10. April 2021 in Buchtipp
Diese Betrachtungen sind eine Botschaft der Hoffnung. Leseprobe 2 des neuen Buches von Erzbischof Michel Aupetit
Linz (kath.net)
Diese ganze Entwicklung unserer Einstellung zum Tod erklärt auch die meisten Verhaltensweisen der Behörden und unserer Mitbürger angesichts der Covid-19-Pandemie wie etwa die Tatsache, dass man die Sterbenden der Einsamkeit überlässt, dass den Angehörigen untersagt wird, sie zu besuchen und ihnen beizustehen und dass man die Sterbenden daran hindert, geistliche Begleitung in Anspruch zu nehmen und die Sakramente zu empfangen, die ihnen die Gnade Gottes vermitteln, um diesen Augenblick zu bestehen.
Es liegt sicherlich daran, dass der Tod in unserer Gesellschaft nicht mehr zum Leben gehört, sodass wir so völlig aus der Fassung geraten sind, als sich der Tod auf ebenso brutale wie unerwartete Weise gezeigt hat. Muss denn der Tod Angst und Entsetzen hervorrufen oder kann er uns auch Geschmack am Leben geben?
Heutzutage ist es selten, dass Kinder direkt mit der Wirklichkeit des Todes konfrontiert werden. In den Computerspielen, die ihnen angeboten werden, erscheint der Tod in phantasmatischen Kriegen nur auf dem Bildschirm und bleibt vollkommen außerhalb ihres Lebens.
Ich erinnere mich an die erste Verstorbene, die ich gesehen habe. Ich war elf Jahre alt und meine Großmutter war soeben gestorben. Auf dem Land, wo sie lebte und wohin wir gefahren sind, gab es noch die Tradition der Totenwache. Ich erinnere mich, wie ich sie auf ihrem Bett liegen sah mit friedvollem Gesicht und gut gekleidet. Die Freunde, die vorbeikamen, verharrten bei ihr in Stille zum Zeichen ihrer Wertschätzung und ihres Respekts.
Andere kamen vorbei und verbanden sich durch ihr Gebet mit der Seele der Verstorbenen, von der sie wussten, dass sie in die ewige Gemeinschaft eingetreten war, der der Tod keinerlei Hindernis entgegensetzen kann. Ich war ein bisschen überrascht, dass mein Großvater im Nebenzimmer für alle, die zu diesem letzten Besuch gekommen waren, eine gute Mahlzeit zubereitet hatte. In meinem kindlichen Denken sagte ich mir: „Ist das wirklich passend, jetzt zu essen?“ Doch im Nachhinein erkenne ich, wie schön diese Tradition ist. Das Begleiten und Wachen bei einem Toten soll uns dahin lenken, das Leben zu feiern. Ich verstehe zutiefst die Geste Jesu, der sein Leben aus Liebe hingeben wollte und diese Liebe in einem Mahl zum Ausdruck brachte, das wir gemäß seiner Bitte in jeder Messe fortsetzen und wiederholen. Der Apostel Paulus beschreibt die Taufe und die Eucharistie als Teilhabe am Tod und an der Auferstehung Christi zugleich.
Ich erinnere mich auch an die Tränen meiner Mutter, die lange Zeit geweint hat, da sie sehr an ihre Mama gebunden war, obwohl die geografische Entfernung sie voneinander getrennt hat. Das tat mir weh. Ich fand kein anderes Mittel, um sie zu trösten, als ihr meine Liebe zu ihr zu zeigen. Damals habe ich verstanden, was Trauer bedeutet, dieser besondere Schmerz über die Trennung von einem geliebten Menschen. Und auch wenn seine Anwesenheit im Geist, in der Erinnerung fortbesteht, so leidet man doch unter dem Fehlen jener Zärtlichkeit, die sich in ganz einfachen Gesten äußert.
Während meines ganzen Lebens als Arzt und dann als Priester habe ich viele Sterbende begleitet und Menschen auf den Tod vorbereitet. Dem Tod ins Auge zu blicken heißt auch, die Schönheit des Lebens zu betrachten, diese wunderbare Gabe, die für jeden eine Quelle der unendlichen Dankbarkeit und einer seligen Anschauung bereits hier auf Erden sein sollte.
Ich erinnere mich besonders an den Heimgang meiner eigenen Mutter. Am Vorabend von Allerheiligen waren wir alle, ihr Mann und ihre Kinder, um sie versammelt. Sie war nicht mehr bei Bewusstsein. Ich betete die Vesper, und meine Brüder redeten schon davon, dass sie gehen wollten. Da spürte ich, dass etwas vor sich ging, ihr Atem wurde hörbarer. Sie lag auf der Seite und ich habe mich hinter sie gestellt. Hat sie uns verlassen wollen, als wir noch alle anwesend waren? Früher sagte man, dass ein Mensch in seinem letzten Augenblick sein Leben ausgehaucht hat. Ich verstand plötzlich, was das bedeutete. In einem bestimmten Moment atmete meine Mutter kraftvoll hörbar aus. Dieses letzte Ausatmen hatte nichts gemein mit dem kräftigen Pusten, mit dem man Geburtstagskerzen ausbläst. Es war ein ungewöhnliches Ausatmen, das nicht unserer normalen Atmung entsprach. Ich begriff, dass sie soeben ihren letzten Stoßseufzer getan hatte, wie man gewöhnlich sagt. Sie war soeben direkt vor unseren Augen gestorben.
Dieser erstaunliche letzte Hauch, einzigartig und ungewohnt, glich jenem, den sie ursprünglich empfangen und soeben zurückgegeben hatte. Dieser Atem, den Gott den ersten Menschen eingehaucht hatte. Es ist der Atem Gottes, der zu seinem Ursprung zurückkehrt und diesen Körper verlässt, der ihn zu Beginn seines Lebens in sich aufgenommen hat, um sich in der Ewigkeit zu entfalten.
Meine Mutter hatte nun ein schönes, friedvolles Gesicht. Einige Tage später, als wir sie in der Leichenhalle aufsuchten, hatten die Bestatter ihren Dienst getan, um sie schön herzurichten. Aber ich erkannte das schöne Gesicht meiner Mutter nicht wieder. Es war starr wie ein Wachsporträt und hatte seinen liebevollen Ausdruck verloren. Indem man eine Makellosigkeit darstellen möchte, trägt man durch das Schminken zu einer Erstarrung des menschlichen Ausdrucks bei, der einem vertraut gewesen war. Sie erschien mir wie eine Fremde. Der Eindruck war schrecklich. Mein Vater stand da und wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Da habe ich die Messe gefeiert, damit eine andere Gemeinschaft entstehen konnte mit dem, der das Leben selbst ist.
kath.net Buchtipp
Der Tod - Meditationen über einen Lebensweg
Von Erzbischof Michel Aupetit
Media Maria Verlag 2021
ISBN: 9783947931279
Geb., 112 Seiten
Preis: Euro 15,40
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