Kompendium der Soziallehre der Kirche – Vorschläge zur Aktualisierung

18. Dezember 2021 in Kommentar


„Das Kompendium ist ein großartiges Werk“, es braucht jetzt einige wenige Aktualisierungen z.b. im Bereich Bioethik und Genderideologie. Gastbeitrag von Manfred Spieker, Teilnehmer/Konferenz des Dikasteriums für die integrale Entwicklung des Menschen


Vatikan-Osnabrück (kath.net)

Im Jahr 2004 veröffentlichte der Päpstliche Rat Justitia et Pax das Kompendium der Soziallehre der Kirche, das in viele Sprachen übersetzt wurde und 2006 auch auf Deutsch erschienen ist. Es soll bis zum 20. Jahrestag der Veröffentlichung 2024 aktualisiert werden. Dazu veranstaltete das inzwischen dafür zuständige Dikasterium für die integrale Entwicklung des Menschen, in dem der Päpstliche Rat Justitia et Pax im Jahr 2017 aufgegangen ist, am 13.12.2021 eine Video-Konferenz, zu der mich der Präfekt des Dikasteriums, Peter Kardinal Turkson, eingeladen hatte. Hier meine Vorschläge für die Aktualisierung in einer längeren deutschen und in einer gekürzten englischen Fassung:

Kompendium der Soziallehre der Kirche – Vorschläge zur Aktualisierung

Vorbemerkung: Das Kompendium ist ein großartiges Werk – großartig in seiner Systematik, in seinem Inhalt, seiner Sprache und seinem Nutzen. Es fasst vor dem Hintergrund der Herausforderungen der Gegenwart die Soziallehre der Kirche von 120 Jahren zusammen. Papst Franziskus empfiehlt es in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ 2013 nachdrücklich als geeigneten Werkzeugkasten zum Studium der sozialen Fragen der Gegenwart (184). Was die ökumenische Bedeutung des Kompendiums betrifft, so demonstriert diese ein Brief, den mir ein anglikanischer Freund, Justin Welby, seit 2012 Erzbischof von Canterbury, am 28.9.2014 schrieb: Die katholische Soziallehre “is the benchmark for all other churches in the development of social teaching. It provides an invaluable centre of thought and even where questions are asked they are a response to an understanding that would be utterly lacking in the absence of the CST...CST has been formative and essential in my own social theology and teaching...is a corpus of teaching which is unique. If you look at the recent publication of Calvin’s teaching or the 2014 collection of essays edited by Malcolm Brown called Anglican Social Theology, they do not have the same pragmatic approach”.

Aber die katholische Soziallehre ist eine Baustelle, wie das Kompendium selbst sagt, „auf der immer gearbeitet wird und wo die ewige Wahrheit das jeweils Neue durchdringt …und Wege der Gerechtigkeit und des Friedens aufzeigt“ (86). Deshalb ist es konsequent zu prüfen, ob und, wenn ja, wo es aktualisiert werden soll. Welche neuen Herausforderungen sind zu berücksichtigen? Wo soll es also ergänzt werden? (I). Gibt es auch Korrekturbedarf und Kürzungsmöglichkeiten? (II)

I.    Neue Herausforderungen

1. Welches sind die res novae unserer Zeit? In Nr. 16 zählt das Kompendium selbst drei große Herausforderungen auf: Die erste sei die Frage nach der Wahrheit des Menschseins, nach den Grenzen und Beziehungen von Natur, Technik und Moral. Dies bleibt auch in der Gegenwart die erste Herausforderung. Die zweite Herausforderung bestehe im Verständnis und in der Handhabung des Pluralismus auf allen Ebenen und die dritte Herausforderung sei die Globalisierung, deren Bedeutung sich nicht auf die Wirtschaft beschränkt. Diese dritte Herausforderung kann ergänzt werden durch den Klimawandel, die Migration und die Corona-Pandemie. Papst Franziskus nennt in „Evangelii Gaudium“ noch zwei weitere große Herausforderungen der Gegenwart: die gesellschaftliche Eingliederung der Armen und den Frieden. Aber diese Herausforderungen sind kaum neu zu nennen. Sie sind so alt wie die Menschheit.

