Müller: Kein Mensch darf „über Leben und Freiheit des Gewissens und Glaubens anderer entscheiden“

24. Juni 2021 in Interview


Kardinal Müller: „Zurzeit ist durch aggressive Entchristlichungsagenda in EU-Institutionen, in Biden-Administration, in islamistischen und atheistischen Staaten… die Glaubensfreiheit der Christen … bedroht.“ kath.net-Interview von Lothar C. Rilinger


Vatikan (kath.net) Grundlage eines demokratischen Rechtsstaates ist die Gewährung der Grund- und Menschenrechte. Der Gebrauch dieser Rechte findet seine Grenze in den Grund- und Menschenrechten dritter Personen. Die Grenze wird durch Gesetz oder durch die Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichtes und – so in Europa – durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgelegt. Sowohl die Gesetzgebung, als auch die Entscheidungen der Verfassungsgerichte unterliegen dem gesellschaftlichen Diskurs, so dass sich die Grenzen verschieben können. Ungewöhnlich sind allerdings Entwicklungen, die als cancel culture und political correctness bezeichnet werden und die diese Grenzen jenseits der Gesetzgebungsverfahren oder der Gerichtsentscheidungen festlegen wollen. Von einer ideologischen Elite wird vorgegeben, was als gut und als schlecht angesehen werden muss, um vor dem selbst ernannten Gerichtshof der Ideologie bestehen zu können. Hierüber wollen wir mit dem Dogmatiker und Dogmenhistoriker und vormaligen Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre Gerhard Ludwig Kardinal Müller sprechen.

Lothar C. Rilinger: Das Recht auf Meinungsfreiheit wird als ein Menschenrecht angesehen. Können Sie sich vorstellen, dass dieses Menschenrecht die unveräußerliche Grundlage eines demokratisch verfassten Rechtsstaates bildet?

Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Was der Staat ist und was er gegenüber seinen Bürgern vornehmen kann, ist umstritten. Nach den negativen Erfahrungen mit der Übergriffigkeit eines totalitären Staates geht die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland von der Unverletzlichkeit der Menschenwürde aus, die die Grundlage und die Grenze der Ausübung aller Staatsgewalt ist. Wegen der philosophischen und religiösen Unterschiede im Menschenbild gibt es aber auch hier keine Auffassung von den daraus folgenden Grundrechten, die von allen geteilt werden. Was wir aus der Tradition des Naturrechts und des Christentums für nicht verhandelbar erachten, wird in manchen islamischen Staaten oder im KP-China als kultureller Import aus dem „Westen" verächtlich gemacht.

Ich meine aber, dass an der Wahrheit der Vernunft kein Weg vorbeiführt: Der Staat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Staat. Der Bürger ist nicht Eigentum der Machthaber, sondern das Volk ist der Souverän, dem die Regierung Rechenschaft schuldig ist. Kein Mensch hat das Recht, über das Leben, die körperliche Unversehrtheit sowie die Freiheit des Gewissens und des Glaubens eines anderen Menschen zu entscheiden. Man sollte auch nicht von einer Einschränkung der Grundrechte sprechen. Da sie uns von Natur aus zukommen oder nach unserer Auffassung von unserem Gott und Schöpfer verliehen sind, können sie nicht aufgehoben oder eingeschränkt werden. Nur ihr Missbrauch oder ihr Gebrauch zu Lasten anderer kann sanktioniert werden. Im Falle von Kriegen, Katastrophen oder Pandemien sind von der legitimen Autorität die notwendigen Maßnahmen im Sinne des Gemeinwohls vorzunehmen. Die Corona-Krise darf aber nicht der willkommene Anlass sein, die Demokratie und die Freiheit der Bürgergesellschaft auszuhebeln zu Gunsten des Bevormundungswillens einer selbsternannten Elite, die der breiten Volksmasse beibringen will, was gut für sie ist. Der Staat ist nicht wie ein – schlechter – Lehrer, der seine Bürger wie „dumme Schulkinder" behandelt oder gängelt.

Rilinger: Muss der Staat seinen Staatsbürgern das Menschenrechte auf Meinungsfreiheit nicht nur aus juristischen Gründen gewähren, sondern auch, um ihnen die Persönlichkeitsentfaltung zu ermöglichen?

