„In den USA und in Europa sind seit langem Muster einer aggressiven Säkularisierung am Werk“

5. November 2021 in Kommentar


Erzbischof Gomez, Präsident der US-Bischofskonferenz, warnt, dass der Raum, der der Kirche und den gläubigen Christen einzunehmen gestattet ist, stark schrumpft, auch angesichts von „Cancel Culture“ und „Wokeness“ – Das Statement in voller Länge!


Los Angeles-Madrid (kath.net/pl) kath.net dokumentiert den Text des Videobeitrags „Reflexionen über die Kirche und Amerikas neue Religionen“ vom 4.11.2021 von Erzbischof José Gomez von Los Angeles (USA), Präsident der US-amerikanischen Bischofskonferenz, zum Kongress „Katholiken und das öffentliche Leben“ in Madrid (Spanien) in voller Länge in eigener Übersetzung. Der Erzbischof konnte aufgrund der weltweiten Coronapandemie und der dadurch bedingten Reiseeinschränkungen nicht persönlich zum Kongress nach Spanien fliegen – Quelle: Website der Erzdiözese Los Angeles – Übersetzung © kath.net/Petra Lorleberg

Meine Freunde,

Es tut mir leid, dass ich nicht persönlich bei Ihnen sein kann. Aber ich fühle mich geehrt durch Ihre Einladung, vor diesem angesehenen Kongress zu sprechen.

Sie haben mich gebeten, ein ernstes, sensibles und kompliziertes Thema anzusprechen: das Aufkommen neuer säkularer Ideologien und Bewegungen für den sozialen Wandel in den Vereinigten Staaten und ihre Auswirkungen auf die Kirche.

Ich vermute, dass wir natürlich alle verstehen, dass das, was die Kirche in den Vereinigten Staaten erlebt, auch in Ihrem Land und in den Ländern in ganz Europa passiert, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedliche Weise.

Auf dieser Grundlage möchte ich heute meine Überlegungen in drei Schritten anbieten.

Zunächst möchte ich über den breiteren Kontext der globalen Bewegung der Säkularisierung und Entchristianisierung sowie die Auswirkungen der Pandemie sprechen.

Zweitens möchte ich eine „spirituelle Interpretation“ der neuen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit und politische Identität in Amerika anbieten.

Schließlich möchte ich einige vom Evangelium herkommende Prioritäten für die Kirche vorschlagen, wenn wir uns den Realitäten der Gegenwart stellen.

Also, fangen wir an.

1. Säkularisierung und Entchristlichung

Ich denke, wir alle wissen, dass in den Vereinigten Staaten zwar einzigartige Bedingungen herrschen, in Spanien und anderswo in Europa jedoch seit langem ähnlich breite Muster einer aggressiven Säkularisierung am Werk sind.

In unseren Ländern ist eine elitäre Führungsschicht entstanden, die wenig Interesse an Religion hat und keine wirkliche Bindung an die Nationen, in denen sie leben, oder an lokale Traditionen oder Kulturen. Diese Gruppe, die in Unternehmen, Regierungen, Universitäten, den Medien sowie in den kulturellen und beruflichen Einrichtungen Verantwortungsträger ist, möchte eine globale Zivilisation aufbauen, die auf einer Konsumwirtschaft basiert, die von Wissenschaft, Technologie und humanitären Werten geleitet wird und technokratischen Ideen zur Organisation der Gesellschaft.

In dieser elitären Weltsicht braucht es keine altmodischen Glaubenssysteme und Religionen. Tatsächlich steht die Religion, insbesondere das Christentum, ihrer Ansicht nach nur jener Gesellschaft im Weg, die sie aufbauen wollen.

Es ist wichtig, sich dies vor Augen zu halten. In der Praxis bedeutet Säkularisierung, wie unsere Päpste betont haben, „Entchristlichung“. In Europa und Amerika wird seit Jahren bewusst versucht, die christlichen Wurzeln der Gesellschaft auszulöschen und verbliebene christliche Einflüsse zu unterdrücken.

