Das Kölner Missbrauchsgutachten und die nützlichen Idioten

6. April 2021 in Kommentar


Der Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) hat sich, kaum ins Leben gerufen, mit einer polemischen Presseerklärung zum Kölner Missbrauchsgutachten zu Wort gemeldet. Gastbeitrag von Hans-Gerd H. Jauch


Köln-Bonn (kath.net)

Johannes-Wilhelm Rörig, kein Geringerer als der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung (UBSKM), hat es auf den Punkt gebracht: Die Kirche hat seit dem Aufkommen des Missbrauchsskandals 2010 eine Platzhalterfunktion.

Die schärfsten Kritiker der Elche

Nachdem die Grünen anfangs noch zu den lautstärksten Kritikern der Kirche im Missbrauchsskandal gehörten, sind sie in dieser Frage seit dem Erscheinen der wissenschaftlichen Aufarbeitung „Die Grünen und die Pädosexualität: Eine bundesdeutsche Geschichte“ (2014) auf Tauchstation.

Die Kirche als Consolatrix afflictorum: Mantelschutz für die Ungläubigen

Alle anderen gesellschaftlichen Bereiche mit teils weitaus umfangreicherem Missbrauchsgeschehen verstecken sich hinter der Kirche und entziehen sich ihrer Verantwortung. Bei diesem „Missbrauch mit dem Missbrauch“ wirken interessierte Kirchenkreise und die Medien Hand in Hand tatkräftig mit. Die Kirche muss ohne Wenn und Aber durch diesen Prozess. Aber wer sich lediglich auf deren Nabelschau fokussiert, schadet zahllosen Opfern in anderen Kontexten durch den damit erzeugten Abschirmeffekt. Das ist Teilhabe an mittelbarer sekundärer Viktimisierung.

Rörig konstatierte am 22.02.2021 ohne öffentliche Resonanz: "Von konstruktiver Unterstützung für einen fundierten Prozess der Aufarbeitung kann keine Rede sein. Wenn die Politik sich überhaupt für Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch interessiert, dann immerhin noch im Feld der Kirchen. Sport, Schule, der familiäre Kontext interessieren die Politik noch weniger. All diese Bereiche fallen, mal im Klartext gesprochen, eher hinten runter."

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben

Auf diesem Hintergrund muss man sich die Presseerklärung des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) zu Gemüte führen. Kaum ins Leben gerufen, hat er sich mit einer polemischen Presseerklärung zum Kölner Mißbrauchsgutachten zu Wort gemeldet. Ihm fällt wenig mehr ein, als Schlachten von gestern zu schlagen. Er übergeht die sachorientierte Bewertung des Gehrke-Gutachtens durch den Betroffenenbeirat im Erzbistum Köln und versucht an diesem vorbei ein Revival des verworfenen WSW-Gutachtens.

Der Weg ist das Ziel: Wie wurde man Betroffenenbeirat?

Der Betroffenenbeirat bei der DBK ist seit Ende 2020 eingerichtet. Er ist an die „Verwaltungsvorschrift des UBSKM über die Zusammensetzung und die Aufgaben des Betroffenenrats sowie des Auswahlgremiums“ angelehnt mit dem Unterschied, dass statt der 18 Mitglieder beim Betroffenenrat die Mitglieder des Betroffenenbeirats bei der DBK auf die biblische Zahl 12 beschränkt wurden.

Der Auswahlprozess war komplex: Der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich und für Fragen des Kinder- und Jugendschutzes hat die Mitgliedschaft im Betroffenenbeirat öffentlich ausgeschrieben. Es erfolgte eine Verbreitung über geeignete Medien und kirchliche Portale sowie bundesweite Opferhilfestrukturen. Die Diözesen und Ordensgemeinschaften waren angehalten, den Aufruf möglichst breit zu streuen. Die Mitgliedschaft stand allen Personen offen, die direkt oder indirekt von sexualisierter Gewalt durch Vertreter der katholischen Kirche betroffen sind. Die Bewerberinnen und Bewerber für den Betroffenenbeirat der DBK waren aufgefordert, ihr Interesse durch ein  Motivationsschreiben für die Mitarbeit im Betroffenenbeirat auszuführen. Google zieht für Interessenten bei der Suche nach „Motivationsschreiben“ binnen weniger als einer halben Sekunde über 1 Millionen Fundstellen zu „Muster, geniale Tipps zu Aufbau + Inhalt“ aus dem Ärmel.