Kardinal Müller: Ein Staat, der nach den Prinzipien einer parlamentarischen Demokratie aufgebaut ist, hat kein Recht, freien Menschen etwas zu gewähren. Das Gewähren und Entziehen entstammt dem Wörterbuch autokratischer Erziehungsdiktaturen. Die Meinungsmacher halten sich im Namen ihrer höheren Vernunft berechtigt und sogar moralisch verpflichtet, eine absolute Kontrolle über die Gesinnungen und die Gewissen ihrer Betreuungsobjekte ausüben zu müssen. Im Rechtsstaat – im Unterschied zu einem ideologischen Einheitsstaat – kommt es seinen drei getrennten Gewalten zu, die Ausübung der natürlichen Rechte der Bürger zu schützen und zu gewährleisten. Wir brauchen auch keine Politiker, Richter oder ihre Sprecher in den Staatsmedien, die uns wie unmündige Kinder mal streng behandeln, mal an der langen Leine laufen lassen. So manche Propagandisten der staatlichen Menschheitsbeglückung möchte man erst einmal den Abschluss ihres Studiums oder eine längere Berufserfahrung wünschen, bevor sie über immer neue Verbote oder höhere Steuern nachdenken und gegenderte Sprachverhunzungen als ihre höheren „Weisheiten" von sich geben.

Rilinger: Muss das Recht auf Meinungsfreiheit ohne jedwede Einschränkung gewährt werden?

Kardinal Müller: Die Meinung ist ein geistiges Konstrukt, das sich in unserem Kopf vollzieht. Die philosophische Erkenntnistheorie müht sich seit Aristoteles bis Kant und zu der modernen Linguistik mit der Frage nach dem Ursprung und den Kriterien des Denkens ab. Und da kommen Nur-Politiker, die ihre Nebeneinkünfte noch nicht einmal richtig angeben können, und wollen die Freiheit des Geistes eingrenzen und beschneiden. Man muss schon beschränkt sein, wenn man nicht weiß, dass die Gedanken von Natur aus frei sind. Ob wir in Worten und Taten unsere Meinungen nach außen tragen, hängt von unserer Freiheit ab. Der Gesetzgebung und der Rechtsprechung kommen innerhalb der Grenzen staatlicher Gewalt das Urteil zu, ob hier ein Vergehen oder sogar ein Verbrechen an einem Dritten oder dem Gemeinwohl begangen wurde. Eine andere Meinung, Philosophie, Religion muss ich aushalten, wie auch andere meine metaphysischen und moralischen Grundüberzeugungen ertragen müssen, ohne auf das Recht zu pochen, mich terrorisieren zu können, weil sie sich dadurch beleidigt fühlen. In manchen Staaten besteht das Recht zu klagen, wenn ich mich durch die Meinung eines andern beleidigt fühle, nur weil ich keine Argumente dagegen habe. Das allerdings ist Gesinnungsdiktatur, auch wenn sie sich in formales Recht kleidet. Es ist ja absurd, dass man heute schon wieder die Grenzen der staatlichen Gewalt sowie die veröffentlichte Meinung und in Europa die Religionsfreiheit verteidigen muss. Der Widerstandskämpfer des „Kreisauer Kreises", Helmut James Graf von Moltke (1907-1945), wurde nach dem Zeugnis von P. Alfred Delp SJ vom Volksgerichtshof durch Roland Freisler wegen „Rechristianisierungsabsichten" gegen den Einheitsstaat zum Tode verurteilt (vgl. Alfred Delp, Mit gefesselten Händen, Frankfurt a. M. 2007, 226).

In einer pluralistischen Bürgergesellschaft und in einem demokratischen Staat muss ich es als Christ ertragen, dass ein Nichtchrist meinen Glauben an die Dreifaltigkeit Gottes nicht teilt oder sogar für logisch widersprüchlich hält. Er hat auch das Recht, mir seine Meinung mitzuteilen, wenn ich ihn danach frage. Aber er macht sich moralisch oder auch juristisch strafbar, wenn er mich deswegen persönlich als Dummkopf beschimpft und mir verbieten will, christliche Kinder in einem Glauben zu unterrichten, den er für widersprüchlich hält.

Meinungsfreiheit hat nämlich zwei Seiten, mein Wahrheitsgewissen und die Toleranz gegenüber Dritten. Zurzeit ist durch die aggressive Entchristlichungsagenda in EU-Institutionen, in der Biden-Administration, in islamistischen und atheistischen Staaten die Glaubens- und Kultfreiheit der Christen unwiderlegbar auf subtile oder brachiale Weise bedroht.