In Ihrem Programm für diesen Kongress spielen Sie auf die „cancel culture“ und die „politische Korrektheit“ an. Und wir stellen fest, dass oft gerade jene Perspektiven gelöscht oder korrigiert werden, die im christlichen Glauben wurzeln: über das menschliche Leben und die menschliche Person, über die Ehe, die Familie und so fort.

Der „Raum“, der der Kirche und den gläubigen Christen einnehmen gestattet ist, schrumpft sowohl in Ihrer wie auch in meiner Gesellschaft [engl.: „society“). Kirchliche Einrichtungen sowie Betriebe, die von Christen geleitet werden, werden zunehmend herausgefordert und schikaniert. Das gleiche gilt für Christen, die im Bildungswesen, im Gesundheitswesen, in der Regierung und in anderen Bereichen arbeiten. Man behauptet, dass das Festhalten an bestimmten christlichen Überzeugungen eine Bedrohung für die Freiheiten und sogar die Sicherheit anderer Gruppen in unserer Gesellschaft darstelle.

Noch ein Kontextpunkt. Wir alle haben die dramatischen sozialen Veränderungen in unseren Gesellschaften mit dem Aufkommen des Coronavirus wahrgenommen und die Art und Weise, wie unsere Regierungsbehörden auf die Pandemie reagiert haben.

Ich denke, im Rückblick der Geschichte wird man feststellen, dass diese Pandemie unsere Gesellschaft nicht vorwiegend verändert hat, vielmehr Trends und Richtungen beschleunigt hat, die bereits am Werk waren. Gesellschaftliche Veränderungen, die Jahrzehnte gedauert haben mögen, vollziehen sich nun im Zuge dieser Pandemie und der Reaktionen unserer Gesellschaften schneller.

Dies gilt auf jeden Fall für die Vereinigten Staaten.

Die neuen sozialen Bewegungen und Ideologien, von denen wir heute sprechen, wurden viele Jahre lang in unseren Universitäten und Kultureinrichtungen gesät und vorbereitet. Aber mit den Spannungen und Ängsten, die durch die Pandemie und soziale Isolation verursacht wurden, und mit der Tötung eines unbewaffneten Schwarzen durch einen weißen Polizisten und den darauffolgenden Protesten in unseren Städten wurden diese Bewegungen in unserer Gesellschaft voll entfesselt.

Dieser Kontext ist wichtig, um unsere Situation in den Vereinigten Staaten zu verstehen. Der Name George Floyd ist mittlerweile weltweit bekannt. Aber das liegt daran, dass seine Tragödie für viele Menschen in meinem Land, mich eingeschlossen, zu einer starken Mahnung dafür wurde, dass Rassenunterschiede und wirtschaftliche Ungleichheit immer noch tief in unserer Gesellschaft verankert sind.

Wir müssen diese Realität der Ungleichheit im Auge behalten. Denn diese Bewegungen, über die wir sprechen, sind Teil einer umfassenderen Diskussion – einer Diskussion, die absolut notwendig ist – darüber, wie man eine amerikanische Gesellschaft aufbauen kann, die für alle die Möglichkeiten erweitert, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Herkunft oder ihrem ökonomischen Status.

Damit kommen wir zu meinem nächsten Punkt.

2. Amerikas neue politische Religionen

Hier ist meine Behauptung: Ich glaube, der beste Weg für die Kirche, die neuen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit zu verstehen, besteht darin, sie als Pseudoreligionen und sogar als Ersatz und Rivalen für klassische christliche Überzeugungen zu verstehen.

Mit dem Zusammenbruch der jüdisch-christlichen Weltanschauung und dem Aufkommen des Säkularismus haben politische Glaubenssysteme, die auf sozialer Gerechtigkeit oder persönlicher Identität basieren, den Raum ausgefüllt, den der christliche Glaube und die christliche Lebenspraxis einst besetzten.

