20. Juni 2021 in Buchtipp
Leseprobe 2 aus dem Gefängnistagebuch von George Kardinal Pell. Mit einem Vorwort von George Weigel.
Linz (kath.net)
Mittwoch, 27. Februar 2019
In den letzten Monaten habe ich eigentlich immer gut geschlafen, aber gestern Abend hat es mit dem Einschlafen länger gedauert und heute Morgen bin ich vor dem Klingeln des Weckers um 6.00 Uhr aufgewacht. Die Messe wie üblich im Esszimmer der McFarlanes gefeiert. Die Wände waren mit Bildern des Herzogs von Wellington, von W. G. Grace und Victor Trumper geschmückt, die vermutlich noch nie zuvor an einer täglichen Messe teilgenommen hatten.
Ich entschied mich für die Votivmesse „Unsere Liebe Frau“, weil ich mich während dieser seit Langem andauernden Misere unter ihren besonderen Schutz gestellt habe. Das Ganze dauert länger, als ich es erwartet hatte, aber ich fühle mich noch immer beschützt. Immerhin haben sie die anderen falschen Anschuldigungen allesamt fallen gelassen.
Joseph und Susan Santamaria kamen mit ihrer Tochter Helen zu Besuch, die gerade aus London zurückgekehrt ist, um mir ihre Unterstützung zu signalisieren.
Chris Meney war gestern Abend vorbeigekommen, und nach der Messe und dem Frühstück fuhr Tim [McFarlane] uns beide zum Gericht. Die Menge war sehr feindselig, besonders ein armer Mann mittleren Alters, dessen Miene vor Wut verzerrt war. Ich frage mich, was ihm die Kirche angetan hat. Doch die meisten waren Medienvertreter.
Paul [Galbally] wartete bereits auf uns, und man konnte erkennen, dass er schlechte Nachrichten hatte. Er erklärte, dass sie es nicht für ratsam hielten, heute Nachmittag beim Berufungsgericht eine Freilassung gegen Kaution zu beantragen. Ich hörte mir an, was [Robert] Richter und Ruth [Shann] dazu zu sagen hatten, und willigte dann ein. Also würde ich heute Nachmittag im Gefängnis sein.
Ein Großteil der Abschlussdiskussion war surreal und kafkaesk: Der Richter zählte die vielen Gründe auf, weshalb der Übergriff unwahrscheinlich war, um dann Vermutungen über meine Motivation anzustellen! Ruth meinte, dass sogar der Staatsanwalt – und wir kennen auch die Ansichten des Richters – mich für unschuldig hält.
Ich kam in Untersuchungshaft und wurde von zwei Gefängniswärtern durchsucht, Filipinos, die mich beide respektvoll behandelten. Der eine erzählte mir, dass er während des Verfahrens im Gericht gesessen habe und wisse, dass ich unschuldig sei. Drei Mitglieder des Wachpersonals, die während der Verhandlungen auf uns aufgepasst hatten, wünschten mir alles Gute und sagten, sie seien froh, mich kennengelernt zu haben. Offenbar hat sogar David Marr gegenüber Richter und Denis Shanahan zugegeben, dass er mich in diesem einen Verfahren nicht für schuldig hält! Beinahe hätte ich vergessen, mich bei Verlassen des Saals vor dem Richter zu verneigen.
Für die Fahrt ins Untersuchungsgefängnis legte man mir Handschellen an. Bei der Ankunft durchlief ich mehrere Registrierungen und eine gründliche medizinische Befragung. Alles höflich, aber eine Reihe von Verzögerungen hinter verschlossenen Türen.
Da man glaubte, es bestünde Gefahr, dass ich mir selbst Schaden zufügte, wurde ich die Nacht über regelmäßig kontrolliert. Unter den anderen Gefangenen, die ich nicht zu Gesicht bekommen werde, da jeder seine eigene Zelle hat, war eine Frau, die gelegentlich weinte (zumindest hörte es sich so an). Ein oder zwei andere schrien in ihrer Seelenqual und stießen immer wieder laute Beschimpfungen aus. Mein Name fiel auch ein paarmal.
Ich war ein wenig erschöpft und habe tief und fest geschlafen, bis der Wärter mich weckte. Danach habe ich versucht, wie gewohnt den Rosenkranz zu beten, um wieder einzuschlafen, aber ich habe nur noch vor mich hingedöst.
In jedem Fall ist es eine Erleichterung, dass der Tag vorbei ist. Ich bin nun im Auge des Sturms, wo Ruhe herrscht, während meine Familie, meine Freunde und die Kirche insgesamt mit dem Tornado fertigwerden müssen.
kath.net Buchtipp
Unschuldig angeklagt und verurteilt
Von George Kardinal Pell
Geb., 416 Seiten
14,5 x 22,0 cm
ISBN 978-3-9479312-5-5
Media Maria 2021
Preis: Euro 25,60
© 2021 www.kath.net