1. Oktober 2021 in Chronik
15 Jahre verbrachte der ungarische Primas Joszef Mindszenty (1892-1975), von Kommunisten isoliert, in US-Botschaft/Budapest - Ab 1963 erhielt er Besuche des Wiener Kardinals König. Blick in wenig bekannte Aufzeichnungen - Von Georg Pulling
Wien (kath.net/KAP) Vor 50 Jahren, am 28. September 1971, hat der damalige Primas von Ungarn, Kardinal Joszef Mindszenty (1892-1975), schweren Herzens seinen Zufluchtsort in der amerikanischen Gesandtschaft in Budapest verlassen und sich ins Exil nach Rom bzw. Wien begeben. Annemarie Fenzl, Leiterin des Kardinal König-Archivs in Wien, hat in diesem Zusammenhang gegenüber Kathpress auf die jahrelange freundschaftliche und zugleich höchst komplexe und nicht immer einfache Beziehung von Kardinal König und Kardinal Mindszenty (Archivfoto von 1948) aufmerksam gemacht - und dabei auch aus einigen bislang kaum bekannten Dokumenten und mehr als 50 Jahre alten Kathpress-Meldungen zitiert.
1944 hatte Papst Pius XII. Mindszenty zum Bischof von Veszprem ernannt. Gemeinsam mit anderen Bischöfen protestierte dieser gegen den Krieg und die Judenverfolgung. Ungarns Faschisten ("Pfeilkreuzler") verhafteten ihn und kerkerten ihn im berüchtigten Zuchthaus von Sopronköhida ein.
Im September 1945 machte der Papst Mindszenty zum Erzbischof von Esztergom und Primas von Ungarn und im Februar 1946 zum Kardinal. Sein unerschrockenes Eintreten für die Rechte der Kirche brachte ihn in immer stärkeren Gegensatz zu den Kommunisten. Zu Weihnachten 1948 wurde der Primas verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Beim Volksaufstand 1956 kam Mindszenty frei und fand dann nach der Niederschlagung der Revolution durch sowjetische Truppen Zuflucht in der US-Gesandtschaft in Budapest, wo er Asyl erhielt. Für die kommenden 15 Jahre lebte er dort.
Im Zuge seiner Tauwetterpolitik versuchte Papst Johannes XXIII. (1958-1963), den Primas nach Rom zu holen. Im Gegenzug war der Vatikan bereit, Bedingungen der Kommunisten zu erfüllen. Viele Jahre lehnt Mindszenty aber hartnäckig ein Ausreiseangebot ab.
Kardinal König war in den 1960er-Jahren eine Schlüsselgestalt der vatikanischen Ostpolitik. Dazu habe u.a. eine konsequente "Besuchspolitik" des Kardinals in die Länder hinter dem Eisernen Vorhang gehört, so Annemarie Fenzl. Ab dem Frühjahr 1963 besuchte König im Auftrag von Papst Johannes XXIII. regelmäßig Kardinal Mindszenty in Budapest. Die Aufforderung des Papstes beschrieb König später so: "Johannes XXIII. machte sich Gedanken über die Kirchen des Ostens, mit denen er früher oft Kontakt gehabt hatte. Darum bat er mich auch, Kardinal Mindszenty zu besuchen. Ich entgegnete ihm, dass es für den Erzbischof von Wien schwierig sei, die ungarische Grenze zu passieren und dass mir kein Visum bewilligt würde. Mit seiner gewohnten Gutmütigkeit und seinem schelmischen Lächeln setzte er fort: 'Aber Sie sind sein allernächster Nachbar! Ich würde fast sagen, in greifbarer Nähe und ganz selbstverständlich für diesen Besuch bestimmt.' - 'Wie soll dies aber praktisch vor sich gehen?' fragte ich ihn. Er ließ nicht locker: 'Das ist kinderleicht; gehen Sie in Wien zum Bahnhof und lösen Sie Ihre Fahrkarte nach Budapest.' - 'Ich werde Ihrer Hilfe bedürfen, Heiliger Vater, ohne die ich niemals die Grenze überschreiten kann.' - 'Nun, so zählen Sie auf mich!'", so die Antwort des Papstes.
Konversation in Latein
König habe sein Einreisevisum bekommen und konnte fortan den Kontakt mit Mindszenty halten. Anfänglich sei die Verständigung nicht leicht gewesen, so Fenzl; zunächst sprachlich, denn Mindszenty fielen Deutsch und Englisch schwer, so habe man sich auf eine lateinische Konversation geeinigt. In der Folge fiel die Verständigung auch in der Sache nicht leicht. Es dauerte schließlich acht Jahre, bis Mindszenty dem Wunsch Roms nachkam, und Ungarn verließ.