Wie auch immer wir diese Bewegungen nennen – „soziale Gerechtigkeit“, „Wokeness“, „Identitätspolitik“, „Intersektionalität“, „successor ideology“ – sie alle behaupten, das zu bieten, was die Religion bietet.

Sie liefern den Menschen eine Erklärung für Ereignisse und Zustände in der Welt. Sie bieten Sinn, Lebenssinn und das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören.

Darüber hinaus erzählen diese neuen Bewegungen – genau wie das Christentum – ihre eigene „Heilsgeschichte“.

Um zu erklären, was ich meine, lassen Sie mich versuchen, die christliche Geschichte kurz mit der Geschichte der „Wokeness“ oder der Geschichte der „sozialen Gerechtigkeit“ zu vergleichen.

Die christliche Geschichte lautet in ihrer einfachsten Form ungefähr:

Wir sind nach dem Bilde Gottes geschaffen und zu einem gesegneten Leben in Gemeinschaft mit ihm [Gott] und unseren Nächsten berufen. Das menschliche Leben hat ein von Gott gegebenes „Telos“ [Anm.d.Ü.: Ziel], eine Absicht und eine Richtung. Durch unsere Sünde sind wir von Gott und voneinander entfremdet und leben im Schatten unseres eigenen Todes.

Durch die Barmherzigkeit Gottes und seine Liebe zu jedem von uns werden wir durch das Sterben und Auferstehen Jesu Christi gerettet. Jesus versöhnt uns mit Gott und unseren Nächsten, schenkt uns die Gnade, in sein Bild verwandelt zu werden, und ruft uns auf, ihm im Glauben zu folgen, Gott und unseren Nächsten zu lieben und daran zu arbeiten, sein Königreich auf Erden aufzubauen, alles in der zuversichtlichen Hoffnung, dass wir mit ihm das ewige Leben in der zukünftigen Welt haben werden.

Das ist die christliche Geschichte. Und mehr denn je müssen die Kirche und jeder Katholik diese Geschichte kennen und in all ihrer Schönheit und Wahrheit verkünden.

Wir müssen das tun, denn es gibt heute noch eine andere Geschichte: eine rivalisierende „Erlösung“-Erzählung, die wir in den Medien und in unseren Institutionen von den neuen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit erzählen hören. Was wir die „Woke“-Geschichte nennen könnten, sieht in etwa so aus:

Wir können nicht wissen, woher wir kommen, aber wir sind uns bewusst, dass wir gemeinsame Interessen haben mit denen, die unsere Hautfarbe oder unsere Position in der Gesellschaft teilen. Wir sind uns auch schmerzlich bewusst, dass unsere Gruppe ohne eigenes Verschulden leidet und entfremdet ist. Der Grund für unser Unglück ist, dass wir Opfer der Unterdrückung durch andere Gruppen in der Gesellschaft sind. Wir werden befreit und finden Erlösung durch unseren ständigen Kampf gegen unsere Unterdrücker, indem wir im Namen einer gerechten Gesellschaft einen Kampf um politische und kulturelle Macht führen.

Dies ist eindeutig eine kraftvolle und attraktive Erzählung für Millionen von Menschen in der amerikanischen Gesellschaft und in Gesellschaften im ganzen Westen. Tatsächlich fördern und lehren viele der führenden amerikanischen Unternehmen, Universitäten und sogar öffentlichen Schulen diese Vision aktiv.

Diese Geschichte schöpft ihre Stärke aus der Einfachheit ihrer Erklärungen: die Welt ist in Unschuldige und Opfer, Verbündete und Gegner geteilt.

Aber diese Erzählung ist auch deshalb attraktiv, weil sie, wie ich bereits sagte, auf echte menschliche Bedürfnisse und Leiden reagiert. Die Menschen sind verletzt, sie fühlen sich diskriminiert und von Chancen in der Gesellschaft ausgeschlossen.

