„Nach dem großen Glaubensverlust wird es einen kraftvollen Aufbruch geben“

8. Dezember 2021 in Kommentar


„Es ist an der Zeit, eine Grundsatzfrage zu stellen“ – „Eine Kirche, die nur noch NGO sein möchte und sich liebedienerisch dem Zeitgeist andienen möchte, ist keine Kirche Jesu Christi mehr.“ Gastbeitrag von Martin Lohmann


Bonn (kath.net) Es ist an der Zeit, eine Grundsatzfrage zu stellen: Was ist die Kirche? Welchen Auftrag haben die Christen? Wofür stehen sie - mehr als nur gefühlt – in Deutschland? Und: Wie wird das kirchliche Leben morgen aussehen? Zugegeben: Das ist eine schwierige Frage. Vielleicht auch eine freche. Aber eine notwendige. Doch sie muss endlich gestellt werden, und darüber ist buchstäblich dringend zu reden. Erst recht in diesen Wochen, wo ein neues Kirchenjahr begonnen hat, das – eigentlich – eine Fasten- und Bußzeit ist im Blick auf Weihnachten. Und da wird etwas gefeiert, von dem wohl auch viele Christen nichts mehr wissen wollen.

Wen interessiert schon die Menschwerdung Gottes! Wen interessiert heute noch, dass der große und allmächtige ewige Gott sich als Vater für jeden und jede – man möchte sagen – outete! Wer von den Christen glaubt noch tatsächlich, dass Jesus Christus der Gottessohn ist! Damals wie heute. Das hätte ja Konsequenzen. Vor allem für die Kirchen und deren Verkündigung, zu der – eigentlich – das Heil der Seelen und der Blick auf eine wirkliche Erlösung gehört. Mitten im Leben. Aber das ist nicht einfach in Zeiten, in denen echte Moral ersetzt zu werden scheint durch moralinsaure Ersatzmoral, wo in Fragen des Klimas, der Flüchtlinge, der Autos und des Impfens neue Todsünden beim Nachfragen und Mitdenken automatisch den „Schwerstsündern“ umgehängt werden. Unverzeihlich und unvergebbar natürlich.

Bei aller gebotenen Notwendigkeit, sich und andere zu schützen gegen vor allem ansteckende Krankheiten, gilt eben auch, was manche in einer verständlicherweise aufgeladenen und bisweilen auch immer deutlicher werdenden gesellschaftsspaltenden Situation und je nach zugelassener Informationsquelle missverstehen (können): Dieses Leben ist – zumindest aus christlicher Sicht, wo es auch um den Gesundheitsschutz der Seele gehen muss und es keine Exklusivität geben darf, weil Leib und Seele eine Einheit bilden und beide zu schützen sind – mehr als Impfung und Gesundheitsschutz ausschließlich des Körpers. Gewiss, das gehört definitiv auch dazu, so wie es nur konsequent und logisch ist, aus der allen Menschen angebotenen Gotteskindschaft einen unbedingten Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Hilfe abzuleiten und sich als Christ konkret für den Schutz des Lebens und sein Recht darauf einzusetzen. Immer und überall.

Aber es drängt sich mehr und mehr der Eindruck auf, als wollten sich die Kirchen vor allem den irdischen Sehnsüchten politischer Ideologien anpassen. Man will gefallen: in der Klimapolitik, in der Flüchtlingspolitik, in der Impfpolitik. Viele wollen einfach nur modern sein, obwohl das beileibe keine christliche Tugend an sich ist. Sich der Wahrheit zu verpflichten und sie zu verkünden, ist vielmehr immer aktuell. Aber modern? Doch Widerstand gegen eine reine immanente Weltsicht scheint aus der eigenen Auftragsverpflichtung vielerorts gestrichen zu sein. Ist das nur Anpassung aus Feigheit? Oder schon selbstvollzogene Gleichschaltung? Und wenn ja, woher speist sich diese Selbstaufgabe in Zeiten von kultivierter Angst und der darauf folgenden Freiheitsvernichtung?

