Wo stehen wir mit ‚Amoris laetitia’?

17. Juni 2021 in Aktuelles


Papst Franziskus erläutert sein von einigen auch als umstritten bezeichnetes nachsynodales Apostolisches Schreiben ‚Amoris laetitiae’. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) Ein Teil des neuen Stils der Gegenwart des Papstes in der Öffentlichkeit, der auch durch die äußeren Umstände einer sogenannten Pandemie bedingt ist, besteht in einer Vielzahl von Botschaften und vor allem auch Videobotschaften, mit denen sich Franziskus zu verschiedenen Anlässen an die Menschen wendet. Besonders ausgearbeitet war in diesem Zusammenhang die Videobotschaft an die Teilnehmer des Forums „Wo stehen wir mit Amoris laetitia? Strategien für die Anwendung des Apostolischen Schreibens von Papst Franziskus“ vom 9. Juni 2021.

Ein weiteres Kennzeichen des Pontifikats ist darin zu sehen, dass Schriften wie „Evangelii gaudium“, „Amoris laetitia“ und dann vor allem der Umwelt- und Klimaenzyklika „Laudato si’“ ein enormes Gewicht zugewiesen wird bzw. dieses Gewicht suggeriert werden soll. So ist zum Beispiel soeben das „Laudato-si’-Jahr“ zu Ende gegangen. Aber dem war nicht genug. „Ich danke allen, die sich an den zahlreichen Initiativen in der ganzen Welt beteiligt haben“, so der Papst beim Regina Caeli am 23. Mai 2021: „es ist eine Reise, die wir gemeinsam fortsetzen müssen, indem wir auf den Schrei der Erde und der Armen hören. Aus diesem Grund beginnt ab sofort die ‚Aktionsplattform Laudato si’’, ein auf sieben Jahre angelegter Weg, welcher Familien, Pfarr- und Diözesangemeinschaften, Schulen und Universitäten, Krankenhäuser, Unternehmen, Gruppen, Bewegungen, Organisationen und Ordensinstitute zu einem nachhaltigen Lebensstil anleiten soll“.

Sieben Jahre! Sieben Jahre, um einen „nachhaltigen Lebensstil“ zu erreichen. Eine bis zum Jahr 2028 geplante Aktion – das ist nicht schlecht. Oder handelt es sich sogar um eine Vorbereitung auf das Jahr 2033? Um auf eine andere Art und Weise die Frage zu stellen: „welche Kirche werden wir im Jahr 2033 haben?“.

Aber nun zu „Amoris laetitia“, dem Ergebnis von zwei Jahren Familiensynoden, die 2014 und 2015 nicht wenig Aufregung mit sich gebracht hatten. Das nachsynodale Schreiben selbst wurde – ein Sonderfall in der Geschichte – zum Gegenstand heftig geführter Diskussionen, da es vielen – auf der einen wie auf der anderen Seite – daran gelegen war, ein nachsynodales Schreiben über die Familien allein auf die Problematik der „wiederverheirateteten Geschiedenen“ oder gar „alternative Formen von Familie“ zu verkürzen.

Aber: es geht um die Familie, deren Realität, deren Grund und erst dann um ihre möglichen Schwierigkeiten. Genau diese Dimension hob der Papst in seiner auch komplex zu nennenden Videobotschaft hervor, die einer weitergehenden Reflexion bedarf. Das Wort den Papst:

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Videobotschaft vom 9. Juni an die Teilnehmer des Forums „Wo stehen wir mit Amoris laetitia? Strategien für die Anwendung des Apostolischen Schreibens von Papst Franziskus“:

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Im Panorama der wichtigsten Initiativen des Jahres „Familie Amoris laetitia“ stellt das Forum einen wesentlichen Moment des Dialogs zwischen dem Heiligen Stuhl, den Bischofskonferenzen, den Bewegungen und den Familienverbänden dar. Möge der Heilige Geist es zu einem fruchtbaren Moment für die Kirche, für die Hirten und Laien gemeinsam machen, um auf die konkreten Bedürfnisse der Familien zu hören und sich gegenseitig zu helfen, die notwendigen Prozesse zur Erneuerung der kirchlichen Verkündigung einzuleiten.

