„Das Gute in dieser ‚neuen Sexualmoral‘ ist nicht neu und das Neue an ihr ist nicht gut“

1. September 2021 in Kommentar


Die Sexualmoral des synodalen Weges in der Kritik – Überlegungen zu Bernhard Meusers Buch „Freie Liebe. Über neue Sexualmoral“, Basel 2020, eine kritische Replik auf Positionierungen des synodalen Weges. Gastbeitrag von Helmut Müller


Köln (kath.net) Was heißt gut? Hedonē – gut ist, was mir Genuss verschafft oder aretē – gut ist, was vollendet ist? Das wurde schon in der griechischen Antike thematisiert. Bernhard Meuser, der kürzlich auch als Referent in Köln vor Kardinal Woelki und einem internationalen Priesterkreis (s. kath.net vom 28. 8.) seine Kritik referieren konnte, votiert für aretē (Tugend). Hedonē (Lust) sollte an aretē orientiert werden (Vgl. insbesondere 270 – 274). Meuser legt hier keine „neue Sexualmoral“ vor, sondern beurteilt die „Neue Sexualmoral“ des synodalen Weges nach Schockenhoff, Goertz, Breitsameter u. a. kritisch. Er vertritt eine quasi „uralte“ Moral. Wie das? Warum sollte man das Buch von Bernhard Meuser überhaupt aufschlagen – was ich dringend und nachdrücklich empfehle – wenn das „Neue“ so rigoros kritisiert wird?

Wäre Robert Spaemann nicht 2018 gestorben, hätte er auf diese „neue Sexualmoral“ ähnlich wie Bernhard Meuser geantwortet. In Anbetracht dessen, dass wir in der Beantwortung der Frage nach dem guten Leben laut Spaemann (Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1990) seit 2.400 Jahren keinen Schritt weitergekommen sind, konnte er sagen und sogar sein Buch über Ethik ganz lapidar beginnen: „Dieser Versuch über Ethik enthält hoffentlich nichts grundsätzlich Neues.“

Ist das Buch damit schon von vornherein ein alter Hut, fragt man sich? Hätten Spaemann und auch Meuser nicht besser einen PR-Mann zu Rate ziehen sollen, bevor sie ihre Bücher schrieben? Es ist doch gewiss nicht förderlich für den Verkaufserfolg eines Buches gleich im ersten Satz anzukündigen, dass man nichts Neues zu sagen hätte. Spaemann setzt vielmehr noch eins drauf und ergänzt sogar „hoffentlich nichts grundsätzlich Neues“.

Wer Spaemann kennt, weiß, dass er aufgrund seiner Brillanz gar keinen PR Mann zu konsultieren braucht und dieser Beginn nur eine gezielte Provokation sein kann, die eine Verblüffung des Lesers bewirken soll. Er fährt denn auch mit einer weiteren Provokation fort: „Wo es um Fragen des richtigen Lebens geht, könnte nur Falsches wirklich neu sein.“ Auch hier wieder ein Schlag ins Gesicht aller Neuerer. Aber im nächsten Satz wird Spaemann versöhnlicher: „Und doch muss das, was Menschen immer schon wissen, von Zeit zu Zeit neu gedacht werden, weil die realen Bedingungen des Lebens und die zur Verfügung stehenden Begriffe für unsere Selbstverständigung sich wandeln.“

 Genau das macht auch Bernhard Meuser: Er unterscheidet zwischen einer uralten und einer alten Moral (265 – 285), der Handbuchmoral der 50er Jahre, die wahre Stilblüten hervor gebracht hat. Dagegen kann die Moral, auf die er sich bezieht, mit Fug und Recht als uralt bezeichnet werden: „Die Herausforderung, der sich die ethische Reflexion stellt, ist seit dem 5. Jahrhundert vor Christus im Grunde geblieben, so daß man Anlaß hat, von einer anthropologischen Konstante zu sprechen, zumindest von einer Konstante in allen Hochkulturen.“ (Spaemann)

