7. August 2021 in Spirituelles
Auszüge aus dem Buch „Das Ende der Neuzeit“ - Von Romano Guardini † - VISION2000
Wien (kath.net/VISION2000.at)
Der große Theologe Romano Guardini (1885-1968) hat schon nach dem 2. Weltkrieg von einem „Ende der Neuzeit“ gesprochen und einen tiefreichenden Umbruch der geistigen Situation in der westlichen Gesellschaft vorhergesehen. Das Kennzeichen dieser Veränderung: eine allgemeine radikale Absage an die christliche Kultur und die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Erneuerung des christlichen Lebens aus der Gegenwart Gottes.
Wir stehen vor einer enormen Fehleinschätzung, nämlich der Ansicht, Machtzunahme sei Fortschritt. „In Wahrheit ist die Macht etwas durchaus Mehrdeutiges; kann Gutes wirken wie Böses, aufbauen wie zerstören.“ (…) Die Möglichkeit, der Mensch werde die Macht falsch gebrauchen, (wächst) beständig. (…) Die Entwicklung macht den Eindruck, als ob die Macht sich objektiviere; als ob sie im Grunde überhaupt nicht mehr vom Menschen innegehabt und gebraucht werde, sondern sich selbständig aus der Logik der wissenschaftlichen Fragestellungen, der technischen Probleme, der politischen Spannungen weiter entfalte und zur Aktion bestimme.
Ja, das bedeutet, dass die Macht sich dämonisiert.
Das Wort ist zerredet und zerschrieben, wie alle für das Dasein des Menschen wichtigen Worte; so muss man sich, bevor man es braucht, auf seinen Ernst besinnen. Es gibt kein Seiendes, das herrenlos wäre. Sofern es Natur ist – das Wort im echten Sinn der nicht-personalen Schöpfung gemeint – gehört es Gott, dessen Wille sich in den Gesetzen ausdrückt, nach welchen die Natur besteht.
Sofern es im Freiheitsbereich des Menschen erscheint, muss es einem Menschen gehören und von ihm verantwortet werden. Geschieht das nicht, dann wird es nicht wieder zu „Natur“ – fahrlässige Annahme, mit welcher, mehr oder weniger bewusst, die Neuzeit sich tröstet; es bleibt nicht einfach disponibel, auf Vorrat gleichsam, sondern etwas Anonymes ergreift von ihm Besitz. Drücken wir es psychologisch aus: es wird vom Unbewussten her regiert, und das ist etwas Chaotisches, in welchem die Möglichkeiten des Zerstörens mindestens ebenso stark sind wie die des Heilens und Aufbauens.
Das ist aber noch nicht das Letzte. Von der Macht des Menschen, die nicht durch sein Gewissen verantwortet wird, ergreifen die Dämonen Besitz. Und mit dem Wort meinen wir kein Requisit der augenblicklichen Journalistik, sondern genau das, was die Offenbarung meint: geistige Wesen, die von Gott gut geschaffen sind, aber von Ihm abgefallen; die sich für das Böse entschieden haben und nun entschlossen sind, Seine Schöpfung zu verderben.
Wenn Dämonen die Macht übernehmen
Diese Dämonen sind es, welche dann die Macht des Menschen regieren: durch seine scheinbar natürlichen, in Wahrheit so widersprüchigen Instinkte; durch seine scheinbar folgerichtige, in Wahrheit so leicht beeinflussbare Logik; durch seine unter aller Gewalttätigkeit so hilflose Selbstsucht. Wenn man ohne rationalistische und naturalistische Vorentscheidungen das Geschehen der letzten Jahre betrachtet, dann reden seine Art des Verhaltens und seine geistig-seelische Stimmung deutlich genug.
Das alles hat die Neuzeit vergessen, weil der Empörungsglaube des Autonomismus sie blind gemacht hat. Sie hat gemeint, der Mensch könne einfachhin Macht haben und in deren Gebrauch sicher sein – durch irgendwelche Logik der Dinge, die sich im Bereich seiner Freiheit ebenso zuverlässig benehmen müssten, wie in dem der Natur. So ist es aber nicht.