Die Frage, die ihr stellt – „Wo stehen wir bei der Anwendung von Amoris laetitia?“ – soll eine fruchtbare kirchliche Unterscheidung über Stil und Ziel der Familienpastoral in der Perspektive der Neuevangelisierung anregen. Das Apostolische Schreiben Amoris laetitia ist die Frucht einer eingehenden synodalen Reflexion über Ehe und Familie und erfordert als solche eine geduldige Arbeit der Umsetzung und eine missionarische Umkehr. Dieses Forum steht in der Kontinuität des synodalen Weges, der in den Ortskirchen konkrete Gestalt annehmen können muss und der Zusammenarbeit, Aufgabenteilung, Unterscheidungsfähigkeit und Bereitschaft zur Familiennähe erfordert.

Inmitten der durch die Pandemie verursachten Schwierigkeiten, die „das Leben der Familie und ihre innige Lebens- und Liebesgemeinschaft auseinander brechen lassen“, ist die Familie heute mehr denn je ein Zeichen der Zeit, und die Kirche ist vor allem eingeladen, aktiv auf die Familien zu hören und sie gleichzeitig als Subjekte der Pastoral einzubeziehen. Es ist notwendig, jede „rein theoretische, von den wirklichen Problemen der Menschen losgelöste Verkündigung“ abzulegen, ebenso wie die Vorstellung, dass die Evangelisierung einer pastoralen Elite vorbehalten sei. Jeder Getaufte „ist ein aktiver Träger der Evangelisierung“. Um die Liebe Gottes zu den Familien und jungen Menschen zu bringen, die die Familien von morgen aufbauen werden, brauchen wir die Hilfe der Familien selbst, ihre konkrete Erfahrung des Lebens und der Gemeinschaft. Wir brauchen Eheleute an der Seite der Seelsorger, um mit anderen Familien zu gehen, um denen zu helfen, die schwächer sind, um zu verkünden, dass Christus sich auch in Schwierigkeiten im Sakrament der Ehe gegenwärtig macht, um allen Zärtlichkeit, Geduld und Hoffnung zu schenken, in jeder Situation des Lebens.

Wie wichtig ist es für junge Menschen, mit eigenen Augen die Liebe Christi zu sehen, die in der Liebe von Ehepaaren lebendig und gegenwärtig ist, die mit ihrem konkreten Leben bezeugen, dass Liebe für immer möglich ist!

So wie das Ehepaar Aquila und Priscilla wertvolle Mitarbeiter des Paulus in seiner Mission waren, so können auch heute viele Ehepaare und sogar ganze Familien mit Kindern gültige Zeugen werden, um andere Familien zu begleiten, Gemeinschaft zu schaffen, Samen der Gemeinschaft unter den Bevölkerungen zu säen, die die erste Evangelisierung empfangen, und so entscheidend zur Verkündigung des Kerygmas beizutragen.

Die Ehe hat wie das Priestertum erteilen „eine besondere Sendung in der Kirche und dienen dem Aufbau des Volkes Gottes“, und sie verleiht den Eheleuten eine besondere Sendung beim Aufbau der Kirche. Die Familie ist die „Hauskirche“, der Ort, an dem die sakramentale Gegenwart Christi zwischen den Eheleuten und zwischen Eltern und Kindern wirkt. In diesem Sinne ist „die in den Familien gelebte Liebe eine ständige Kraft für das Leben der Kirche“, die ständig durch das Leben aller Hauskirchen bereichert wird. Deshalb wird jede Familie durch das Sakrament der Ehe in jeder Hinsicht zu einem Gut für die Kirche.