Laut Fenzl gibt es über die Besuche Kardinal Königs in der Amerikanischen Gesandtschaft bzw. in späteren Jahren Botschaft im Wiener Kardinal König-Archiv nur spärliche Informationen. Es handle sich dabei vor allem um jene Berichte, welche König immer nach seiner Rückkehr an das vatikanische Staatssekretariat schickte. Sie seien in einem einzigen, etwa zehn Zentimeter hohen Bündel Schreibmaschinen-Durchschläge gesammelt, so Fenzl: "Kardinal König war kein Tagebuchschreiber, kein Mann langer Briefe, auch kein Mann überflüssiger Worte."
Nur lapidare Meldungen über Kathpress
Wie schon bei seinem ersten Besuch am 18. April 1963, als nicht einmal der Sekretär Königs informiert gewesen war, so kamen auch in den folgenden Jahren nach jedem Besuch des Kardinals in Budapest nur lapidare Meldungen über Kathpress, die von Informationsgehalt nie über jenes Beispiel vom 19. April 1963 hinausgingen, wo es wörtlich hieß: "Der Erzbischof von Wien, Kardinal Dr. Franz König, unternahm am Donnerstag eine Reise nach Ungarn. Er hatte in Budapest ein mehrstündiges Gespräch mit dem Primas von Ungarn, Kardinal Josef Mindszenty, der sich bekanntlich seit 1956 im Gebäude der amerikanischen Gesandtschaft in Budapest im Asyl befindet. Nach einem kurzen Besuch auf der österreichischen Gesandtschaft in Budapest kehrte Kardinal König in den späten Abendstunden des Donnerstags wieder nach Wien zurück. Kardinal König gab bei seiner Rückkehr keinerlei Erklärungen ab."
König habe nie Erklärungen über den Inhalt seiner Unterredungen abgegeben, erläuterte Fenzl. Insgesamt besuchte er Mindszenty elfmal in Budapest.
Authentische Unterlagen Mindszentys
Im Kardinal König Archiv finden sich auch einige Unterlagen Mindszentys, aus denen Fenzl zitierte: "Im Auftrag der Päpste Johannes XXIII. und Paul VI. suchte mich nach 1963 mehrmals der Wiener Kardinal-Erzbischof König auf. Ohne Druck ausüben zu wollen, erkundigte sich Papst Johannes XXIII. danach, ob ich nicht nach Rom kommen wolle, um dort ein kuriales Amt zu übernehmen. Er könne dann vielleicht die vakant gewordenen Bischofssitze wieder besetzen. Ich gab ihm zur Antwort, dass ich seine Pläne guthieße, wenn er dadurch die Freiheit der Kirche fördern würde. Das Außenministerium der USA erlaubte von nun an einen Briefwechsel auf diplomatischem Wege zwischen dem Vatikan und mir. Es war für mich die einzige Möglichkeit, mit der Außenwelt schriftlich Kontakt aufzunehmen."
Fenzl berichtete gegenüber Kathpress u.a. über die Ereignisse 1967, als Kardinal Mindszenty nahe daran war, die US-Gesandtschaft infolge der geplanten Aufwertung in eine Botschaft zu verlassen und Kardinal König eilig nach Budapest reisen musste, um seinem Amtsbruder schonend, aber unmissverständlich die päpstliche Anordnung zu überbringen, dass er auf ein demonstratives Verlassen seines Asyls verzichten möge. Schließlich kam es nicht dazu.
Im September 1970 übernachtete König in der US-Botschaft, da das Gespräch mit Mindszenty lange andauerte. An diesem Abend versuchte König, "vorsichtig sein Augenmerk auf die Zukunft zu legen: was zum Beispiel geschehen würde, wenn ein Spitalsaufenthalt notwendig würde?", wie er später wörtlich berichtete. Aus verschiedenen Randbemerkungen gewann König damals laut Fenzl die Einschätzung, dass Mindszenty einen ausdrücklichen Wunsch des Heiligen Vaters nach seiner Ausreise aus Ungarn aufgrund seines Gehorsamsprinzips akzeptieren würde, musste aber dann doch seinen Bericht nach Rom folgendermaßen zusammenfassen: "Insgesamt sehe ich aber, wie ich schon in meinen letzten Berichten betont habe, zurzeit keinen gangbaren Ausweg."