Das sollten wir nie vergessen. Viele von denen, die sich diesen neuen Bewegungen und Glaubenssystemen anschließen, sind von edlen Absichten motiviert. Sie wollen gesellschaftliche Verhältnisse verändern, die Männern und Frauen ihre Rechte und Chancen auf ein gutes Leben verweigern.

Natürlich wollen wir alle eine Gesellschaft aufbauen, die jedem Menschen Gleichheit, Freiheit und Würde bietet. Aber wir können eine gerechte Gesellschaft nur auf der Grundlage der Wahrheit über Gott und die menschliche Natur aufbauen.

Dies ist nun seit fast zwei Jahrhunderten die ständige Lehre unserer Kirche und ihrer Päpste.

Unser emeritierter Papst Benedikt XVI. warnte davor, dass die Gottesfinsternis zur Finsternis der menschlichen Person führt. Immer wieder sagte er uns: Wenn wir Gott vergessen, sehen wir auch das Ebenbild Gottes in unserem Nächsten nicht mehr.

Papst Franziskus sagt in Fratelli Tutti auf eindrückliche Weise dasselbe: Wenn wir nicht glauben, dass Gott unser Vater ist, gibt es keinen Grund für uns, andere als unsere Brüder und Schwestern zu behandeln.

Genau hierin liegt das Problem.

Die heutigen kritischen Theorien und Ideologien sind zutiefst atheistisch. Sie leugnen die Seele und die spirituelle, transzendente Dimension der menschlichen Natur; oder sie denken, dass dies für das menschliche Glück irrelevant ist. Sie reduzieren das, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, auf im Wesentlichen körperliche Eigenschaften – unsere Hautfarbe, unser Geschlecht, unsere Vorstellungen von Gender, unsere ethnische Herkunft oder unsere Stellung in der Gesellschaft.

Zweifellos können wir in diesen Bewegungen bestimmte Elemente der Befreiungstheologie erkennen, sie scheinen aus derselben marxistischen Kulturvision zu stammen. Außerdem ähneln diese Bewegungen einigen der Häresien, die wir in der Kirchengeschichte finden.

Wie die frühen Manichäer sehen diese Bewegungen die Welt als einen Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Wie die Gnostiker lehnen sie die Schöpfung und den Körper ab. Sie scheinen zu glauben, dass Menschen alles werden können, was wir aus uns machen wollen.

Diese Bewegungen sind auch pelagianisch und glauben, dass die Erlösung durch unsere eigenen menschlichen Bemühungen ohne Gott erreicht werden kann.

Und als letzten Punkt möchte ich anmerken, dass diese Bewegungen „utopisch“ sind. Sie scheinen wirklich zu glauben, dass wir durch unsere eigenen politischen Bemühungen eine Art „Himmel auf Erden“ schaffen können, eine vollkommen gerechte Gesellschaft.

Nochmals, meine Freunde, mein Punkt ist folgender: Ich glaube, dass es für die Kirche wichtig ist, diese neuen Bewegungen zu verstehen und zu anzugreifen – nicht in sozialer oder politischer Hinsicht, sondern als gefährlicher Ersatz für wahre Religion.

Indem sie Gott verleugnen, haben diese neuen Bewegungen die Wahrheit über die menschliche Person verloren. Dies erklärt ihren Extremismus und ihren harten, kompromisslosen und unversöhnlichen Umgang mit der Politik.

Und weil diese Bewegungen vom Standpunkt des Evangeliums aus die menschliche Person leugnen, so gut sie sonst auch sein mögen, können sie kein echtes menschliches Gedeihen fördern. Tatsächlich führen diese streng säkularen Bewegungen, wie wir in meinem Land erleben, zu neuen Formen der sozialen Spaltung, Diskriminierung, Intoleranz und Ungerechtigkeit.