Könnte es sein, dass wir in Zeiten des eklatanten Glaubensverlustes leben? Von vielen Verantwortlichen in der Kirche hört man viel Nachgeplappertes, aber wenig Substantielles. Der sogenannte Synodale Weg ist ein augen- und ohrenfälliges Zeichen dafür, dass nicht mehr gewusst wird oder werden soll, worum es bei der christlichen Botschaft im Kern wirklich geht. Die dort brav verfolgte Matrix ist vor allem von Anpassung und Selbstzerstörung geprägt. Man will auch so sein wie die profane Welt – bis hin zum Verständnis einer gelebten Sexualität, die nichts mehr mit der „Theologie des Leibes“ (Johannes Paul II.) zu tun hat, und die die Wirklichkeit der Erschaffung des Menschen als Mann und (!) Frau ausblendet. Aus Bischofsmund hört man gar, man könne diese Ansprüche von Respekt und Ordnung dem heutigen Menschen nicht mehr zumuten. Wirklich?

Da manche Themen aus dem Verkündigungskatalog regelrecht gestrichen – oder zumindest vergessen – geworden zu sein scheinen, ist es Zeit für Fragen. Für viele Fragen. Auch wenn es seltsam erscheinen mag: Sie sind notwendig und helfen – allein schon durch das durchaus unbequeme Stellen dieser Fragen – möglicherweise zur Wachsamkeit und vielleicht auch zum nachdenkenden Erkennen. Wo wird beispielsweise noch über Beichte gepredigt? Wo wird dieses so in Geist und Seele heilsam wirkende Sakrament der Versöhnung – immerhin mit dem liebenden und heilenden Gott selbst! – in den Horizont des Trostes und der nicht nur seelischen Gesundung gestellt? Und: Wo wird wirklich noch das Sakrament der real gegenwärtigen Gottesnähe in der Allerheiligsten Eucharistie gezeigt, angebetet und ehrfurchtsvoll gelebt? By the way: Ehrfurcht ist das Gegenteil von Angst und Panik.

Kein Wunder also, dass immer mehr dieser Kirchenwirklichkeit des verweigerten Profils und Anspruchs den Rücken kehren. In Deutschland und in Europa. Wen kümmert es schon, dass in anderen Regionen der Welt die Kirche wächst! Wo bleibt erkennbar das unterscheidend Andere, das notwendige Mehr? Wo bleiben die mutigen Stimmen, die aus dem Einheitsbrei heutiger Mentalnebel herausleuchten und den Weg bahnen zum wirklichen Licht? Warum hört man nichts aus der Kirche über die mit der Menschwerdung Gottes angebotene Vollerlösung jedes einzelnen, indem man sich an die Frohe Botschaft – die eben mehr ist als Soziales und „nur“ körperliche Gesundheit, die sehr wichtig ist und zur Sehnsucht gehört – hält, ihr nacheifert? Warum hört man so wenig gegen das Schleifen des Lebensrechts und des Lebensschutzes aus der Kirche? Wo sind die Warnungen vor einem sogenannten Transhumanismus, der alles andere als etwas Humanes ist? Warum haben so viele Geistliche regelrecht Angst vor Gottesdiensten? Warum fürchten sie so sehr die Anbetung Gottes im Sakrament des Altares? Warum sind ihnen – gewiss, es ist nicht kommod, so zu fragen – Masken wichtiger als die sakramentale Begegnung mit dem real existierenden Gott?

Sicher: Deutschland ist immer etwas Spezielles. Wohl inzwischen auch die Kirche in Deutschland, die sich längst selbst degradiert hat zur „deutschen Kirche“. Man könnte den Verdacht haben, dass es für all das einen – sicher nicht den einzigen – entscheidenden Grund gibt: Geld. Nirgendwo sonst sind die Kirchen mit ihren garantierten jährlichen Milliardeneinnahmen so sehr gepampert wie in Deutschland. Aber der pekuniären Potenz steht eine geistige und spirituelle Impotenz entgegen. Es ist sicher richtig, dass mit viel Geld viel Gutes gemacht wird. Aber eben nicht nur! Siehe – neben dem Synproz – Katholiken- und Kirchentage, auf denen man vor allem fast schon untertänigst den Politikern huldigt und ihnen eine Propagandabühne bietet. Das pekuniäre Vermögen ist keine Einladung, etwa als Bischof vor allem die Rolle des Vorstandsvorsitzenden eines großen Immobilienkonzerns oder eines potenten Wirtschaftsunternehmens zu spielen.

