Ein 10-Jahres-Plan für die katholische Kirche

11. Jänner 2022 in Kommentar


„In den nächsten 10 Jahren sollen sich alle proportional zu den Zahlen der Sätze des IV. Kapitels von «Lumen Gentium» der Sendung der Laien annehmen.“ Gastbeitrag von Martin Grichting


Chur-Linz (kath.net) Das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) hat in der Dogmatischen Konstitution «Lumen Gentium» (LG, Nr. 10) an eine unaufgebbare Glaubenswahrheit erinnert. Wenn diese überrannt wird, ist die katholische Kirche nicht mehr katholisch. Es geht um den Wesensunterschied zwischen dem hierarchischen Priestertum, das durch das Sakrament der Weihe vermittelt wird, und dem gemeinsamen Priestertum der Gläubigen, an dem sie aufgrund der Sakramente der Taufe und Firmung Anteil haben: «Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich zwar dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach. Dennoch sind sie einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil».

Seit einem halben Jahrhundert wird auf Synoden und ähnlichen Foren gegen diesen ehernen Grundsatz, angesprochen, angeschrieben und versucht, «anzuentscheiden». Es sind «Parlamente», in denen Klerus und Laien vertreten sind. Auch wenn die Themenfelder vielfältig waren: Immer ging und geht es letztlich – und das meist nach politischen Kriterien – um die «Macht» in der Kirche. Die Kirche in der Schweiz erinnert sich heuer daran, dass vor 50 Jahren die «Synode 72» begann. In Deutschland lief damals schon die «Würzburger Synode» (1971-1975). Kirchlicher Parlamentarismus unter vermeintlich Gleichen – deren Sendung sich eben doch wesensmässig voneinander unterscheidet – wurde fortgesetzt in einem «Gesprächsprozess» (2011-2015) und seit 2020 im «Synodalen Weg».

Der Kanonist Norbert Lüdecke hat unter dem Titel «Die Täuschung» akribisch diese Leidensgeschichte nacherzählt. Die von ihm gewählte Sprache lässt erahnen, welche Wut das ergebnislose Anrennen gegen «Lumen Gentium» 10 inzwischen generiert hat. Weil die Sendung von Klerus und Laien sich unaufhebbar wesensmässig voneinander unterscheidet, aber man das stets vernebelt hat, spricht Lüdecke von «gezielter Partizipationsfiktion», von «katholisierender Umdeutung von vertrauten Begriffen», von der «lehramtlichen Machtausübung durch verbale Falschmünzerei», von «Verschleierung von Ungleichheit». «Synodalität» sei «herunterkatholisierte» Demokratie. Es handele sich um «innerkirchliche Konsensbildung durch hierarchisch gesteuerte Mehrheitsfindung als Demokratieersatz». Trotz jahrelangen Diskussionen befänden sich die Bischöfe immer noch auf «ihrem Wesenspodest», das uneinnehmbar im «potemkinschen Synodaldorf» steht. Die Rechtgläubigkeit, die Orthodoxie, sei für viele heute «Ortho-Toxie» – reines Gift.

Besser hätte man nicht illustrieren können, was Manfred Lütz schon vor über 20 Jahren festgestellt hatte: Das Anrennen gegen den Wesensunterschied von Priester und Laie sei nichts anderes als eine «sorgfältig geplante Frustration». Guter Wille soll niemandem abgesprochen werden. Aber man kommt nicht um den Schluss herum: Enorm viel Energie ist in den letzten 50 Jahren sinnlos verpufft. Was an Engagement von Laien dazu hätte dienen sollen, die Kirche in der Gesellschaft besser zu verankern und wirksam werden zu lassen, hat sich gegen die Kirche selbst gewendet. Wenn beim «Synodalen Weg» nun darüber diskutiert werden soll, ob es den Priester noch brauche, wird dem Klerus das Existenzrecht abgesprochen. Das ist der Endpunkt einer tragischen Fehlentwicklung. Auch wenn man Norbert Lüdeckes ätzender Kritik nicht folgen will, ist klar: So kann es nicht mehr weitergehen. Denn es wird zum depressiven Zusammenbruch kommen oder zum Bruch mit der Weltkirche.