3. Was ist zu tun?

Das führt mich zu meiner letzten Reflexion. Die Frage ist: Was ist zu tun? Wie sollte die Kirche auf diese neuen säkularen Bewegungen für sozialen Wandel reagieren?

Meine Antwort ist einfach. Wir müssen Jesus Christus verkünden. Mutig, kreativ. Wir müssen unsere Heilsgeschichte auf neue Weise erzählen. Mit Nächstenliebe und Zuversicht, ohne Angst. Dies ist die Mission der Kirche in jedem Zeitalter und in jedem Moment in den Kulturen.

Wir sollten uns von diesen neuen Religionen der sozialen Gerechtigkeit und der politischen Identität nicht einschüchtern lassen. Das Evangelium bleibt die stärkste Kraft für soziale Veränderungen, die die Welt je gesehen hat. Und die Kirche war von Anfang an „antirassistisch“. Alle sind in ihre Botschaft des Heils miteingeschlossen.

Jesus Christus kam, um die neue Schöpfung zu verkünden, den neuen Mann und die neue Frau, denen die Macht gegeben wurde, Kinder Gottes zu werden, erneuert nach dem Bild ihres Schöpfers.

Jesus lehrte uns, Gott als unseren Vater zu kennen und zu lieben, und er rief seine Kirche auf, diese gute Nachricht bis ans Ende der Welt zu tragen – um aus allen Rassen und Stämmen und Völkern die eine weltweite Familie Gottes zu sammeln.

Das war die Bedeutung von Pfingsten, als Männer und Frauen aus allen Nationen des Erdkreises das Evangelium in ihrer eigenen Muttersprache hörten. Das meinte der heilige Paulus, als er sagte, dass es in Christus keinen Juden oder Griechen gebe, weder Mann noch Frau, weder Sklave noch Freie.

Natürlich haben wir in der Kirche nicht immer unseren schönen Grundsätzen entsprochen oder die uns von Christus anvertraute Mission erfüllt.

Aber die Welt braucht keine neue säkulare Religion, um das Christentum zu ersetzen. Es braucht Sie und mich, um bessere Zeugen zu sein. Bessere Christen. Beginnen wir damit, zu vergeben, zu lieben, für andere zu opfern und spirituelle Gifte wie Groll und Neid wegzuräumen.

Ich persönlich finde Inspiration bei den Heiligen und heiligmäßigen Personen in der Geschichte meines Landes.

In diesem Moment schaue ich besonders auf die Dienerin Gottes Dorothy Day. In meinen Augen legt sie ein wichtiges Zeugnis dafür V, wie Katholiken durch radikale Loslösung [Anm.d.Ü.: vom Weltlichen] und Liebe zu den Armen, wie sie in den Seligpreisungen, der Bergpredigt und den Werken der Barmherzigkeit begründet sind, unsere Gesellschaftsordnung verändern können.

Sie hatte auch ein ausgeprägtes Gespür dafür, dass wir uns selbst ändern müssen, bevor wir die Herzen anderer verändern können.

Sie sagte einmal: „Ich sehe allzudeutlich, wie schlecht die Leute sind. Ich wünschte, ich hätte es nicht so deutlich gesehen. Es sind meine eigenen Sünden, die mir diese Klarheit geben. Aber ich kann mir um deine Sünden und dein Elend keine großen Sorgen machen, solange ich so viele eigene habe. … Mein tägliches Gebet ist, dass Gott mein Herz so sehr erweitert, dass ich euch alle sehe und mit euch allen in seiner Liebe lebe.“

Dies ist die Haltung, die wir gerade brauchen, jetzt, wo unsere Gesellschaft so polarisiert und gespalten ist.

Ich lasse mich auch vom Zeugnis des Dieners Gottes Augustus Tolton inspirieren. Es ist eine erstaunliche, durch und durch amerikanische Geschichte. Er wurde in der Sklaverei geboren, entkam mit seiner Mutter in die Freiheit und wurde der erste Schwarze in meinem Land, der zum Priester geweiht wurde.

