25. September 2021 in Aktuelles
Die "schwarze Legende" vom Schweigen Pius' XII. wird von einer anderen Legende genährt: Dass Pacelli nichts gegen den Nationalsozialismus unternommen hätte. Auch hier sagen die Fakten etwas anderes. Von Andrea Gagliarducci
Vatikan (kath.net/ACI Stampa)
Die schwarze Legende über das angebliche Schweigen von Pius XII. geht auf die Zeit vor dem Pontifikat zurück. Das war, als Eugenio Pacelli Apostolischer Nuntius in Deutschland war, genau in den Jahren des Aufstiegs des Nationalsozialismus. Und anstatt gegen eine Diktatur zu protestieren, die sich als eine Diktatur mit all ihrer Brutalität, einschließlich Antisemitismus, entpuppte, wäre Pacelli untätig geblieben. Er soll sogar 1933, als er Kardinalstaatssekretär des Vatikans war, ein Konkordat mit Deutschland gebilligt haben, das fast ein "Freibrief" für den Nationalsozialismus war. Aber ist das wirklich der Fall?
Die Fakten sprechen dagegen, und die Nachforschungen von Diakon Dominiek Oversteyns, der sich auf Primärquellen stützt, zeigen, dass Nuntius Pacelli 326 Mal gegen den Nationalsozialismus interveniert hat.[1] Doch eine Rede verdient es besonders, aufmerksam gelesen zu werden: Es handelt sich um eine Rede vom 1. September 1929, vier Jahre vor Hitlers Machtergreifung, in der der damalige Nuntius Pacelli die nationalsozialistische Partei 44 Mal kritisierte.[2]
Das Programm der nationalsozialistischen Partei, die drei Wochen zuvor, vom 1. bis 4. August 1929, ihren vierten Parteitag in Nürnberg abgehalten hatte, wurde in Frage gestellt. Auf diesem Kongress begann Hitlers Popularität zu wachsen, so dass die Partei von da an bis 1933 bei jeder nationalen Wahl durchschnittlich 11 % mehr Stimmen erhielt.
Eugenio Pacelli erkannte die Gefahr sofort und brachte seine Besorgnis in dieser Rede zum Ausdruck, in der er das Wahlprogramm Hitlers scharf kritisierte. Dies war nicht das einzige Mal. Vom 4. August 1929 bis zum 10. Dezember desselben Jahres prangerte Nuntius Pacelli insgesamt 70 Mal Hitlers Person und sein NSDAP-Programm an. Von 1923 bis 1929, den Jahren seiner Erfahrung als "Botschafter" des Papstes in Deutschland, intervenierte Pacelli 326 Mal gegen Hitler und das Nazi-Programm. Diese Interventionen finden sich in 40 Reden und acht Dokumenten wieder.
Gehen wir nun kurz auf einige Beispiele für die Kritik an Hitler und seinem Parteiprogramm ein. Wir überlassen es den Historikern und Analytikern, sie zwischen den Falten der diplomatischen Sprache näher zu untersuchen, die – insbesondere die päpstliche Sprache – nicht immer direkt ist, was aber nicht heißt, dass sie nicht Situationen anprangert.
Schon zu Beginn seiner Rede kritisierte Pius XII. den Punkt 24 des nationalsozialistischen Programms, in dem Hitler "Freiheit für alle religiösen Bekenntnisse im Staate, soweit sie den Bestand des Staates nicht gefährden und das germanische Empfinden nicht verletzen" forderte.
Nuntius Pacelli kritisierte auf höchst diplomatische Weise. Er begrüßte die Katholiken als: "allen unter ihnen bewährten Führern hier versammelten Glaubensgenossen". Indem Pacelli die Katholiken als "Glaubensgenossen" bezeichnete, kritisierte er direkt Punkt 24 des Programms der NSDAP, in dem Hitler zusammenfassend betonte, dass er über der katholischen Kirche und über Gott stehe. Aber jeder gläubige Katholik weiß, dass Gott über Hitler steht! 12 Mal wird Pacelli in seiner Rede den Programmpunkt 24 kritisieren.