2. Die wichtigste neue Herausforderung ist die Biomedizin, die immer noch als vorrangiges Feld der Moraltheologie zugewiesen wird. Dies müssen wir ändern. Seit viele Staaten aber Anfang der 70er Jahre mit der Legalisierung von Abtreibung, assistierter Reproduktion, embryonaler Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik, Beihilfe zum Suizid und Euthanasie begonnen haben, ist das Feld der Biomedizin zu einem sozialethischen Problem geworden. Es ist nicht nur für die Betroffenen und ihre Familien, sondern für das Gemeinwohl eines demokratischen Rechtsstaates von zentraler Bedeutung. Dies ist auch die Botschaft der Enzyklika Caritas in Veritate. Papst Benedikt XVI. spricht wie schon Papst Johannes Paul II. von der dramatischen Alternative zwischen der Kultur des Lebens und der Kultur des Todes. “Die Kirche betont mit Nachdruck den Zusammenhang zwischen der Ethik des Lebens und der Sozialethik.” (15). Dies muss auch im Kompendium deutlich werden. "Der wichtigste und entscheidende Bereich der kulturellen Auseinandersetzung zwischen dem Absolutheitsanspruch der Technik und der moralischen Verantwortung des Menschen ist heute die Bioethik, wo auf radikale Weise die Möglichkeit einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung auf dem Spiel steht…Man steht vor einem entscheidenden Entweder-Oder“ (74). "Die soziale Frage ist in radikaler Weise zu einer anthropologischen Frage geworden, insofern sie die Möglichkeit beinhaltet, das Leben nicht nur zu verstehen, sondern auch zu manipulieren…Man kann nicht die beunruhigenden Szenarien für die Zukunft des Menschen und die neuen mächtigen Instrumente, die der Kultur des Todes zur Verfügung stehen, bagatellisieren. Zur verbreiteten tragischen Plage der Abtreibung könnte in Zukunft - aber insgeheim bereits jetzt schon vorhanden – eine systematische eugenische Geburtenplanung“ und eine mens euthanasica hinzukommen. (CIV 75). Das Kompendium deutet diese Probleme auch an, wenn es im Kapitel über die Familie davon spricht, dass die Methoden der assistierten Reproduktion zu einer „totalen Herrschaft des Reproduzierenden über das reproduzierte Individuum“ führen (235 und 236). Aber die Probleme der Biomedizin sind nicht nur Probleme der Familie, sondern Probleme des Staates und der Gesellschaft. Sie erfordern deshalb eine sozialethische Erörterung. Die katholische Soziallehre ist in erster Linie eine Sozialethik, das heißt sie fragt, wie müssen Staat und Gesellschaft in ihren Institutionen und Strukturen geordnet werden, um das Gemeinwohl zu sichern.

3. Eine weitere Herausforderung, deren Bedeutung dramatisch zugenommen hat, ist die Gender-Ideologie. Auch sie wird im Kompendium schon kritisiert (224). Aber die Aussagen in 146 und 147 („Die Frau ist die Ergänzung des Mannes, so wie der Mann die Ergänzung der Frau ist: Mann und Frau vervollständigen einander, und das nicht nur in physischer und psychischer, sondern auch in ontologischer Hinsicht“) sollten ergänzt werden durch die Kritik der Gender-Ideologie im Apostolischen Schreiben von Papst Franziskus „Amoris Laetitia“ (2016). Diese Ideologie leugne „den Unterschied und die natürliche Aufeinander-Verwiesenheit von Mann und Frau… Sie stellt eine Gesellschaft ohne Geschlechterdifferenz in Aussicht und höhlt die anthropologische Grundlage der Familie aus“ (56).

II. Ergänzungen und Korrekturen

1.    Aus der Beschreibung der neuen Herausforderungen ergibt sich, dass die kurze Darstellung der Geschichte der Sozialenzykliken im Kompendium (89-103) nicht nur um die Enzyklika „Caritas in Veritate“ (2009), sondern auch um zwei weitere Enzykliken Benedikts XVI. „Deus Caritas est“ (2005) und „Spes Salvi“ (2007) sowie um die Enzyklika „Evangelium Vitae“ von Johannes Paul II. (1996) ergänzt werden sollte. „Evangelium Vitae“ ist eine herausragende und prophetische Sozialenzyklika. Darüber hinaus sind für die Problematik der Biomedizin auch die Instruktionen der Glaubenskongregation „Donum Vitae“ (1987) und „Dignitas Personae“ (2008) von Bedeutung und entsprechend zu würdigen.

2. Eine ausführlichere Würdigung verdient m. E. die Kooperation der Kirche mit Verbänden der Zivilgesellschaft – nicht nur mit katholischen Verbänden. Das Kompendium erwähnt die NGO’s zweimal kurz (159/293) als Dialogpartner im Bereich der Wirtschaft. Sie sind aber gerade im Bereich des Lebensschutzes ein wertvoller Partner der katholischen Kirche, wie zahlreiche Beispiele aus den USA, aber auch aus Australien zeigen. Die Erfolge im Kampf gegen die Abtreibung in den USA sind nicht zuletzt auf die dauerhafte und enge Kooperation der USCCB mit zivilgesellschaftlichen Pro Life-Verbänden zurückzuführen. Auch bei Erfolgen der Delegationen des Hl. Stuhls bei UN-Konferenzen (z. Bsp. in Peking) spielte eine solche Kooperation eine große Rolle. Es gibt aber auch Länder, in denen die Bischofskonferenzen und viele Bischöfe noch der Ermutigung bedürfen, um solche Allianzen zu bilden.