Die Auswahl der Mitglieder des Betroffenenbeirats bei der DBK aus dem Kreis der eingegangenen Interessenbekundungen erfolgte durch ein Auswahlgremium. Dem Auswahlgremium gehört an ein Vertreter des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Dem Auswahlgremium gehört weiter an ein Vertreter von Betroffenen, wobei – hier ist das Verfahren noch etwas intransparent - nicht näher bestimmt ist, wer sich als Vertreter der Betroffenen im Auswahlgremium bewerben konnte und durch wen der Vertreter der Betroffenen im Auswahl-gremium ausgewählt wurde. Dem Auswahlgremium für die Mitglieder des Betroffenenbeirats bei der DBK gehören ferner an ein Vertreter der Wissenschaft, ein Vertreter des Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Bereich und für Fragen des Kinder- und Jugendschutzes der DBK und ein Vertreter der deutschen Ordensobernkonferenz. Keinesfalls fehlen darf ein „Vertreter der Politik“, dem die Kirche damit eilfertig die oben erwähnte Alibifunktion einräumt. Ruprecht Polenz muss man sich als geeigneten Kandidaten vorstellen.

Das Büro für Fragen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich beim Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz hat alsdann die Interessenbekundungen gesichtet und die geeigneten von den ungeeigneten Bewerbern geschieden. Es wird ein Akt der Opferfürsorge gewesen sein, den außenstehenden Beobachter über die durchaus nicht unwichtige Frage im Unklaren zu lassen, welche Kriterien die geeigneten von den ungeeigneten Bewerbern scheiden. Die geeigneten Bewerber wurden jedenfalls zu einem Gespräch eingeladen, an dem mindestens drei der Mitglieder des Auswahl-gremiums teilgenommen haben. Das Auswahlgremium hat alsdann auf einer dritten Stufe des Selektionsprozesses die Mitglieder des Betroffenenbeirates gewählt. Dabei sollen die Mitglieder nach Wunsch der Bischöfe unterschiedliche Kontexte sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland repräsentieren. Das sind nicht nur, aber ausdrücklich auch institutionelle, geographische und zeitliche Faktoren. Mit Blick auf die Anzahl der Kontexte, die dem aufmerksamen Leser des Missbrauchsgutachtens vor die Augen tritt,  und mit Blick auf die auf 12 begrenzte Mitgliederzahl des Betroffenenbeirats musste man sich vermutlich einer Art intersektionalen Ansatzes bedienen, um eine möglichst umfassende Repräsentation zu erreichen.

Anders als bei dem bekannten Konzept der Castingshow führte die Jury nicht lediglich die Reduktion der Bewerber durch und gab dann die Entscheidung aus der Hand, sondern entschied selbst - das Auswahlgremium schlug dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz die ausgewählten Mitglieder vor. Der Vorsitzende hatte dann wie ein Bundespräsident nur noch die Aufgabe, die gewählten Mitglieder des Betroffenenbeirates für einen Zeitraum von drei Jahren zu berufen. Insofern scheinen die Forderungen des Forums 1 des Synodalen Weges „Notwendige Schritte auf dem Weg zur Reform kirchlicher Machstrukturen“ antizipiert. Ob eine solche Betroffenenauswahl der effektiven Aufarbeitung von primärer bis tertiärer Viktimisierung dient und ihr vorbeugt, dürfte zweitrangig sein angesichts der Auflösung persönlicher Verantwortung für den Auswahlprozess in dieser delikaten Frage. Da schon Konfuzius sagte: „Der Weg ist das Ziel“, wurde so zugleich „der menschliche Reichtum der religiösen Vielfalt“ (Papst Franziskus) für die katholische Kirche in Deutschland erschlossen.

Geheimer Rat 2.0

„Wir sind natürlich alle wahnsinnig unterschiedlich“, konnte denn auch die Co-Sprecherin des Betroffenenbeirats Johanna Beck feststellen und fügte sogleich hinzu: „Wenn sich Konfliktlinien auftun, dann fordern wir Supervision ein, so dass das gut abgefangen wird“ – also die Beratung der Beratenden zur Reflexion ihres eigenen Handelns. Näheres wird vermutlich die Geschäftsordnung regeln, welche sich der Betroffenenbeirat nach Ziffer 3.4 der von der DBK festgelegten Grundlagen nach seiner Konstituierung zu geben hatte. Das war’s dann aber auch im Wesentlichen.