Mit der Verwendung des Begriffs "Glaubensgenossen " übte Nuntius Pacelli direkte Kritik an Punkt 4 des NSDAP-Programms, in dem Hitler von "Volksgenosse" als der einzigen Art von Mitbürgern spricht, die das Recht haben, in seinem Reich zu leben. Kurz gesagt, Pacelli stellt die Katholiken ironischerweise als "Glaubensgenossen" dar, im Gegensatz zu den „Volksgenossen“ von Hitler. Viermal wird Nuntius Pacelli in dieser Rede diesen Programmpunkt kritisieren.
Durch die Verwendung von "bewährten Führern" - Führer im Plural! - Pacelli kritisiert Hitler direkt und auf doppelte Weise: einerseits, wo Hitler sich selbst zum "einzigen Führer" erklärt hatte, weist Pacelli darauf hin, dass es in der katholischen Kirche "viele Führer" gibt, und stellt damit Hitlers Glaubwürdigkeit direkt in Frage. Andererseits spricht Nuntius Pacelli von "bewährten Führern" in der katholischen Kirche und kritisiert damit Hitler als "unerfahrenen" Führer, oder als eine Gefahr für alle und den Staat, das Land, Europa und die Welt! In seinen 40 öffentlichen Reden kritisiert Nuntius Pacelli 30 Mal Hitler als "Führer".
In Punkt 25 des nationalsozialistischen Parteiprogramms wird betont, dass "das Gemeinwohl Vorrang vor dem Partikularen hat. Um dieses (Programm) zu verwirklichen, fordern wir die Verwirklichung einer starken Zentralmacht, die absolute Autorität des Zentralkomitees über ganz Deutschland und seine Organe".
In seiner Rede distanzierte sich Nuntius Pacelli entschieden von dieser Position. Er sagte: "Der Staat ist uns das umhegte Land, in dem die einzelnen und die Familien friedlich ihre Häuser bauen, er ist berufen, ihnen in der Schaffung eines menschenwürdigen, in jeder – auch in religiöser – Hinsicht glücklichen Diesseitsdaseins helfend zur Seite zu stehen. Deshalb ist den Katholiken Dienst am Volke und Dienst am Staate ein heiliges und unverbrüchliches Gebot Gottes. Wenn sie die Allgewalt des Staates, die Staatswillkür, unerbittlich und unnachsichtig verneinen und der Staatsmacht ihre gottgesetzten Grenzen in Erinnerung rufen, so umschließt die katholische Auffassung vom Staat doch zwei fundamentale Lebenselemente.".
In Punkt 19 des Programms der Nationalsozialistischen Partei wurde die Ablösung des römischen Rechts durch das deutsche Gewohnheitsrecht gefordert. In der Ansprache betonte Nuntius Pacelli statt-dessen: "In dieser Zeitspanne entscheidungsvoller Entwicklung konnte mein Wollen und Zielen nur sein, nach dem bescheidenen Maße meines schwachen Vermögens und in dem Rahmen, den mein Amt und meine Aufgabe mir wiesen, den schöpferischen Werten und Kräften, die in unserem katholischen Glauben und unserer katholischen Lebensgestaltung für den Aufbau der Staaten, für die Gesundung und das wahre Glück der Völker beschlossen sind, in den veränderten Rechtsverhältnissen der Gegenwart Wege zu ebnen und Bahnen freizumachen."
Und in Punkt 20 des nationalsozialistischen Programms heißt es: "Um allen fähigen und fleißigen Deutschen den Zugang zu höherer Bildung und damit zu Führungspositionen zu ermöglichen, muss der Staat für eine grundlegende Umstrukturierung des Schulsystems sorgen. Die Lehrpläne aller Bildungseinrichtungen müssen an die Erfordernisse des praktischen Lebens angepasst werden. Von den ersten Tagen der autonomen intellektuellen Entwicklung an muss das Ziel der Schule sein, einen Sinn für den Staat zu vermitteln (staatsbürgerliche Erziehung)."