Es widerspricht der natürlichen Ethik und auch dem christlichen Ethos, einen homosexuell empfindenden Menschen deswegen als Person zu beleidigen. Aber es ist auch ein Verbrechen des Staates, die Verkündigung der biblischen Wahrheit von der Sündhaftigkeit außerehelicher sexueller Handlungen, zumal unter Personen des gleichen Geschlechts, mit Geld- oder Freiheitsstrafen zu belegen, wie es durch die sog. Antidiskriminierungsgesetze „von Staats wegen als rechtens" erklärt wird. Wenn staatliche Gesetze die natürlichen Grundrechte aushebeln, kann von einer Demokratie im klassischen Sinn nicht mehr die Rede sein.

Rilinger: Auch wenn der Staat Grenzen der Meinungsfreiheit aufzeigen darf, wo müssen die Grenzen ihre Rechtfertigung erfahren?

Kardinal Müller: Wie gesagt, hat die Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit keine Grenzen, weil sie in der Natur des menschlichen Geistes metaphysisch begründet ist. Unter „Meinungen" verstehen wir hier nicht den Geschmack, über den zu streiten müßig ist. Es geht um die grundlegende Stellungnahme zum Sinn des Daseins und zum Ursprung unserer sittlichen Handlungen, die in der Philosophie und Religion begründet werden – unabhängig davon, welcher Ausprägung die einzelnen Menschen folgen. Aber auch im Alltag kann man nicht sagen, dass das Rot der Ampel eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist. Gewiss ist die Symbolik der drei Ampelfarben positiv von der legitimen Autorität festgelegt. Aber der bürgerliche Gehorsam ist hier ganz leicht einzuhalten, weil mir meine sittliche Vernunft ein Verhalten verbietet, das andere und auch mich in Gefahr bringt. Meine Bewegungsfreiheit dient dem konstruktiven Ziel, mich z. B. zu meiner Familie, zur Kirche, zu meinem Arbeitsplatz oder zum verdienten Urlaubsort hin zu bewegen. Aber ich bewege mich nicht, um andere anzustoßen, ihnen weh zu tun oder ihnen ihren legitimen Platz streitig zu machen. Alle unsere Grundrechte sind verbunden mit der Rücksicht auf andere. Der Mensch ist Person, aber auch ein Gemeinschaftswesen. Mein Recht auf Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung ist innerlich verbunden mit dem Respekt vor dem Leben anderer und christlich gesprochen: mit der Nächstenliebe. Der Nächste ist nicht der Konkurrent, sondern auch der Freund. So kommt auch etwas Humor und Empathie in die verbissenen Kämpfe um mein Recht gegen dein Recht und unsere Politiker widerstehen etwas ihrem Regelungsdrang und Bevormundungswillen.

Rilinger: Muss der Staat auch solche Äußerungen durch das Recht auf Meinungsfreiheit hinnehmen, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen?

Kardinal Müller: Wie gesagt, Straftaten gegen einen anderen Menschen und die Gemeinschaft insgesamt verdienen sittliche Ächtung und juristische Strafe. Bei den Worten ist es schon schwerer zu entscheiden. Wenn es sich um Aufrufe zu Straftaten handelt, ist die Sache klar. Oder wenn schwerste Verbrechen wie Auschwitz, der Armeniermord, Katyn oder Völkermorde u.a. unverschämt geleugnet werden, muss auch strafrechtlich vorgegangen werden. Vorsichtig muss man allerdings bei Bewertungen lange zurückliegender Vorgänge sein. Wer kann jemanden moralisch oder gar strafrechtlich belangen, der Cäsars blutige Eroberung Galliens positiv oder kritisch beschreibt? Gegen einen, der die stalinistischen Straflager verteidigt oder herunterspielt, soll man nicht den Staatsanwalt auf den Plan rufen, sondern den Historiker und man soll ihn daran erinnern, dass es eine letzte Gerechtigkeit bei Gott, der man auch nicht mit Propagandalügen entkommt, gibt.

Rilinger: Halten Sie das Recht auf Meinungsäußerung für den Kerngehalt einer geistigen Auseinandersetzung?

