12. November 2021 in Schweiz
Die Kirche ignoriere die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten 150 Jahre und verstecke ihre Wissenslücken hinter einem vermeintlich göttlichen Willen, behaupten Karin Iten und Stefan Loppacher.
Chur (kath.net/jg)
Zwei Präventionsbeauftragte des Bistums Chur haben in einem Artikel für die Schweizerische Kirchenzeitung die hierarchische Struktur und die Sexualmoral der katholischen Kirche als Hindernis für effektive Prävention von sexuellem Missbrauch charakterisiert. „Die Sakralisierung von männlicher Autorität und die realitätsfremde Sexualmoral wirken wie eine toxische Mischung, die ins Schweigen und Vertuschen führt. Prävention muss deshalb Brennpunkte der Sexualmoral hinterfragen und zu Reflexion und Dialog ermutigen“, schreiben Karin Iten und Stefan Loppacher einleitend.
Zunächst stellen in Frage, dass die Kirche überhaupt eine gültige Sexualmoral vorlegen kann. „Das kirchliche Selbstverständnis, als Monopol würdevolle oder gar gottgefällige Sexualität definieren zu können, entpuppt sich als maßlose Selbstüberschätzung. Durch den eigenen Tunnelblick wurden und werden wissenschaftliche Erkenntnisse der Biologie, Medizin und Psychologie aus den letzten 150 Jahren selbstgefällig ignoriert. Die Argumente der lehramtlichen Sexualmoral gehen bis heute von einem vormodernen Verständnis von Sexualität aus und stützen sich auf (medizinische) Erkenntnisse aus der Zeit der Antike bis zur Aufklärung.“
Trotzdem werde der „Anspruch der absoluten Zuständigkeit für moralische Fragen ... munter aufrechterhalten, die eigenen Wissenslücken werden hinter einem (vermeintlich) göttlichen Willen versteckt oder mit ,aus dem Kontext gerissenen, Bibelstellen getarnt.“ Dann rücken die Autoren die kirchliche Sexualmoral per se in die Nähe von spirituellem Missbrauch. Wörtlich schreiben sie: „Für Klaus Mertes ist eine solche Verwechslung der eigenen Stimme mit der Stimme Gottes ein entscheidendes Merkmal von spirituellem Missbrauch. ‚Göttliche’ Legitimation führt zu Immunisierung und Unantastbarkeit. Sie schafft den idealen Boden für Missbrauch – v.a. wenn ‚das Wort Gottes’ als eine Art Geheimwissen einer ausgewählten elitären (z.B. klerikalen) Gruppe propagiert wird.
Nach Ansicht der Autoren bedingt Prävention nicht nur das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, sondern auch das Absehen von Bevormundung, wozu sie offenbar auch die kirchliche Sexualmoral zählen. Stattdessen sollen die Menschen ohne Bezug auf die göttliche Offenbarung selbst bestimmen, was richtig und falsch ist. Wörtlich schreiben sie: „Definitionsmacht über die eigene Sexualität darf nicht von einer Institution beansprucht werden – sie gehört in die Hände der Menschen. Diese gestalten im Modus der Verständigung – gleichberechtigt und mit gegenseitigem Respekt (Konsensmoral) – ihre gemeinsame Sexualität selbst.“
Die ablehnende Haltung der Kirche zur praktizierten Homosexualität muss nach Ansicht der beiden Autoren ebenfalls revidiert werden. Die Kirche müsse sich „diesbezüglich einer äußerst dunklen Vergangenheit stellen. Ihr Umgang mit Homosexualität z.B. kommt einer langen Schuldgeschichte gleich, welche bis heute Leid schafft“, schreiben sie wörtlich. Sie werfen der Kirche vor, Pädosexualität mit Homosexualität gleichzusetzen. Dies sei „das ideologische Fundament für Diskriminierung“. „Bis heute bezeichnet die katholische Kirche zudem Homosexualität als ‚Verstoß gegen das natürliche Gesetz’ (KKK Nr. 2357)“. Mit dieser Formulierung würde die Kirche das Wort „natürlich“ vereinnahmen. Für die Naturwissenschaft sei hingegen klar, dass nicht nur Heterosexualität natürlich sei. Sogar „namhafte Moraltheologen“ würden die „Heteronormativität mittlerweile als ‚offenkundige Nihilierung menschlicher Erfahrung“ bezeichnen, schreiben sie wörtlich.