Pacelli konnte dem nicht zustimmen. Er rief die Katholiken auf: "Sie kennen die drohenden Gefahren, die sich hier vor Ihrem Volke wie vor fast allen Kulturstaaten türmen, Gefahren, die sich beinahe noch dunkler und unheilvoller auftun als das, was in den letzten Jahrzehnten über die Völker dahingegangen ist. Ich rufe Ihnen zu: Halten Sie sich bereit, dem unwandelbaren Naturgesetz des Schöpfers, so wie die Kirche es kündet, und der Gemeinschaft gegenüber Ihrer Pflicht zu tun. In Ihrem Glauben sind die heiligen Quellen gefasst, aus denen Sie Kraft zur Erfüllung des Gottesgebotes, für die natürliche und übernatürliche Funktion des christlichen Familienlebens schöpfen können. Vergessen Sie nicht, dass hier Ihre große Aufgabe liegt."
Pacellis Appell war ein Aufruf zur christlichen Mobilisierung gegen den Nazismus, der bereits antichristlich und heidnisch geprägt war. Pacelli hatte unter anderem miterlebt, wie der Heilige Stuhl seit 1923 von der nationalsozialistischen Partei angegriffen wurde. Ein Schreiben Pacellis an Kardinal Pietro Gasparri, Staatssekretär, lautet: "... einige Presseorgane, sowohl deutschnationale als auch sozialistische, haben in letzter Zeit den Heiligen Stuhl angegriffen, als ob er sich an separatistischen Bewegungen in Bayern beteiligt hätte. Die katholische Zeitung Bayerischer Kurier Nr. 86 vom 27. [März] hat die törichten Anschuldigungen energisch zurückgewiesen, und ich habe es meinerseits nicht versäumt, dieser Regierung aus guten Gründen einige mündliche und vertrauliche Auskünfte zu erteilen 1) sehr korrekte Auskünfte, die der Heilige Stuhl selbst anlässlich des Besuchs (von dem die Regierung selbst schon gehört hatte) des genannten Professors Fuchs beim Apostolischen Nuntius in Paris erteilt hat."
Insgesamt protestierte Nuntius Pacelli vom 14. November 1923 bis zum 12. Dezember 1929, seinem letzten Tag in Deutschland, in 40 Reden, 8 Dokumenten und einem Artikel 326 Mal gegen Hitler und das Programm der NSDAP.
Darüber hinaus hatte Pacelli die Entwicklung der einzelnen Parteien in Deutschland sorgfältig beobachtet, um die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, ob diese Parteien für das Konkordat stimmen würden, das der Heilige Stuhl mit Bayern abschließen wollte. So wurde Nuntius Pacelli bereits 1922 auf die Existenz der NSDAP aufmerksam, die er als eine Art faschistische Partei unter der Führung Hitlers ansah.
Im Bewusstsein, dass die Ideologie der neuen Partei für die Gesellschaft und die katholische Kirche gefährlich war, reagierte Nuntius Pacelli sehr schnell, mit Interventionen innerhalb weniger Wochen, auf die neuen Entwicklungen Hitlers und seiner Partei, der NSDAP. Für den Zeitraum von 1924 bis 1929 gibt es mindestens 20 Beispiele, die diesen Anti-Nazi-Aktivismus Pacellis dokumentieren.
Im Gegensatz zu Hitlers Papst war Pacelli von Anfang an mit der Nazi-Partei verfeindet.
[1] Dominiek Oversteyns, http://www.papapioxii.it/wp-content/uploads/2020/06/Fig.-3.14.2.-Hitler-contestato-326-volte-dal-Nunzio-Pacelli-in-Germani-dal-14-novembre-1923-fino-al-12-dicembre-1929.pdf.
[2] Dominiek Oversteyns, http://www.papapioxii.it/wp-content/uploads/2020/06/Un-esempio-Le-44-contestazioni-e-critiche-di-Eugenio-Pacelli-contro-Hitler-e-il-programma-del-NSDAP-che-il-nunzio-fece-nel-suo-discorso-XLII-del-1-settembre-1929.pdf.
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