Die Mitverantwortung für die Mission ruft daher die Eheleute und die geweihten Amtsträger, besonders die Bischöfe, zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit in der Sorge und Betreuung der Hauskirchen auf. Deshalb müssen wir Seelsorger uns vom Geist erleuchten lassen, damit diese heilbringende Verkündigung von Ehepaaren verwirklicht werden kann, die oft da sind, sie sind bereit, aber sie werden nicht gerufen. Wenn wir sie stattdessen rufen, sie zur Mitarbeit aufrufen, wenn wir ihnen Raum geben, können sie ihren Beitrag zum Aufbau des kirchlichen Gefüges leisten. So wie das Gewebe und die Kette des Männlichen und des Weiblichen in ihrer Komplementarität zusammen den Wandteppich der Familie bilden, so sind auch die Sakramente der Weihe und der Ehe beide unverzichtbar für den Aufbau der Kirche als »Familie der Familien«. Auf diese Weise werden wir in der Lage sein, eine Familienpastoral zu betreiben, in der der Geist der kirchlichen Gemeinschaft voll zum Ausdruck kommt. Diese stellt sich nämlich „genauer betrachtet als eine ‚organische communio’ dar, ähnlich der eines lebendigen und wirkenden Leines: sie ist gekennzeichnet von der Koexistenz der Verschiedenheit und der Komplementarität der Berufungen, Lebenssituationen“.

Ich lade euch daher ein, einen neuen Blick auf Amoris laetitia zu werfen, um unter den darin angegebenen pastoralen Prioritäten diejenigen zu identifizieren, die den konkreten Bedürfnissen jeder Ortskirche am besten entsprechen, und sie mit Kreativität und missionarischem Eifer zu verfolgen. In der Zeit der Pandemie hat der Herr uns die Gelegenheit gegeben, nicht nur die Bedürfnisse und Prioritäten zu überdenken, sondern auch den Stil und die Art und Weise, wie wir unser pastorales Engagement planen und durchführen. Nach dem programmatischen Wert von Evangelii gaudium und dem konkreten pastoralen Programm, das Amoris laetitia für die Familienpastoral skizziert, „hoffe ich, dass alle Gemeinschaften dafür sorgen, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um auf dem Weg einer pastoralen und missionarischen Neuausrichtung voranzuschreiten, der die Dinge nicht so belassen darf wie sie sind“.

Eine besondere Anstrengung sollte unternommen werden, um Laien, besonders Ehepartner und Familien, zu schulen, damit sie die Bedeutung ihrer kirchlichen Verpflichtung besser verstehen, d.h. die Bedeutung der Mission, die sich aus dem Ehe- und Familiensein ergibt. Viele Familien sind sich des großen Geschenks nicht bewusst, das sie mit dem Sakrament erhalten haben, einem wirksamen Zeichen der Gegenwart Christi, das jeden Augenblick ihres Lebens begleitet. Wenn eine Familie diese Gabe voll entdeckt, verspürt sie den Wunsch, sie mit anderen Familien zu teilen, denn die Freude über die Begegnung mit dem Herrn neigt dazu, sich auszubreiten und erzeugt weitere Gemeinschaft, sie ist von Natur aus missionarisch.

Der mit den Synodenversammlungen zur Familie eingeschlagene Weg hat der Kirche geholfen, die vielen konkreten Herausforderungen, die Familien erleben, ans Licht zu bringen: ideologischer Druck, der Erziehungsprozesse behindert, Beziehungsprobleme, materielle und spirituelle Armut und im Grunde genommen viel Einsamkeit aufgrund der Schwierigkeit, Gott im eigenen Leben wahrzunehmen. Einige dieser Herausforderungen sind noch nicht bewältigt und erfordern einen neuen pastoralen Impuls in bestimmten Bereichen: ich denke an die Ehevorbereitung, die Begleitung junger Ehepaare, die Erziehung, die Aufmerksamkeit für die älteren Menschen, die Nähe zu verwundeten Familien oder zu denen, die in einer neuen Verbindung die christliche Erfahrung in vollem Umfang leben wollen.

Ich hoffe daher, dass diese Tage der Arbeit eine gute Gelegenheit sein werden, um Ideen und pastorale Erfahrungen auszutauschen; und auch, um ein Netzwerk zu schaffen, das in der Komplementarität der Berufungen und Lebensstände, in einem Geist der Zusammenarbeit und der kirchlichen Gemeinschaft das Evangelium der Familie auf die wirksamste Weise verkünden kann, indem es auf die Zeichen der Zeit antwortet.

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Foto: © L’Osservatore Romano


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