Wenn der Leser jetzt nämlich gespannt ist, zu erfahren, wer es in den Betroffenenbeirat geschafft hat, wird er enttäuscht. Die Namen der Mitglieder sind – soweit von außen erkennbar - nur dem Auswahlgremium und dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, vermutlich noch dem Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz bekannt. Angefragte, sonst wohlinformierte Kreise, selbst hochrangige Prälaten und investigative Journalisten, vermochten nicht zu sagen, wer dem Gremium außer den beim synodalen Prozess aufgetretenen drei von vier Sprechern angehört. Die übrigen Mitglieder des Betroffenenbeirates möchten – so die Information - anonym bleiben. Geheimrat 2.0.

Loose canons

Die Aufgabe des Betroffenenbeirats soll es nach dem Errichtungsdokument der Deutschen Bischofskonferenz sein, als „Expertengremium“ die Arbeit der Deutschen Bischofskonferenz im Themenfeld der sexualisierten Gewalt aus Sicht der Betroffenen zu begleiten. Ironie ist meist unfreiwillig. Der Betroffenenbeirat soll zur Weiterentwicklung des Umgangs mit Fragen der sexualisierten Gewalt im Verantwortungsbereich der Deutschen Bischofskonferenz beitragen, Stellungnahmen und Einschätzungen zu bestehenden und geplanten Maßnahmen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt abgeben und gemeinsam mit den jeweils zuständigen Gremien über weitere Schritte auf diesem Weg beraten.

Man kann schon an der eigentlich angestrebten Repräsentativität des Gremiums zweifeln, wenn unter den 12 Mitgliedern nur 5 Männer gegenüber 7 Frauen jene Aspekte zur Sprache bringen sollen, welche die zu rund drei Vierteln männlichen Opfer des innerkirchlichen Missbrauchs erlitten haben. Der Betroffenenbeirat hat jedenfalls kein über seine „Expertenfunktion“ hinausgehendes Mandat. Die Mitglieder des Betroffenenbeirats haben insbesondere nicht das Vertretungsrecht für auch nur einen Betroffenen außerhalb des Beirats. Dagegen ist das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (ZdK) nachgerade repräsentativ.

Opfer eines Verbrechens geworden zu sein, bildet nämlich noch keine homogene Gruppe, für die man sprechen könnte. Zu unterschiedlich sind die Opfer: Manche sind Mitglied der Kirche - manche nicht. Manche wollen den Missbrauch aufarbeiten - manche möchten ihre Ruhe haben. Manche sind schwer traumatisiert - andere sind frei von Folgeschäden. Manche möchten eine finanzielle Entschädigung, manche eine höhere - manche verzichten. Manche möchten als Opfer gesehen werden - manche als Betroffene und manche möchten nicht gekennzeichnet werden. Manche möchten nicht in eine Helferrolle für die Institution Kirche kommen - manche möchten die Kirche grundlegend reformieren. Manche möchten den Missbrauch innerkirchlich klären – manche rufen nach dem Staat. Für eine solche Vielfalt kann kein Beirat als Mandatar agieren.

Macht nix, dann wird man eben zur Speerspitze des Umwandlungsprozesses im Synodalen Weg. Das erste Auftreten von drei Sprechern des Betroffenenbeirats bildete dort denn auch den Auftakt der Beratungen Anfang Februar und wurde entsprechend begeistert aufgenommen.

Eine polemische Presseerklärung zum Kölner Missbrauchsgutachten und zum Wirken von Kardinal Woelki ist ebenfalls überraschungsfrei. Sie führte lediglich dazu, dass die Presseerklärung nur an einen kleineren Verteiler freigeschaltet wurde, da die öffentliche Kritik an Kardinal Woelki seitens einiger Amtsbrüder nach Vorlage der Gehrke-Gutachtens merklich zurückgefahren wurde.

Schließlich beschränken sich die Aufgaben des Expertengremiums nicht auf die Fragestellungen der DBK, sondern werden nach Ziffer 3.3 der Grundlagen in erster Linie vom Betroffenenbeirat frei gewählt. So würde der Betroffenenbeirat gerne an der Erstellung weiterer Gutachten mitwirken, damit eine solche „Einseitigkeit und Simplifizierung“ wie durch den Gutachter Prof. Gehrke vermieden werde. Da wird man dann Autorenkollektive wie die italienische, zu den neuen sozialen Bewegungen rechnende Schriftstellergruppe „Wu Ming“ (Mandarin für „Ohne Namen“) erwarten dürfen. Die unbekannten Co-Autoren aus dem Betroffenenbeirat könnten sich dann Wu Ming 1 bis Wu Ming 12 nennen.

