Kardinal Soo-Jung beim Eucharistischen Kongress: „Wir sind zu Feinden für unsere Nächsten geworden“

20. September 2021 in Weltkirche


Kardinal Soo-Jung von Seoul gibtin Budapest Zeugnis über Südkoreas junge Kirche und die moralische Tragödie des Bruderkriegs mit Nordkorea.


Budapest/Seoul (kath.net/mk) Auf dem Eucharistischen Weltkongress in Budapest gab Kardinal Andrew Yeom Soo-jung, der Erzbischof von Seoul, ein bewegendes Zeugnis über die Kirche in Süd- und Nordkorea. Er sprach über die Anfänge der noch jungen christlichen Gemeinschaft, die in China liegen, und über die in mehreren Wellen stattfindenden Christenverfolgungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die tiefen Narben des schrecklichen Koreakriegs, die Leere, die der enorme wirtschaftliche Aufschwung in den Herzen der Menschen hinterlassen hat und ein individualistisches Denken samt lebensfeindlicher Mentalität machen es der katholischen Kirche in Südkorea auch heute nicht leicht, Wege zur Neuevangelisierung zu finden. Die Bemühungen um Aussöhnung mit der benachbarten kommunistischen Diktatur Nordkoreas sind ein zentraler Teil ihres Wirkens. Lesen Sie hier das (gekürzte) Zeugnis des Kardinals:

„Der Anfang der koreanischen Kirche geht zurück auf das 18. Jahrhundert; damals war die seit dem 14. Jahrhundert herrschende Dynastie in einer großen Krise durch die Korruption unter den Eliten und die extreme Armut der einfachen Leute. Die Intellektuellen suchten einen Ausweg in der Erneuerung des Konfuzianismus, der damals die Staatsreligion war.
In diesem Klima der Erneuerung kam eine Gruppe von Studenten in den Besitz eines katholischen Katechismus aus China, von einem Jesuiten ins Chinesische übersetzt. Die Studenten erkannten in diesen Schriften die Wahrheit über Mensch und Schöpfung; ihr Leben änderte sich von diesem Moment an, und sie wuchsen in der Kenntnis Christi und seiner Kirche.

Die ersten Christen hatten vier schreckliche Verfolgungen zwischen 1801 und 1867 zu erleiden, in denen offiziell mehr als 10.000 getötet wurden. Sie waren zu großen Opfern bereit und gaben ihr Eigentum und ihren Ruf auf, weil sie wussten, dass Christus ihr wahrer Schatz war. Da sie sogar von ihren Familien und Freunden abgelehnt wurden, mussten sie verborgen in den Bergen ein entbehrungsreiches und unbequemes Leben bestreiten. Jahrelang lebten die Christen dort zusammen, sogar die Heiden kamen mitunter zu ihnen, weil sie wussten, dass man dort nicht Hunger litt. In diesen Dörfern konnten die Christen die strengen konfuzianischen Klassenunterschiede überwinden. Darüber hinaus herrschte bei ihnen die Gleichwertigkeit von Mann und Frau, undenkbar in der übrigen stark männerzentrierten und autoritären konfuzianischen Gesellschaft.
 
1886 erhielt die Kirche, dank einem Vertrag zwischen Korea und Frankreich, die Kultusfreiheit. Mit der japanischen Besetzung zwischen 1910 und 1945 und dem Koreakrieg von 1950-1953 folgten düstere Zeiten, auch für die Christen, von denen viele in der kommunistischen Verfolgung zu Märtyrern wurden. Als ab 1960 in Südkorea das Militär regierte, konnte die kleine, junge Kirche den Demokratisierungsprozess vorantreiben. Der Krieg hatte aber in unserem Land tiefe Narben hinterlassen: Tausende Familien waren gegen ihren Willen durch die Grenze zwischen Nord und Süd getrennt worden, und sie wissen oft bis heute nicht, was mit ihren Angehörigen geschehen ist. Der ideologische Konflikt hat Misstrauen und Groll bis hinein in die Familien gesät, wir sind zu Feinden für unsere Nächsten geworden.

Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zum Frieden ist das Gebet. Deshalb versammeln wir uns seit 26 Jahren jeden Dienstag in der Kathedrale von Seoul und beten für die Versöhnung und die Einheit des koreanischen Volkes und die ‚Kirche des Schweigens‘ von Nordkorea, deren Hirte ich bin. Wir haben auch die Gläubigen gebeten, für eine der 57 Pfarrkirchen in Nordkorea zu beten, die vor dem Krieg existiert haben. Außerdem habe ich letztes Jahr die Diözese von Pjöngjang und ganz Nordkorea der Muttergottes von Fatima geweiht.

Heute machen die Katholiken ungefähr 10 % der südkoreanischen Bevölkerung aus. Der Krieg hat in den Herzen der Koreaner auch eine große Leere hinterlassen. Es gibt nach so viel Tod und Grausamkeit keine Sicherheit mehr, keine Werte, die es zu verteidigen gilt. Das Volk hat alle Kraft in den Wiederaufbau des Landes investiert, mit Erfolg: in wenigen Jahren gab es einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Aber dieser ‚Stern‘ war nicht der wahre. Unsere Gesellschaft ist höchst individualistisch geworden, eine ‚Ellbogenmentalität‘ hat sich breitgemacht. Wenn jemand versagt und nicht mehr mithalten kann, ist der Selbstmord oft die Konsequenz. Die Globalisierung hat auch unsere moralischen Prinzipien, etwa den Gehorsam oder den Respekt gegenüber den Alten umgestoßen. Die Freiheit wird so verstanden, dass der Mensch der einzige Architekt seines eigenen Lebens ist. Die Befriedigung der eigenen Wünsche ist zum Lebensziel geworden.
Ein Slogan im Jahr 1961 war: ‚Nicht mit vielen Kindern leiden, sondern mit wenigen Wohlstand haben.‘ Diese lebensfeindliche Mentalität hat heute zu der katastrophalen Geburtenrate von 0,84 geführt; Scheidungen, Abtreibungen und Euthanasie haben enorm zugenommen. Die Verbreitung des Internets in der Bevölkerung liegt bei einem beträchtlichen Wert von 91,8 %. Die neuen Kommunikationsmittel sind dann ein Reichtum, wenn sie richtig verwendet werden; denn von enormen wirtschaftlichen Interessen regiert, unterscheiden sie nicht zwischen dem, was den Menschen aufbaut, und dem, was ihn zerstört.

Es ist daher notwendig, Gott um Hilfe zu bitten, um die Zeichen der Zeit zu erkennen und den Weg zur gebotenen Neuevangelisierung zu finden. Zu dieser Erkenntnis ist Demut notwendig. Und das Wissen darum, dass, wie Papst Benedikt gesagt hat, am Beginn des Christseins keine ethische Entscheidung oder große Idee liegt, sondern die Begegnung mit einer Person, die dem Leben einen Horizont gibt.“

Archivfoto Kardinal Andrew Yeom Soo-jung (c) Erzdiözese Seoul


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