Was ist da schiefgelaufen? Vielleicht kann man es mit nüchternen Zahlen sagen. Im IV. Kapitel von «Lumen Gentium» wird in 89 (neunundachtzig) Sätzen ausführlich darüber gesprochen, wie alle Laien, aufgrund von Taufe und Firmung, auf ihre eigene Weise, am dreifachen Amt Christi, des Propheten, Priesters und Königs teilhaben. In ganzen 2 (zwei) Sätzen spricht das Konzil in LG 33 davon, dass einige Laien auch am Apostolat der Hierarchie in gewissem Grad mitwirken können.

Was aber ist geschehen? Es ist zu billig, einseitig die bzw. bestimmte Gruppen von Laien zu beschuldigen. Sie wurden manipuliert, man hat ihnen nicht reinen Wein eingeschenkt. Das ist in erster Linie ein kolossales Versagen der akademischen Theologie. Und auch der kirchlichen Leitung fehlte leider oft der Mut zur Wahrheit. Das hat alles noch schlimmer gemacht, wie man heute sieht. Wenn man sich die theologische Produktion der letzten 50 Jahre anschaut, wenn man oberhirtliches Bemühen auf den Ebenen von Weltkirche und im deutschen Sprachraum analysiert, kommt man leider zum Ergebnis, dass ganze Bibliotheken gefüllt wurden zu den erwähnten 2 (zwei) Sätzen aus LG 33. Auch das Hauptaugenmerk der Hierarchie hat sich darauf konzentriert. «Christifideles Laici» des hl. Papstes Johannes Paul II. ist die löbliche Ausnahme. Aber man hat ihn (auch) hier weitgehend ignoriert. Welcher Laie, der heute am Leben der Kirche mit gutem Willen teilnimmt, hat schon davon gehört, dass das II. Vatikanische Konzil die allen Laien zustehende, 7 Tage in der Woche, 24 Stunden am Tag zu lebende kirchliche Sendung in 89 (neunundachtzig) Sätzen theologisch und geistlich tiefgründig dargelegt hat? Das zu kennen und zu verinnerlichen hätte geistlichen Wert. Aber nur die fruchtlosen Kämpfe um die Mitwirkung einiger Laien an der Sendung der Hierarchie sind den Laien gut vertraut. Das entmutigt sie und entfremdet sie ihrem Christsein.

Was ist also zu tun? Es braucht eine dogmatische Bekehrung, die dann auch eine pastorale sein muss: Ab sofort und in den nächsten 10 Jahren sollen sich die akademische Theologie, das kirchliche Lehramt – weltkirchlich und teilkirchlich – sowie die Verkündigung auf der Ebene der Pfarreien proportional zu den Zahlen der Sätze des IV. Kapitels von «Lumen Gentium» der Sendung der Laien annehmen. Also: Zu 89 (neunundachtzig) Teilen soll verkündigt und Anleitung dazu gegeben werden, wie die Sendung aller Laien in der Gesellschaft, in Familie, Beruf, Politik, Medien, Freiheit, Zivilgesellschaft gestaltet werden kann. Und es soll erklärt werden, dass dies die eigentliche, allen Laien geltende kirchliche Sendung ist, ihr spezifischer Weg, Kirche zu sein. Es soll betont werden, dass das Leben dieser Sendung für das Leben und Überleben der Kirche genauso unverzichtbar ist wie die wesensmässig verschiedene Sendung Hierarchie. Diese besteht nicht darin, zu «herrschen», sondern den Laien das Leben ihrer Sendung zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Und zu 2 (zwei) Teilen kann dann irgendwann auch noch über die Mitarbeit einiger Laien an der Sendung der Hierarchie diskutiert werden.

Das ist das heute erforderliche 10-Jahres-Programm der Kirche. Nach 10 Jahren kann man dann Bilanz ziehen. Die Wahrheit wird uns frei machen. Und sie wird – im Gegensatz zum 50jährigen Anrennen gegen sie – ihre Früchte bringen.

Domkapitular Dr. habil. Martin Grichting ist Priester und Kirchenrechtler, er war Generalvikar des Bistums Chur und beschäftigt sich publizistisch mit philosophischen sowie theologischen Fragen.


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