Dass der „noch fehlende Mut der Kirche zum wirklichen tabulosen Dialog, (…) in Köln wieder einmal deutlich zu Tage getreten“ sein soll, darf der sachnähere, sorgfältig abwägende und mit konstruktiven Vorschlägen aufwartende Betroffenenbeirat im Kölner Erzbistum getrost auch auf sich beziehen. Schließlich deuche dem Betroffenenbeirat bei der DBK zufolge „auch das zukünftige ‚Mitnehmen‘ der Betroffenen in Köln mehr kosmetisch“.

Nun ist der Betroffenenbeirat bei der DBK noch nicht lange im Amt. Andernorts kommt bei solchen Stellungnahmen Lesenswertes heraus. Der Betroffenenrat beim UBSKM stellt beispielsweise zur 1.392 Seiten langen Rechtfertigungsschrift des „Papstes der Reformpädagogik“ Hartmut von Hentig („Noch immer Mein Leben“, 2016) fest: „Alle relevanten Stellen haben jahrzehntelang weggesehen, ein Selbstschutzsystem aus Vertuschern und Ver-leugnern in den Bildungseinrichtungen und Universitäten, in der Politik und auch in den Medien hat unerträglich lange funktioniert, ein Netzwerk, in das auch Hartmut von Hentig seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts involviert war. Es gab Hinweise. Aber niemand hat damals zugehört, niemand wollte etwas wissen.“ Das hielt eine illustre Freundesschar um die ehemalige Familienministerin Rita Süssmuth nicht davon ab, dem „Freund und Kollegen, Pädagogen und Philosophen, Lehrer und großen Anreger Hartmut von Hentig“ in Zeitungsanzeigen zum 95. Geburtstag zu gratulieren, da Corona leider einen Festakt verhinderte. Im September 2020.

Derselbe Betroffenenrat setzte das 2015 untergegangene Flaggschiff der Reformpädagogik, die Odenwaldschule (OSO), auf der von Beate Uhse über Daniel Cohn-Bendit bis hin zu Andreas von Weizsäcker das, was heute die grüne Bourgeoisie bildet, zur Schule ging, mit der „Colonia Dignidad“ gleich.

Ob der Betroffenenbeirat bei der DBK außer einer identischen Vergütung auch insoweit zum Betroffenenrat des UBSKM aufschließen wird, ist selbst ohne die Erwartung, dass er den Synodalen Weg einmal mit dem „Sendero Luminoso“ (Leuchtender Pfad) vergleicht, zu bezweifeln. Denn bislang kalauert er am Ende seiner Pressemitteilung in unbeholfenem Deutsch lediglich: „Der Himmel über Woelki bleibt wolkig und Betroffene weiter im Nebel.“

Das sind trübe Aussichten. Denn Betroffenenbeiräte werden fortan vermutlich den Weg der Kirche bis zum Jüngsten Gericht begleiten, da der Missbrauch so wenig wie der Mord auszumerzen sein wird, der indes mangels beiratstauglicher Betroffener weniger nachhaltige Aufmerksamkeit zu erzeugen vermag. Abgesehen vielleicht von dem Tod Floyd George‘s.

Nützliche Idioten

Der Betroffenenbeirat bei der DBK fungiert auf dem Hintergrund der ernüchternden Analyse des Missbrauchsbeauftragen Rörig nur als nützlicher Idiot, wenn er die lauthals beschworene „gesamtgesellschaftliche Verantwortung“ darauf beschränkt, der Kirche bei ihrer Aufklärung mit dem Hilferuf „Kirche kann es nicht alleine!“ auf die Finger zu schauen.

Statt an Kardinal Woelki herumzumäkeln, wäre es an der Zeit, den von ihm bislang erreichten Standard bei der Missbrauchsaufklärung als soliden Ausgangspunkt anzuerkennen und in die anderen Bistümer und in die vom Missbrauch betroffenen anderen gesellschaftlichen Bereiche hineinzutragen. Sonst wird das nichts mit dem Licht der Welt. Eigentlich eine lösbare Aufgabe, wenn die Bischöfe dieses Thema – neben der eigenen Aufklärungsarbeit - auf ihre Agenda setzen würden.

 


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