Ein weiteres Argument ist die angebliche Doppelmoral des Klerus. Ein namhafter Teil der Kleriker in der obersten Kirchenführung sei homosexuell, schreiben sie unter Berufung auf den Soziologen Frédéric Martel. Der Zölibat, so lautet ihre These, habe schwule Männer ins Priesteramt gezogen, welches in der „homophoben Gesellschaft Tarnung bot“. Diese Menschen seien häufig innerlich gespalten. „Die Doppelleben sind nicht nur menschliche Tragödien, sondern machen erpressbar und stützen durch die eigene Verschwiegenheit zugleich Geheimhaltung bei sexueller Gewalt.“
Als Lösung schlagen die Autoren vor, „die Rehabilitierung homosexueller Menschen als Querschnittsaufgabe konsequent“ anzugehen und sich „von allen Diskriminierungsformen dauerhaft“ zu distanzieren. Damit ist die Brücke zum nächsten Thema geschlagen: Der „Ungleichbewertung bzw. Entmachtung von Frauen“. Diese werde als „göttliche Ordnung“ legitimiert. Auch hier komme die Wissenschaft zu anderen Ergebnissen, die zur Orientierung herangezogen werden müssten. Wörtlich steht im Artikel: „Anthropologische und kulturhistorische Forschung zum Homo sapiens zeigt indes, dass das Patriarchat erst im Zuge der neolithischen Revolution vor max. 10.000 Jahren entstand und damit kulturell bedingt ist – keinesfalls natürlich oder ewig („gottgegeben“) da war.“
Die Keuschheitsgebote seien aus dem „zwiespältigen Erbe des Augustinus“ entstanden, der „ein verdüstertes Bild von sexueller Lust“ hinterlassen habe. Diese „Engführung mündete in Keuschheitsversprechen vor der Ehe, zu welchen auch heute Jugendliche in Bewegungen charismatischer Prägung gedrängt werden – was als Übergriff zu werten ist.“ Reinheitsversprechen würden „Scham und Schuldgefühle“ erzeugen und damit Präventionsbemühungen untergraben.
Nach Ansicht der Autoren würde voreheliche Enthaltsamkeit die Entfaltung der Sexualität offenbar eher behindern. Eine „erfüllte und reife Sexualität bedingt zudem den Lernprozess durch Praxis“, schreiben sie.
Dem Ideal der Ehelosigkeit können sie wenig abgewinnen. Dieses sei der Gipfel der „Disziplinierung der Sexualität“. Sexualität sei jedoch „eine starke Lebenskraft“, die sich „nicht wegrationalisieren“ lasse. Neben der Fortpflanzungsfunktion habe sie eine Lust-, Bindungs- und Identitätsfunktion. Nur ein Prozent der Menschen sei asexuelle, für alle anderen komme „das Sublimieren sexueller Bedürfnisse einem Kampf gegen das eigene Selbst gleich“, schreiben sie wörtlich.
Mit dem Pflichtzölibat setze sich die Kirche „über sexuelle Menschenrechte ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinweg“. Jedes „Scheitern“ verursache Scham. Die Menschen stünden unter „Geheimhaltungs- und Schulddruck“, würden allein gelassen „und verstummen“. Diese „unselige Dynamik“ habe „umfangreiches Schadenspotential für die eigene Gesundheit“. Gleichzeitig werde der „verklemmte Umgang zum Risikofeld sexueller Übergriffe in Seelsorge und Pastoral“.
Die Autoren räumen ein, dass der Pflichtzölibat keine monokausale Ursache für Gewalt sei. Er stütze aber „ein System der Scheinheiligkeit“, schaffe ein „Lügengebäude, hinter deren keuschen Fassade Menschen in (sexueller) Not vereinsamen“. Prävention hingegen brauche „ehrlichen Dialog“.
Karin Iten studierte Umweltnaturwissenschaften an der ETH. Sie ist ehemalige langjährige Geschäftsführerin der Fachstelle «Limita» zur Prävention sexueller Ausbeutung. Aktuell ist sie Präventionsbeauftragte im Bistum Chur und Co-Leiterin der neuen Geschäftsstelle des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz.
Dr. iur. can. Stefan Loppacher (Jg. 1979), Priester des Bistums Chur, studierte Theologie an der Theologischen Hochschule in Chur und promovierte in Rom im Bereich «Kirchliches Strafverfahren und sexueller Missbrauch Minderjähriger». Er ist Präventionsbeauftragter im Bistum Chur, Richter am Diözesangericht des Bistums Chur in Zürich und Co-Leiter der neuen Geschäftsstelle des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz.
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