3. Ergänzt und gleichzeitig gekürzt werden sollte m.E. das 10. Kapitel des Kompendiums „Die Umwelt bewahren“. Es beschränkt sich auf die natürliche Umwelt des Menschen. Auch die Erörterung der Biotechnologie beschränkt sich auf Fragen der Landwirtschaft. Es bedarf der Ergänzung durch die „Humanökologie“, auf die Johannes Paul II. schon in Centesimus Annus und Benedikt XVI. in Caritas in Veritate 51 so sehr Wert legten. Das Kapitel enthält aber auch eine Reihe von Wiederholungen und trivialen Urteilen. Hier ließe sich ohne Verlust kürzen. Auch das umfangreiche 12. Kapitel „Social Doctrine and Ecclesial Action“, das den Eindruck erweckt, als wollten andere Päpstliche Räte auch noch etwas beisteuern, was in den elf vorhergehenden Kapiteln schon besser gesagt wurde, enthält Kürzungsmöglichkeiten.

4. Einzelfragen in den Kapiteln über Wirtschaft (7) und Politische Gemeinschaft (8): In Kapitel 7 findet sich die Feststellung, dass „der freie Markt der Gesamtheit nur dann Vorteile bringen kann, wenn von Seiten des Staates eine Organisation besteht, die die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt und lenkt” (353). Diese Erwartung zerstört den freien Markt und überfordert den Staat. Sie deckt sich auch nicht mit der sehr guten Beschreibung der Rolle des freien Marktes in den Ziffern (347-350). Der Staat muss für die rechtliche Rahmenordnung der Wirtschaft sorgen, aber nicht für die wirtschaftliche Entwicklung. In Kapitel 8 wird behauptet, dass der Weg des passiven Widerstandes “nicht weniger erfolgversprechend“ sei als der bewaffnete Kampf (401). In dieser Allgemeinheit ist die Behauptung nicht zutreffend. Die Geschichte des 2. Weltkrieges zeigt dies ebenso wie ein Blick heute in den Irak und nach Syrien. Im gleichen Kapitel werden die Beziehungen zwischen Kirche und Staat erörtert (424-427). Es fehlt ein Hinweis auf die Konkordate, die in einigen Ländern diese Beziehungen völkerrechtlich regeln.

5. Ergänzungsbedürftig erscheint mir schließlich im 3. Kapitel über die menschliche Person die Beschreibung des menschlichen Herzens (114). Das Herz wird hier mit den geistigen Eigenschaften, mit der Vernunft, der Unterscheidung von Gut und Böse, mit dem freien Willen identifiziert. Das Herz als die Mitte der Person aber ist mehr als geistige Eigenschaften und Vernunft. Es ist die Quelle der Liebesfähigkeit. Wenn die Kirche das Herz Jesu verehrt, verehrt sie nicht die intellektuellen Fähigkeiten Jesu, sondern seine Liebe zum Menschen. Das Kapitel drei „Die menschliche Person und ihre Rechte“ sollte auch einen Gedanken von Papst Franziskus aufnehmen, der sich wie ein roter Faden durch „Evangelii Gaudium“ zieht, den Gedanken, dass wir lernen müssen, „Jesus im Gesicht der anderen, in ihrer Stimme, in ihren Bitten zu erkennen“ (91), dass „die Mitmenschen die kontinuierliche Fortführung der Inkarnation für jeden von uns“ sind (179; vgl. auch 92, 198, 274).

Diese wenigen Punkte, in denen ich an das Kompendium Fragen stelle und Ergänzungen oder Korrekturen vorschlage, ändern aber nichts an meiner einleitenden Feststellung: das Kompendium ist ein großartiges und überaus nützliches Werk.

Compendium of the Social Doctrine of the Church

Preliminary remark: The Compendium is a brilliant work – brilliant concerning its systematic, its content, its language and its benefit. Against the background of today’s challenges it summarizes 120 years of the social doctrine of the Church. Pope Francis recommended it as a most suitable tool to study the social questions affecting today’s world (2013, EG 184). But the catholic social doctrine is a “work site”, as the Compendium says itself, “where the work is always in progress, where perennial truth penetrates and permeates new circumstances, indicating paths of justice and peace” (86). That is why it has to be consequently examined if and if appropriate where it should be brought up-to-date. I will confine myself to two questions: I. Which new challenges have to be considered? So, where should it be supplemented? And II. Are there also needs for corrections and abbreviation opportunities?