Und da befinden sich beide sogar noch in guter Gesellschaft eines weiteren sehr alten, aber noch lebenden bedeutenden Denkers, nämlich Jürgen Habermas. Habermas hat sein Alterswerk nämlich mit einem Denken von der „Achsenzeit“ (Karl Jaspers) her begonnen und sich von dieser Zeit nicht abgesetzt wie ausgebrannte Raketenstufen abgestoßen werden, sondern nach dem Prinzip der biologischen Evolution – Draufsatteln – weitergedacht. Er, der nachmetaphysische Denker schlechthin, warnt vor Selbstsäkularisationen der Religionen(!), „dass Religionsgemeinschaften ohne den Kern einer liturgischen Praxis kaum Überlebenschancen haben. Diese fremd gewordene Praxis hält, auch wenn sie nur als ein archaischer Stachel im Fleisch der Moderne sitzt, einstweilen für die säkulare Umgebung die Erinnerung an ein starkes Transzendenzbewusstsein wach“ (Auch eine Geschichte der Philosophie Band 1 Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Berlin 2019, 200). Das sollte vor allen Dingen Goertz und Breitsameter (Vom Vorrang der Liebe. Zeitenwende für die katholische Sexualmoral, Freiburg 2020) nachdenklich machen, wenn die „neuen Fundierungen“ (111 – 148) ihrer Sexualmoral keine theologischen mehr sind, sondern nur noch philosophische und auf Kant basieren.

Wenn also die ethische Diskussion seit dem 5. Jahrhundert vor Christus nach Spaemann in den wesentlichen Fragen nicht weiter gekommen ist, kann gefragt werden, wie das ethische Problem damals formuliert wurde. Formal besteht es in der Frage nach der eudaimonia, wie kann menschliches Leben gelingen, bzw. glücken? Inhaltlich war man damals so zerstritten wie heute. Die einen versuchten eudaimonia durch aretē (gut ist das, was vollendet ist) zu erreichen, die anderen durch hedonē, (gut ist das, was mir Genuss verschafft).

Ich versuche einmal die großen Linien zu ziehen: Wie in der klassischen Antike haben sich Bernhard Meuser und Robert Spaemann – vor die Wahl gestellt – hedonē oder aretē –- für aretē entschieden. Vor Jahren tat das sogar auch noch Eberhard Schockenhoff (zuletzt 2014 in der 2. überarbeiteten Auflage seiner Grundlegung der Ethik). In der ersten Auflage seiner Ethik waren im Sachregister noch für Tugend/Lust 31/13 Einträge, in der 2. Auflage 25/9 Einträge zu zählen, in seiner Sexualethik Die Kunst zu lieben von 2021 konnten im Sachregister zu Tugend kein einziger Eintrag, aber zu Libido/Lust 24 Einträge gezählt werden. Wenn man die Kritik Schockenhoffs in Lingen oder die von Goertz/Breitsameter liest, gewinnt man den Eindruck, dass Tugend vorrangig keine Rolle mehr spielt. Für Schockenhoff gilt, dass er offenbar den Suchtcharakter von Lust unterschätzt (Vgl. Meuser 211, 218), die Einbindung von Begehren und Lust fragmentiert (Meuser, 228 - 236) und in der Theologie des Leibes die Beziehung von hedonē zu aretē nur bruchstückhaft kennt und selbst Freuds Diktum Kultur ist Triebverzicht in seiner Geltung weitgehend ignoriert. Bei Goertz/Breitsameter gewinnt man gar den Eindruck Faustens vier alte Weiber Mangel, Schuld, Sorge und Not lagerten ganz besonders am Lebensweg derer, die sich nach der alten Moral richten, während man mit der neuen Sexualmoral gleichsam mit Walter Scheel Hoch auf dem gelben Wagen, und jungen Frauen im Reigen, von allen Zwängen frei, durch die Lande fährt. Denn „Ehe im traditionellem Verständnis“ käme „einem institutionalisierte[n] Misstrauen“ gleich (Goertz/Breitsameter, 147). Entscheidet man sich aber für die neue Moral, in der das Begehren stark gemacht wird, also akzentuiert für hedonē, habe ich den Eindruck, von der Institution Ehe befreit, würde die Liebe im lustvollen einander Begehren ohne moralischen Zeigefinger genießbar. Es genüge, sie als verbindlich zu begreifen. (vgl. Meuser, Anm. 190, S. 404) Meines Erachtens gibt es nur eine Hürde: Irgendwie müssen die Liebenden fähig sein, Kant zu verstehen, damit sie dem hohen Anspruch, ihre Liebe genießen zu können, ohne den Schutz der Institution Ehe oder denjenigen moralischer Normen (Vgl. dazu Goertz/Breitsameter 145 – 147) gerecht werden.