Kardinal Müller: Geist und Freiheit lassen sich nicht trennen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei und die Staatsanwaltschaft die Hauptträger der akademischen Diskussion sind. Das ist nur Dekadenz, wenn Professoren eingeladen und nach dem geistigen Maß von Genderaktivisten, Black-Lives-Matter-Eiferern und LGBT-Fanatikern rausgeworfen werden. Immerhin wurde Sokrates von mediokren Machtpolitikern zum Tode verurteilt, und Aristoteles hat die zur Pöbelherrschaft degenerierte Demokratie gemieden, „um den Athenern nicht ein zweites Mal Gelegenheit zu geben, sich an der Philosophie zu versündigen."

Rilinger: Der Staat kann die Grenzen der Meinungsfreiheit bestimmen. Können Sie sich vorstellen, dass eine ideologische Elite bestimmt, was als politisch korrekt angesehen und damit angewendet werden darf, ohne dass diese Maßstäbe entweder gesetzlich kodifiziert oder durch gerichtliche Entscheidungen festgelegt sind?

Kardinal Müller: Das wird im großen Stil versucht. Die amerikanischen Supermilliardäre, BigTechGiganten und die Pharmaindustrie versuchen ja über ihre Stiftungen und die Chancen zum Great Reset nach der Corona-Krise, ihr dürftiges Menschenbild und ihre ökonomisch beschränkte Weltanschauung in Verbindung mit dem KP-chinesischen Modell der ganzen Welt überzustülpen. Es ist so schön, zu einer Community zu gehören, in der alle gleich sind, gleich denken, fühlen und homogen in Empörung über die Abweichler und voller Bewunderung für die tapferen Helden im Sinne der Mächtigen sind.

Rilinger: Halten Sie es für gerechtfertigt, im Rahmen des Phänomens der cancel culture Werke der Weltliteratur zu bereinigen, wenn eine ideologische Elite meint, dass bestimmte Passagen nicht der political correctness entsprechen?

Kardinal Müller: Das ist einfach nur Barbarei, geistiger Vandalismus, die Nachahmung der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts im Stil von Orwells Alpträumen. Man sollte eher von „cancel vulture“, der Aasgeier-Kultur, oder von „political respectless“ sprechen. Cancel culture ist nur ein anderes Wort für das brainwashing, das die Kommunisten in China und der Sowjetunion zur höchsten Perfektion entwickelt haben. Wie sind denn diejenigen geendet, die die Bücher renommierter Schriftsteller wegen „undeutscher" Stellen ins Feuer geworfen haben? Statt Gedankenreinigung sollten diese Gewaltmenschen einmal selbst anfangen, zu denken und die Kritikfähigkeit anderer nicht zu unterschätzen. Ich brauche keinen Fouché, Goebbels und Lenin, um Werke der Weltliteratur ohne Gefahr für meine geistige Hygiene zu lesen.

Rilinger: Halten Sie es als emeritierter Dogmatiker und Dogmenhistoriker sowie Honorarprofessor der Universität München für vertretbar, dass zur Beurteilung von wissenschaftlichen Arbeiten Kriterien wie beispielshaft politische Korrektheit oder Benutzung der nicht offiziellen Gendersprache herangezogen werden, um den Wert der Arbeit beurteilen zu können?

Kardinal Müller: Die Gendersprache ist kein wissenschaftliches Kriterium, sondern ein Herrschaftsinstrument der Mediokren, geistig Minderbemittelten und autoritären Führer mit Blockwartmentalität. Die große Mehrheit der Deutschen lehnt den Missbrauch ihrer Sprache zur geistigen Terrorisierung der Menschen rundweg ab.

Rilinger: Sehen Sie die Gefahr, dass durch die ideologische Einschränkung der Meinungsfreiheit das Verhältnis der Menschen zueinander sowie die Wissenschaftsfreiheit beeinträchtigt und die intellektuelle Auseinandersetzung leiden wird?

Kardinal Müller: Es ist die ewige Auseinandersetzung zwischen dem Geist der Freiheit und der Borniertheit der Macht, zwischen der Individualität und dem erzwungenen Gleichschritt.

Rilinger: Vielen Dank, Eminenz.

Archivfoto Kardinal Müller (c) kath.net

Lothar C. Rilinger ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht i.R., Stellvertretendes Mitglied des Niedersächischen Staatsgerichtshofes a.D.. Außerdem ist er Autor des Buches VRBS AETERNA. Bd.3

kath.net-Buchtipp:
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Von Lothar C. Rilinger
Sonstiger Urheber: Gerhard Ludwig Müller
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