Die Lage habe sich zugespitzt und sei auch für Kardinal König menschlich immer schwieriger geworden, so Fenzl, die aus einem weiteren Bericht Königs zitierte: "Das Problem schien unlösbar. (...) die anfängliche Gastfreundschaft der Amerikaner, das muss gesagt werden, wurde diesen immer mehr zur Last, da sie die Anwesenheit des Kardinals in Ungarn zunehmend als Hindernis für ihre Entspannungspolitik mit dem Osten ansahen."
Am 29. September 1971 berichtet Kathpress schließlich, dass "der Erzbischof von Esztergom und Primas von Ungarn (am Tag zuvor, dem 28. September) nach fast 23 Jahren der Einkerkerung und Konfinierung und - seit der ungarischen Volkserhebung von 1956 - des politischen Asyls in der Amerikanischen Botschaft in Budapest seit vergangenem Dienstag in Freiheit" sei. Er wurde vom Apostolischen Nuntius in Österreich, Erzbischof Opilio Rossi, über Wien nach Rom gebracht, wo es noch dienstagnachmittags "zu einer ergreifenden Begrüßung durch den Papst kam".
Einem vatikanischen Kommunique zufolge war die Möglichkeit zur Ausreise des Primas das Ergebnis einer Vereinbarung zwischen der ungarischen Regierung und dem Vatikan. - Es war allerdings nicht Kardinal König, sondern der vom Vatikan nach Budapest entsandte ungarische Prälat Jozsef Zagon, der Mindszenty den nachdrücklichen Wunsch des Papstes zur Ausreise überbrachte und dessen Zustimmung erlangte.
Kompromissloser Verteidiger der Kirche
Am 14. Mai 2000 erinnerte sich Kardinal König im Rahmen eines Gedenkgottesdienstes in Mariazell aus Anlass des vor 25 Jahren erfolgten Todes des Primas von Ungarn: "Unvergesslich bleibt mir (...) die erste Begegnung mit dem Kardinal-Primas als isolierter Gast in der Amerikanischen Botschaft. Diese Begegnung mit ihm, meine Teilnahme an seinen Sorgen und seiner Hoffnung hatte mich damals wichtige Erkenntnisse gelehrt. Mir wurde bewusst, welche Größe und welche Bedeutung der einsame Mann in der Botschaft für Kirche und Welt hatte. Mir wurde damals aber auch bewusst, welche Möglichkeiten sich für den Erzbischof von Wien ergeben, um mit den Bischöfen jenseits des Eisernen Vorhanges Verbindung aufnehmen zu sollen."
Mindszenty sei ein kompromissloser Verteidiger seiner Kirche gewesen. "Er gab mir immer wieder zu verstehen, dass er bereit sei, für seine Kirche in Ungarn als Märtyrer zu sterben", so König. Ein Zweites: "Er liebte seine Heimat Ungarn über alles und wollte sein Land unter keinen Umständen verlassen, obwohl man ihm in dieser Hinsicht seitens der kommunistischen Regierung goldenen Brücken ins Ausland zu bauen bereit war." Der Papst sei für den Primas aber eine letzte und bindende Autorität gewesen, "auch dann, wenn er eine Entscheidung des Papstes schwer verstehen konnte".
Kein Verständnis für vatikanische Ostpolitik
Vergeblich bemühte sich Papst Paul VI. (1963-1978) in der Folge, Mindszenty zum Amtsverzicht zu bewegen. Im Februar 1974 entband er ihn schließlich "aus pastoralen Erwägungen", ohne einen Nachfolger zu ernennen. Der Primas erklärte schonungslos, die Entscheidung sei "vom Heiligen Stuhl allein getroffen" worden.
Kardinal König erinnerte sich später, dass Mindszenty schwer darunter gelitten, dass Paul VI. ihn seiner erzbischöflichen Funktionen enthoben hatte. Die "Ostpolitik des Vatikans" sei für Mindszenty schwer verständlich" gewesen.
Mindszenty starb am 6. Mai 1975 mit 83 Jahren im Wiener Exil. Er hatte festgelegt, dass er in der Basilika Mariazell beigesetzt, aber nach dem Sturz des Kommunismus in die Heimat überführt werden solle. 1991 wurde der Leichnam in Esztergom neu bestattet - und 1993 der Seligsprechungsprozess eröffnet. Die Akte dafür wurde 2013 abgeschlossen und liegt seither in Rom. Der ungarische Staat rehabilitierte Mindszenty 1990 de facto und 2012 vollständig.
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