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Eine gottlose Religiosität
Immer noch bleibt aber die Frage zu beantworten, von welcher Art die Religiosität der kommenden Zeit sein werde? Nicht ihr offenbarter Inhalt, der ist ewig; aber seine geschichtliche Verwirklichungsform, seine menschliche Struktur? Hier wäre manches zu sagen und zu vermuten. Wir müssen uns aber beschränken.
Wichtig wird vor allem sein, worauf zuletzt hingewiesen wurde: das scharfe Hervortreten der nicht-christlichen Existenz. Je entschiedener der Nicht-Glaubende seine Absage an die Offenbarung vollzieht und je konsequenter er sie praktisch durchführt, desto deutlicher wird daran, was das Christliche ist. Der Nicht-Glaubende muss aus dem Nebel der Säkularisationen heraus. Er muss das Nutznießertum aufgeben, welches die Offenbarung verneint, sich aber die von ihr entwickelten Werte und Kräfte angeeignet hat. Er muss das Dasein ohne Christus und ohne den durch Ihn offenbarten Gott ehrlich vollziehen und erfahren, was das heißt. Schon Nietzsche hat gewarnt, der neuzeitliche Nicht-Christ habe noch gar nicht erkannt, was es in Wahrheit bedeute, ein solcher zu sein. Die vergangenen Jahrzehnte haben eine Ahnung davon vermittelt, und sie waren erst der Anfang.
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Ein Glaube, der in der Gefahr bestehen kann
Je genauer das Christentum sich wieder als das Nicht-Selbstverständliche bezeugt; je schärfer es sich von einer herrschenden nicht-christlichen Anschauung unterscheiden muss, desto stärker wird im Dogma neben dem theoretischen das praktisch-existentielle Moment hervortreten. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass damit keine »Modernisierung« gemeint ist; keinerlei Abschwächung weder des Inhalts noch der Geltung. Im Gegenteil, der Charakter der Absolutheit, die Unbedingtheit der Aussage wie der Forderung werden sich schärfer betonen. Aber in dieser Absolutheit wird, vermute ich, die Definition der Existenz und die Orientierung des Verhaltens besonders fühlbar werden.
So wird der Glaube fähig, in der Gefahr zu bestehen. Im Verhältnis zu Gott wird das Element des Gehorsams stark hervortreten. Reiner Gehorsam, wissend, dass es um jenes Letzte geht, das nur durch Ihn verwirklicht werden kann. Nicht, weil der Mensch ,heteronom“ wäre, sondern weil Gott heilig-absolut ist. Eine ganz unliberale Haltung also, mit Unbedingtheit auf das Unbedingte gerichtet, aber – und hier zeigt sich der Unterschied gegen alles Gewaltwesen – in Freiheit.
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Die unmittelbare Beziehung zu Gott
Je stärker die Es-Mächte anwachsen, desto entschiedener besteht die „Weltüberwindung“ des Glaubens in der Realisation der Freiheit; im Einvernehmen der geschenkten Freiheit des Menschen mit der schöpferischen Freiheit Gottes. Und im Vertrauen auf das, was Gott tut, nicht nur wirkt, sondern tut. Es ist seltsam, welch eine Ahnung heiliger Möglichkeit mitten im Anwachsen des Welt-Zwangs aufsteigt!
Diese Beziehung von Absolutheit und Personalität, von Unbedingtheit und Freiheit wird den Glaubenden fähig machen, im Ortlosen und Ungeschützten zu stehen und Richtung zu wissen. Sie wird ihn fähig machen, in ein unmittelbares Verhältnis zu Gott zu treten, quer durch alle Situationen des Zwanges und der Gefahr hindurch; und in der wachsenden Einsamkeit der kommenden Welt - einer Einsamkeit gerade unter den Massen und in den Organisationen - lebendige Person zu bleiben.
Auszug aus: Das Ende der Neuzeit von Romano Guardini (1885-1968), Heß-Verlag, Basel 1950, vergriffen. Dieses äußerst lesenwerte Buch wurde vom Grünewald-Verlag 2016 neu aufgelegt: Das Ende der Neuzeit – Die Macht, 186 Seiten, 25 Euro.
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