit so geliebt, wie er, sie ist oder wie auch immer man sich empfindet. Das Erbsündedogma, so rätselhaft, schwerverständlich oder unzeitgemäß, es auch sein mag, ist ursprünglich als Erzählung vor weit mehr als 2000 Jahren von jemandem oder mehreren verfasst worden. Wegen ihrer Genialität wäre die Erzählung posthum eines antiken Literaturnobelpreises würdig, sagte einmal der polnische Philosoph Leszek Kolakowski, der zuletzt in Oxford lehrte. Denn die Welt so wie sie ist, uns eingeschlossen, wird darin nicht schön geredet und dadurch genial jedes naive positive Denken kritisch hinterfragt.

   Fazit: In der Natur des Menschen und der Welt gibt es neben aller Größe und Schönheit, Brüche: Beides muss in den Humanwissenschaften angeschaut werden. In deren Kompetenz kann das Angeschaute weder schön noch schlecht geredet werden. Geisteswissenschaften sollten fähig sein, die Ergebnisse in ein Bild vom Menschen zu integrieren, aber auch kritisch hinterfragen. Neben Philosophie ist auch Theologie eine Geisteswissenschaft. Aber den „Glauben“ sollte man von den Humanwissenschaften wieder lösen und ihn dort wieder verankern wo er hin gehört: In die Theologie. „Fremdgehen“ sollte es gerade in der Theologie nicht geben, auch wenn „Fremdgehen“ Tatsachen sind und eine „naturgegebene Variante“ menschlichen Sexualverhaltens ist, wie uns eine Humanwissenschaft (die vergleichende Verhaltensforschung) lehrt.

Fußnoten:

 1 Interview im Deutschlandfunk zur Coronakrise mit Christiane Florin: Besonnen durch die Glaubenskrise am 19. 3. 20 https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2020/03/19/die_kirchen_corona_und_robert_koch_interview_mit_dem_dlf_20200319_0937_0f3d62fd.mp3, Zugriff am 23. 3. 2020.
2  https://www.herberthaag-stiftung.ch/index.php?nav=1&mov=249 Interview mit Stefan Goertz bei der Preisverleihung 2021 der Herbert-Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche. Zugriff 17. 3. 2021.

kath.net-Buchtipp: Helmut Müller, Zeitgerecht statt zeitgemäß. Spurensuche nach dem Geist der Zeit im Zeitgeist. Paderborn 2018. Das Buch ist beim Bonifatius Verlag vergriffen, beim Autor aber noch vorrätig.

 


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