Treue zum Konzil - oder Treue zum "Bruch"?

28. Juli 2021 in Kommentar


Das Motu proprio zur "alten Messe" reißt neue Wunden - Ein Kommentar von Franz Nobert Otterbeck


Köln (kath.net)

Man sollte etablierte Sprachbilder nicht allzu zu sehr strapazieren, auch wenn sie zutreffen: Der Elefant im Porzellanladen schießt mit Kanonen auf Spatzen! Das "Motu proprio" wurde mit heißer Nadel gestrickt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Aber es ist ja noch nicht aller Tage Abend.

Der junge Jesuit J.M. Bergoglio hat wahrscheinlich nur wenig Griechisch gelernt. Hans-Georg Gadamer (1900-2002), der mit seinem Hauptwerk "Wahrheit und Methode" von 1960 als Begründer der modernen Hermeneutik gilt, bekundete einst: "Wer des Altgriechischen nicht mächtig ist, mit dem kann ich mich eigentlich gar nicht verständigen!" Könnte sich Bergoglio mit Gadamer verständigen? Altgriechisch ἑρμηνεύειν, hermēneúein heißt zu deutsch ‚erklären‘, ‚auslegen‘ oder ‚übersetzen‘. Es geht um eine Verstehenslehre. Verständigungsprobleme entstehen allerdings nicht nur dort, wo Sprachebenen auseinanderfallen. Oft fehlt schlicht der gute Wille.

Zur "Hermeneutik des Bruchs", mit dem die Rezeption des jüngsten Konzils belastet wurde, sagte Papst Benedikt XVI. in seiner Weihnachtsansprache an die Kurie von 2005: "Die Hermeneutik der Diskontinuität birgt das Risiko eines Bruches zwischen vorkonziliarer und nachkonziliarer Kirche in sich." Er stellte dieser ein Konzilsverständnis der Reform unter Wahrung der Kontinuität gegenüber. Es gibt allerdings für Katholiken keine Wahlfreiheit zwischen beiden Schulen. Beide Konzilspäpste und sämtliche nachkonziliaren Päpste bis 2013 unterstützten die Kontinuität. Papst Franziskus hingegen steht im Zwielicht seiner Zeit. Bei Amtsantritt überraschte er mit einem "Knick in der Optik", der aber noch keinen Bruch der Kontinuität des Amtes vermuten ließ. Er schien eine missionarische Kirche forcieren zu wollen. Seine Auffassung von "Synodalität" in der Kirche wirft immer neue Fragen auf. Das deutsche Konzept missfällt ihm massiv, das eigene Konzept ist aber immer noch nur grob skizziert. Die Gesetzgebung vom 16. Juli, die eine "altrituelle" Minderheit schwer trifft, offenbart nebenbei, dass ihm der Sinn für die Rechte einzelner Gläubiger fehlt, vielleicht sogar ein Rechtsbegriff überhaupt.