Auf Kant und in diesem Zusammenhang auch auf Magnus Striet wies der Bonner Dogmatiker Karl Heinz Menke in seinem Kölner Vortrag hin, in dem erkennbar wurde, dass Striet den normativen Bezug auf Güter durch einen m. E. unabschließbaren „Reflexionszirkel“ ersetzt. Sollte Moraltheologie in solchen relativistischen Zirkeln der praktischen Vernunft enden, muss man sich fragen, was von der „Alternativkultur des Christentums“ (Kardinal Woelki) noch übrig geblieben ist: Wo ist die Wucht und Dynamik, die nach Henry Chadwick das Christentum in die damalige Welt brachte (vgl. Meuser 107)? Hat das Christentum etwa bloß vor Kant schon an die Vernunft appelliert? Ist es das, was der Nazarener in die Welt bringen wollte? Kommen deshalb so wenig Bezüge auf das Neue Testament vor, weil Goertz/Breitsameter im Fahrwasser von Magnus Striet zu verorten sind? Striet behauptet nämlich in einem Vortrag an der Katholischen Akademie in Freiburg am 27. 7. 21 Demokratische Verpflichtungen aus dem Evangelium, das Evangelium sei sowieso nur in Interpretationen greifbar und die klügste und neueste (!) scheint die von Striet selbst zu sein, der mittlerweile sogar auf dem Weg von Kant zu Nietzsche ist. Ist das zu weit gegriffen, wenn da der Gedanke ins Spiel kommt, das Christentum habe dem Eros Gift zu trinken gegeben (Nietzsche)? Fragen über Fragen. Aber ich werde den Eindruck nicht los, dass mit der neuen Sexualmoral ein nackter Kaiser mit einer dünnen Moral nur notdürftig bekleidet wird. Hätte auch Wladimir Solowjew vielleicht wie folgt auf die neue Sexualmoral interveniert: „…an sich selbst als den Quell des Guten glauben, ist Wahnsinn. An den göttlichen Quell des Guten glauben und zu ihm beten, indem man ihm den eigenen Willen in allem hingibt, ist wahre Weisheit und der Anfang der sittlichen Vollkommenheit“? Auch der Münsteraner Dogmatiker Thomas Möllenbeck machte mit Bezug auf C. S. Lewis auf der Kölner Tagung darauf aufmerksam, dass es keine unbedingte Moral mehr geben könne, wenn es kein natürliches „gut“ mehr gibt, das am höchsten gut Maß nimmt.

Eine Kritik an der Kritik Meusers übte der Brixener Moraltheologe Martin M. Lintner in seiner Rezension Katholische Sexualmoral im Umbruch? in der Herderkorrespondenz (5/21). Seine Kritik wird aber erst verständlich in der hier skizzierten Paradigmenverschiebung von aretē zu hedonē: Alle Sachverhalte in „uralter“ und „neuer“ Moral kommen vor, werden aber in unterschiedlichen Akzentuierungen gelesen. Lintner wirft Meuser vor, die neue sexuelle Moral nicht zu verstehen und zu verkürzen. Mir scheint aber umgekehrt der Fall zu sein, dass die Theologie des Leibes, die Meuser explizit empfiehlt (285 – 292) und auch Stephan Kampowski in seinem Kölner Vortrag thematisiert, nicht verstanden wird. Der Freiburger Theologe Stefan Endriß zeigt in seinem Werk Ehe als Schule der Heiligkeit (St. Ottilien 2019) penibel auf, dass die Theologie des Leibes vornehmlich von deutschen Theologen unverstanden rezipiert wird und hat deshalb auch das Buch eines spanischen Philosophen ins Deutsche übersetzt (Juan Manuel Burgos,Karol Wojtyla verstehen. Eine Einführung in seine Philosophie, Berlin 2020). Goertz behauptet in der Vorstellung seines Buches, das Anliegen von Endriß negativ bestätigend: „Die sexuellen Freuden eines Liebespaares waren der Tradition verdächtig. Man sollte nicht vergessen, dass die kirchliche Moral von Männern formuliert wurde, die ihr geistliches Leben durch Sexualität bedroht sahen […] Und letztlich steht der Vorrang der Natur auch hinter der in dieser Frage rigorosen Morallehre von Johannes Paul II.“ Goertz macht einen unüberbrückbaren Schnitt zwischen Person und Natur bei Johannes Paul aus. Der Körper aber bei Johannes Paul ist nicht bloß lustvolle Oberfläche, sondern als Leib auch Tiefe und wird durch Personsein (personare = durchtönen) von Kopf bis Fuß durchdrungen. Die Erfahrung von Lust bleibt dann nicht bloß in einer Gefühlsschicht hängen. Nach Endriß bedeutet Erfahrung von Lust, ein „an den geliebten Menschen [gebunden sein]. Sie [die Lust] will nicht durch irgendeinen austauschbaren Sexualpartner befriedigt werden, sondern sehnt sich nach dem geliebten Menschen.“ (239) In der Schule der Heiligkeit Johannes Pauls II. wird gerade das gelehrt, wie hedonē – das Gute, das mir Lust verschafft in die aretē, das Gute, das vollendet ist – wider alle zeitgenössischen Vorurteile integriert werden kann. Tausende Paare weltweit bemühen sich nach einer Theologie des Leibes, lustvolles Begehren in der dieser Theologie eigenen aretē zu leben, so Achim Neuhaus, ein weiterer Referent der Kölner Tagung. Mir scheint, die neue Moral dagegen will das sexuelle Leben von Millionen Paaren – ohne dass diesen dieselbe bekannt ist - mit einer dürftigen Moral absegnen.