Sie sind – wie alle, die dazu berufen sind – in erster Linie Seelsorger. Vielleicht wird man sehr bald einmal ernsthaft darüber zu reden haben, ob das deutsche System der Kirchensteuer dauerhaft segensreich ist, oder ob nicht die Zeit gekommen ist, Freiheit für den Glauben zu ermöglichen durch Abschaffung dieser nach wie vor selbstverständlichen Realität und Neigung zur Abhängigkeit von Staat und Politik. Und dabei ist noch nichts über die Tatsache ausgesagt, ob und inwieweit die Kirche und die kirchlichen Gemeinschaften angesichts eines unübersehbaren Verdunstens des Glaubens bis in hohe und finanziell sorgenfreie Kirchenkreise hinein kleiner werden könnte oder gar sollte, um ein glaubwürdiges Zeichen des Widerspruchs mitten in einer kalten und technisierten Welt mit verweigerter Humanität sein zu können. Es ist höchste Zeit zur Besinnung – und zum angstfreien Glaubenszeugnis, der eine liebevolle Mission ermöglicht. Liebevoll auch, weil glaubwürdig und echt. Die Botschaft, die an Weihnachten begann, sich so klar zu zeigen, ist nämlich weder modern noch altmodisch oder überholt. Sie ist im Tiefsten vor allem eins: wahr.

Andererseits muss man verstehen, dass in Zeiten der Ängstlichkeit und der Verwirrung überall Potentiale der Angst geweckt werden. Doch das ist, man mag es mögen oder nicht, wie gesagt keineswegs die erste aller Christenbegabungen. Viele trauen sich ja gar nicht mehr, das Wort „Mission“ in den Mund zu nehmen. Dabei sind – objektiv gesehen – die Herausforderungen und die Chancen diesbezüglich größer denn je. Doch werden sie genutzt? Werden sie überhaupt erkannt?

All das lässt die keineswegs gewagte Vermutung zu, dass sich das kirchliche Leben konkret in den kommenden Jahren, in denen eine antikirchliche Politik der menschenverachtenden Ideologie das Ihrige tun wird, den Stachel des Widerstands gegen die Vernichtung des unbedingten Lebensrechtes und der unantastbaren Würde eines jeden Menschen mit Freiheit und Verantwortung zu schleifen, sich im öffentlichen Leben zurückziehen wird. Manche sprechen gar von Untergrundchristentum. Muss das so sein? Wohl kaum.

Krisenzeiten mit starkem Glaubensverlust gab es schon viele in der Kirchengeschichte. Das Versagen, die Feigheit und die Anpassungssucht, jene verlockende Verführung, sich dem jeweiligen Zeitgeist um vermeintlicher Anerkennung willen zu ergeben, ebenfalls. Schön oder bequem war dies bei Licht betrachtet niemals. Aber es gab immer wieder – nach dem Vernebeln und Verdunsten von Wahrheitserkenntnis und Mut – den Aufbruch, das Neuentdecken dessen, worauf es letztlich ankommt und was wirklich Freiheit zum Leben ermöglicht. Nach der Angst meldete sich stets wieder die Tapferkeit, gepaart mit Klugheit und Glaubensstärke.

Wann eine solche Phase der Wiederauferstehung kommen wird, kann heute niemand genau sagen. Doch es wird diesmal wohl vor allem die Zeit der Laien sein, die sich frei und unbeirrt auf Christus ausrichten werden und die Treue zum lebendigen und konkreten liebenden Gott nicht nur einfordern, sondern buchstäblich mit Leben füllen werden. Einladend. Klar. Unbeirrt. Frei von den Lasten und Versuchungen eines Amtes. Nicht als Funktionäre von Komitees, Vereinen oder Verbänden. Aber als Träger des wahren Lichts, der Freiheit und des Respekts. Ja, es könnte so kommen.

Es wird immer mehr ganz konkrete Entscheidungssituationen geben. Im Kleinen wie im Großen. Denn eine Kirche, die nicht mehr Kirche zu sein sich traut, die also sich wegduckt, wenn der Wind kälter wird, und die den Mut zur Verkündigung der immer gültigen Wahrheit sich nicht mehr zutraut – eine solche Kirche braucht niemand. Eine Kirche, die nur noch NGO sein möchte und sich liebedienerisch dem Zeitgeist andienen möchte, ist keine Kirche Jesu Christi mehr. Die Kirche von morgen wird mutig, klein und klar sein müssen. Oder sie wird nicht sein. Aber auch in Deutschland brauchen Freiheit, Würde, Lebensrecht und Zukunft die Kirche – mit Christen, die im ganz persönlichen Leben vor Ort Zeugen der Wahrheit sind.

kath.net-Buchtipp:

Wahrheit - Die DNA der Kirche
Von Lohmann Martin; Müller Gerhard Kardinal
Hardcover, 344 Seiten;
2020 fe-Medienverlag
ISBN 978-3-86357-277-8
Preis Österreich: 20.40 EUR


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