Die "Hermeneutik des Bruchs" ist nachkonziliar von modernen Theologen und Massenmedien begünstigt worden. Sie war vermutlich auch politisch erwünscht. Aus der so genannten "anthropologischen Wende" der Theologie, wie manche den "Bruch" etikettierten, ließ sich ein Vorrang der Politik vor der Religion herleiten, mit dem die Abwertung der Kirche zum Werteproduzenten im vorpolitischen Raum folgerichtig einhergeht. Zu den Kühnheiten, die Benedikt XVI. sich herausnahm, gehörte es, aus dem "Fall Lefebvre" die komplexen politischen Implikationen weitestgehend herauszuhalten und die Lösung des Problems rein kirchlich, rein theologisch zu versuchen. Mit der Anklage wider das Konzil, dessen prominenter Teilnehmer er war, hatte Erzbischof Marcel Lefebvre zweifellos eine auch-politische Front eröffnet. Die Unfähigkeit speziell der deutschen Öffentlichkeit, den religiösen Eigenwert kirchlicher Themen überhaupt nur wahrzunehmen, hat noch 2009 dazu geführt, das päpstliche Entgegenkommen gegenüber der Piusbruderschaft nur-politisch zu deuten. Benedikt XVI. wurde zur Unperson, weil er mit den nachkonziliaren "Schmuddelkindern" sprach. Das Motu proprio von 2007 zur überlieferten Liturgie der Kirche war jedoch nie nur als kirchendiplomatisches Entgegenkommen aufzufassen, um sozusagen die "Fußkranken der Revolution", die Nachzügler möglichst noch einzusammeln und dann umzuerziehen. Es beruhte auf lebenslanger Erfahrung mit der Liturgie, tiefer Reflexion des Konzils und es beabsichtigte, eine "Reform der Reform" einzuleiten, um allmählich die Schäden, die in Folge der Liturgiereform eintraten, zu heilen. Wir wissen nicht, ob Papst Franziskus seinen Vorgänger nicht verstanden hat. Vielleicht hat er ihn verstanden und war schon lange entschlossen, der "Hermeneutik des Bruchs" zum Siege zu verhelfen? Es wird ihm nicht gelingen, da diese für keinen Papst eine Option sein kann. Der einzige mir bekannte Fall, dass ein Papst offen einem seinerzeitigen "Modernismus" zustimmte, war die Bulle 'Summis desiderantes' von Innozenz VIII. aus dem Jahr 1484, in der er den Hexenwahn billigte. Für romanische Theologen normaler Prägung war das damals nur eine irrsinnige germanische Spinnerei, ähnlich wie heute der "Synodale Weg" eigentlich keinen Beifall jenseits der Alpen (und des Rheins) findet. Johannes XXII. neigte in Avignon zu modernen Interpretationen der "letzten Dinge", wurde aber durch seinen Nachfolger 1336 mit 'Benedictus Deus' schnellstens korrigiert. Bischöfe und Päpste müssen aus der jeweiligen Modernität auswählen und manches in die Lehre und Praxis der Kirche integrieren. Jedoch ist es denkunmöglich, dass Papst und Bischöfe den Bruch der Kirche mit ihrer Tradition lehren.

Die "Treue zum Konzil" ist in den Grundzügen, fast zwei Generationen später, dementsprechend gesamtkirchlich eine völlige Selbstverständlichkeit geworden. Nicht zur Selbstverständlichkeit kann es werden, dass die Früchte des Konzils so mager sind, dass die Ernte so schmal ausgefallen ist. Diese "Zeichen der Zeit" stellen bohrende Fragen an die Umsetzung des Konzils! In den ehemals abendländisch geprägten Regionen schreitet der Niedergang der katholischen Kirche immer schneller voran, darunter in Deutschland mit besonderem Tempo und besonderer Vehemenz. Hier wurde "das Konzil" anscheinend als Aufruf zu Anarchie, Bequemlichkeit, Völlerei oder Wollust rezipiert. Kein Wunder also, dass die famose Exzellenz Bätzing darauf verfiel, ausgerechnet Hans Küng zu rühmen, er sei vom Konzil "zutiefst" geprägt gewesen und habe sich seiner "Rezeption" gewidmet. Selten so gelacht.

In meiner Jugend lag das Konzil ungefähr zwanzig Jahre zurück. Es schien eine Epoche friedlicher Fortsetzung der zum Teil chaotischen Rezeption desselben zu beginnen. Damals beharrten etliche deutsche Kirchenleute, Religionslehrer und theologische Schriftsteller darauf, das Ereignis progressiv zu deuten. Doch verlor ihre Schule immer mehr an Zuspruch, während die "Génération Jean-Paul II" für einen neuen Anfang selbstbewusster katholischer Identität im Dialog mit der "Welt von heute" einstand. Lefebvre war für mich ein Außenseiter ohne Zukunft, aber auch Hans Küng ein Mann von gestern, der zwar reich und berühmt geworden war, der Kirche aber vor allem Schaden zugefügt hatte. Heute urteile ich über Küng härter, über Lefebvre deutlich milder. Denn der Verfall schritt so ungebremst weiter voran, dass man "vorkonziliare" Literatur wieder zu Kenntnis nehmen musste, beispielsweise die Enzyklika "Pascendi" von 1907. Im zentralen Punkt ist der Rebell von Ecône ein Mann der Kirche geblieben: Sie ist und bleibt immer dieselbe. "Semper idem", wie die Devise von Alfredo Ottaviani es sagt.