Meuser, Spaemann und wie Endriß zeigt, auch Johannes Paul entscheiden sich vorrangig für aretē und dennoch nicht gegen hedonē. Dieser Entscheid bedeutet dann allerdings nicht, tugendhaft leben hieße jegliches Begehren vermeiden um irgendwie ein „Tugendbold“ (Meuser, 271) zu werden, nein, nur die Akzente werden anders gesetzt.

Abschließend kann gesagt werden: Alle genannten Denker haben etwas gegen das atemlose Hecheln der modernen Moraltheologie. Als eifriger Zuhörer bei Franz Böckles Moraltheologievorlesungen (1977 – 1982) kann ich die Wut und den Zorn Böckles bezeugen, wenn der damalige Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Höffner, Spaemann beauftragt hatte, gegen die Neuerungen der damaligen Moraltheologie („besser und schlimmer“ statt „gut und böse“) Stellung zu nehmen. In gleicher Weise kritisiert Bernhard Meuser die Enttheologisierung der heutigen Moraltheologie (132, 403f) und die Entteleogisierung der Anthropologie (43 – 48). Und Jürgen Habermas kritisiert die gegenwärtige Theologie insgesamt: „Im Extremfall spitzt die theologische Aufklärung das ‚religiöse Weltverhältnis’ auf den Bezug zu einem anonymen ‚Unbedingten’ zu, das sich vom ‚Gott der Philosophen’ beispielsweise von Jaspers ‚Umgreifenden’ kaum mehr unterscheidet.“ (191)

Der große Wurf Bernhard Meusers – dazu noch in einem lesbaren Stil – ist, dass er mutig wieder große Traditionen aufgegriffen hat, sich gegen ihre Verzwergung, vor allem im 20. Jahrhundert wendet und die Anbiederung der neuen Moral erkannt hat, auch wenn sie mit so großen Namen wie Eberhard Schockenhoff verbunden ist. Es ist schade, dass auch er sich in dem kaum mehr als neomarxistisch erkennbaren Narrativ – grün oder bunt getarnt – verfangen hat. In diesem Narrativ werden ständig neue Proletariate entdeckt, nach dem die Arbeiterschaft schon vor Jahren verloren gegangen ist. Als neuestes Proletariat bietet sich die LGBTQ Community an, eine bunte Ansammlung von Lebenswirklichkeiten, aus denen sich keine neuen Beziehungskosmen der Liebe begründen lassen, die aus sich fruchtbar sind. Es ist ein Armutszeugnis gegenwärtiger Moraltheologie, dass diese Lebenswirklichkeiten gleichrangig neben Liebende gestellt werden, die generativ sein können und Fruchtbarkeit anstreben. Es ist sozialethisch prekär, wenn eine Gesellschaft ihre Überalterung so gleichgültig hinnimmt und es gar nicht begreift, dass es sich um eine Unterjüngung handelt. Das sind die Folgen, wenn immer mehr Begehren und Lust eine Moral generieren und nicht Liebe und Verantwortung (Vgl. dazu etwa „Liebe und Verantwortung: Eine ethische Studie von Karol Wojtyla“) das Fundament bilden. Die neue Moral hat die Weichen falsch gestellt. Macht man das Begehren stärker, wie Schockenhoff in Lingen, segmentiert und relativiert gleichzeitig das Lieben, wird Liebe allzu leicht auf Libido geschrumpft, auch wenn man das gar nicht möchte. Das Verdienst Bernhard Meusers ist es wortgewaltig und engagiert darauf hingewiesen zu haben: Das Neue an der „neuen Sexualmoral“ ist nicht gut und das Gute an ihr nicht neu.

kath.net-Buchtipp

Freie Liebe - Über neue Sexualmoral
Von Bernhard Meuser
Taschenbuch, 432 Seiten
2020 Fontis - Brunnen Basel
ISBN 978-3-03848-203-1
Preis Österreich: 20.60 EUR


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