Priester Tolton sagte einmal: „Die katholische Kirche beklagt eine doppelte Sklaverei – die des Geistes und die des Körpers. Sie bemüht sich, uns von beidem zu befreien.“

Heute brauchen wir dieses Vertrauen in die Kraft des Evangeliums.

Wir sind gerade in Gefahr, in einen neuen „Tribalismus“ [Anm.d.Ü.: Orientiertheit auf den eigenen Stamm] abzugleiten, eine vorchristliche Vorstellung, die die Menschheit als in konkurrierende Gruppen und Fraktionen aufgeteilt sieht.

Wir müssen das Evangelium als den wahren Weg zur Befreiung von jeder Sklaverei und Ungerechtigkeit – geistlich und materiell – leben und verkünden. In unserer Predigt, in unserer Lebenspraxis und besonders in unserer Nächstenliebe müssen wir Gottes wundervolle Vision unserer gemeinsamen Menschlichkeit bezeugen – unseren gemeinsamen Ursprung in und unsere gemeinsame Bestimmung zu Gott.

Schließlich denke ich, dass die Kirche in dieser Stunde eine Stimme für das individuelle Gewissen und die Toleranz sein muss, und wir müssen mehr Demut und Realismus in Bezug auf das menschliche Dasein fördern. Unsere gemeinsame Menschlichkeit anzuerkennen bedeutet, unsere gemeinsame Schwäche anzuerkennen. Die Wahrheit ist, dass wir alle Sünder sind, Menschen, die das Richtige tun wollen, es aber oft nicht tun.

Das bedeutet nicht, dass wir angesichts sozialer Ungerechtigkeit passiv bleiben. Niemals! Aber wir müssen darauf bestehen, dass Geschwisterlichkeit nicht durch Feindseligkeit oder Spaltung aufgebaut werden kann. Wahre Religion versucht nicht zu verletzen oder zu demütigen, die Lebensgrundlagen oder den Leumung zu ruinieren. Wahre Religion bietet selbst den schlimmsten Sündern einen Weg zur Erlösung.

Ein letzter Gedanke, meine Freunde: die Realität der Vorsehung Gottes. Wir müssen an diesem übernatürlichen Verständnis festhalten, denn es ist wahr: Gottes liebevolle Hand leitet noch immer unser Leben und das Geschick der Nationen.

In den Staaten bereitet sich die Kirche darauf vor, nächsten Monat den 490. Jahrestag der Erscheinungen Unserer Lieben Frau von Guadalupe zu feiern, der Markstein der wirklichen, der spirituellen Gründung Amerikas.

Und bereits jetzt sehen wir Anzeichen eines authentischen religiösen Erwachens in Amerika, unter all den Kontroversen unserer Politik, den anhaltenden Wolken der Pandemie, all der Unsicherheit darüber, wohin unser Land geht.

Ich bin zuversichtlich, dass wir dieses spirituelle Erwachen im kommenden Jahrzehnt wachsen und sich ausbreiten sehen, wenn wir auf den 500. Jahrestag der Erscheinung blicken.

Und die Worte der Muttergottes in Tepeyac stärken und inspirieren mich weiterhin: „Bin ich nicht hier, ich, die ich deine Mutter bin? Bist du nicht in meinem Schatten, unter meinem Schutz?“

Vielen Dank für Ihre Einladung und fürs Zuhören heute. Möge Gott Sie alle segnen und möge Unsere Liebe Frau von Guadalupe weiterhin für uns Fürsprache einlegen!

Archivfoto Erzbischof Gomez (c) Erzbistum Los Angeles

 

VIDEO: BILD: "Wir haben längst auch wieder eine Pandemie der Geimpften"

 


© 2021 www.kath.net