J.M. Bergoglio SJ lehnt das Konzil nicht ab. Ihm fehlt vielleicht nur das Vorverständnis. Er ist mit der griechischen Philosophie wohl wenig vertraut, aber auch nur wenig mit Thomas von Aquin und anderen theologischen Größen, wie es scheint. Manche nennen ihn wegen seiner Defizite bereits "papa haereticus". Aber solche Beschimpfungen helfen nicht weiter. Gefährlicher sind die Defizite in der Regierungskunst und die Neigung, das ihm entgegengebrachte Vertrauen zu brüskieren. Er hat wenig dafür getan, das zukünftige Verständnis des längst historischen Konzils weiter zu fördern, vielleicht weil ihm das alles zu theoretisch ist, was da in den Dokumenten steht. Kommt es ihm also auf "den Bruch" an? Der Papst erinnert mich mehr und mehr an einen alten Wehrmachtsoffizier, der in der DDR brav auf "Sozialismus" umgelernt hat, aber im Geiste die alte Uniform trägt, nicht die der "Volksarmee". Wenn die Biographie an Brüchen leidet, dann bleibt auch aus älteren Lebensphasen "was hängen". Wegen der guten Erfahrungen mit der U.S.-Besatzungsmacht in seiner Jugendzeit war Joseph Ratzinger wahrscheinlich der amerikafreundlichste Papst aller Zeiten. Bergoglio ist notorisch amerikafeindlich: "Diese Wirtschaft tötet" (nach U.S. Modell) wird wohl ein Ressentiment peronistischer Prägung sein, wiewohl die katholische Soziallehre seit jeher mit Fug und Recht auch immer Kapitalismuskritik übt. Aber man muss doch als führender Kirchenmann stets zu selbstkritischen Fragen fähig bleiben? Oder interessiert sich ein Jesuit nicht für seine Verantwortung? In das Lehrschreiben "Evangelii gaudium" soll der Papst auch Bruchstücke aus seinen Entwürfen für die angefangene Doktorarbeit eingebaut haben (EG 217-237): "Die Zeit ist stärker als der Raum..." usw. Wenn das zutrifft, dann sind es wohl die schwächsten Passagen des Textes. Wen soll denn solche Küchenphilosophie überzeugen? Benedikt XVI. blickt aktuell selbstkritisch auf seine berühmte Freiburger Rede zurück und fragt sich, ob mit dem Stichwort "Entweltlichung" sein positives Anliegen 2011 vielleicht zu negativ formuliert war. Wie gern würden wir vom aktuell herrschenden Pontifex auch einmal hören: 'Da habe ich Brücken eingerissen, anstatt Mauern einzureißen.' Altersstarrsinn jedenfalls steht keinem Papst gut zu Gesicht. Wenn er uns auf seine alten Tage wirklich dazu zwingen will, zwischen Modernismus und Tradition zu wählen, was mir immer noch unvorstellbar vorkommt, dann wird gewiss die Tradition siegen. Denn womit könnte die 'Ansammlung aller Irrtümer' jemals über die Wahrheit siegen, die von Christus her zu uns kommt, auch im jüngsten Konzil?

Vordergründig verletzt "Traditionis custodes" nur die Rechte weniger Gläubiger, einer kleinen Minderheit. Doch diese ist nicht unbeachtlich. In Rede steht, ob es persönliche liturgische Ansprüche der Getauften gibt, nicht nur der Priester. Diese zu verweigern ist zumindest "vorkonziliar" gedacht, wenn nicht sogar antikatholisch. Deshalb wird die Gesetzgebung des Papstes so vehement abgelehnt, weit über das "Lager der Tradition" hinaus. Denn die "alte Messe" war doch längst dem Schicksal entronnen, nur mehr Markenzeichen einer konzilskritischen Partei zu sein. Benedikt XVI. hat 2007 auch ein Welterbe der abendländischen Kultur gerettet, im Interesse des Konzils. Dieser Fortschritt wird sich durchsetzen, nicht aber der reaktionäre Gegenangriff. Insoweit ist die Zeit tatsächlich stärker als der Raum.




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