I.    New challenges

1. Which are the res novae of our time? The central new challenge is the biomedicine which is still assigned as a priority field to the moral theology. We have to change it. Since at the beginning of the seventies many states have started to legalize abortion, assisted reproduction, embryonic stem cell research, preimplantation genetic diagnosis, assisted suicide and euthanasia, the field of biomedicine has become a problem of social ethics. That is the message of the encyclical Caritas in Veritate. Like John Paul II., Pope Benedict XVI. talks about the dramatic alternative between a “Culture of Life” and a “Culture of Death”. “The Church forcefully maintains this link between life ethics and social ethics” (15). It must be underlined also in the Compendium. “A particularly crucial battleground in today's cultural struggle between the supremacy of technology and human moral responsibility is the field of bioethics, where the very possibility of integral human development is radically called into question...We are presented with a clear either/or” (74). “The social question has become a radically anthropological question, in the sense that it concerns not just how life is conceived but also how it is manipulated…Yet we must not underestimate the disturbing scenarios that threaten our future, or the powerful new instruments that the ‘culture of death’ has at its disposal.” (75)

2. The Compendium outlines these problems when it says in the chapter about the family that the methods of assisted reproduction lead to a total domination over the reproduced individual on the part of the one reproducing it (235 and 236). But the problems of biomedicine are not only problems of the family but problems of the state and of the society. That is why they demand a social ethic discussion.

3. An important challenge is also the ideology of gender – very good criticised in the Compendium 224. But what is said in the Compendium 146 and 147 about the dignity of man and woman (“Woman is the complement of man, as man is the complement of woman: man and woman complete each other mutually, not only from a physical and psychological point of view, but also ontologically”) can be supplemented by the critic of the ideology of gender of Pope Francis in the Apostolic Exhortation “Amoris Laetitia” 56 (This ideology “denies the difference and reciprocity in nature of a man and a woman and envisages a society without sexual differences, thereby eliminating the anthropological basis of the family”).

II. Supplements and corrections

1.    From the description of the new challenge results that the short historical presentation of the social encyclicals in the Compendium (89-103) should not only be supplemented with the encyclical Caritas in Veritate but also with two other encyclicals of Benedict XVI., “Deus Caritas Est” (2005, nr. 28) and “Spes salvi” (2007) and with the encyclical “Evangelium Vitae” (1996) of John Paul II.. “Evangelium Vitae” is an outstanding and prophetic social encyclical. Besides, the instructions “Donum Vitae” (1987) and “Dignitas Personae” (2008) of the Congregation for the Doctrine of the Faith are of great importance too and should be mentioned in corresponding manner. The tenth chapter of the Compendium “Saveguarding the environment“ can be supplemented and abbreviated at the same time. It is restricted to the natural environment of man. And the discussion of biotechnology is limited to agricultural questions too. It must be supplemented with the “human ecology” to which John Paul II. in “Centesimus Annus”, Benedict XVI. in “Caritas in Veritate” 51 and Pope Francis in “Laudato Si” (90,118,136,155) attached a great significance.
2.    
2. Particular questions in the chapters about Economic Life and Political Community: In chapter seven, “Economic Life”, there is a statement that “the free market can have a beneficial influence on the general public only when the State is organized in such a manner that it defines and gives direction to economic development…” (353). This expectation destroys the free market and overtaxes the state. And it doesn’t coincide with the very good description of the role of the free market in number 347-350. The state must provide for the legal frame of economics but not for the economic development. In Chapter eight, “The Political Community”, it is asserted that passive resistance has “no less prospects for success” than recourse to arms (401). In that general form this assertion is not appropriate. The history of the Second World War proves that, a today’s view into the Iraq or Syria as well.

3.    Finally, the description of the human heart in the third chapter about the human person in my opinion demands a supplement (114). Here, the heart is identified with spiritual faculties, with reason, the discernment of good and evil and the free will. But the heart as the centre of the person is more than spiritual faculties and reason. It is the source of the faculty to love. When the Church worships the heart of Jesus she doesn’t worship the intellectual faculties of Jesus but his love for the human. This chapter should also adopt an idea of Pope Francis which runs like a central thread through Evangelii Gaudium, the idea that we have to learn “to find Jesus in the faces of others, in their voices, in their pleas“ (91), that „our brothers and sisters are the prolongation of the incarnation for each of us“ (179; cf. also 92, 198, 274).

These few points don’t modify my statement at the beginning: The Compendium is a brilliant and extremely useful work.

Prof. Dr. Manfred Spieker (siehe Link) ist emeritierter Professor für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück.


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