„Das ist die Stoßrichtung. Es geht um Diskreditierung“

12. Jänner 2022 in Interview


Papst-Biograf Peter Seewald kritisiert Attacken der „Zeit“ gegen Benedikt XVI. - „Statt den Skandalbericht aus Hamburg kritisch zu hinterfragen, hatte der Chefredakteur der KNA nichts Besseres zu tun, als diese Linie eiligst aufzunehmen“


München (kath.net)

In einem Interview mit der „Passauer Neuen Presse“ erhebt Papst-Biograf Peter Seewald schwere Vorwürfe gegen die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Das Blatt hätte eine Mitschuld Benedikt XVI. an einem Missbrauchsfall konstruiert, um seine Person und sein Vermächtnis zu diskreditieren. kath.net bringt mit freundlicher Genehmigung von Peter Seewald eine erweiterte Fassung des Interviews.

Für nächste Woche wird ein Anwalts-Gutachten über den sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising erwartet. Es betrifft auch die Amtszeit Ratzingers als Bischof. Was erwarten Sie von dem Gutachten?

Peter Seewald: Der Bericht wird bestätigen, was man in dem vieldiskutierten Fall eines schuldig gewordenen Priesters auch jetzt schon wissen kann: Ratzinger hat als Bischof von München weder von der Vorgeschichte dieses Priesters gewusst, noch war er daran beteiligt, dass der Mann wieder in der Seelsorge eingesetzt wurde.

Um was genau geht es?

Peter Seewald: Es geht um den Priester Peter H. aus dem Bistum Essen. Als der Kaplan von Eltern mit gutem Grund beschuldigt wurde, sich an einem Ministranten vergangen zu haben, bat der Generalvikar des Bistums Essen seinen Amtskollegen in München, den Mann in der Diözese für eine begrenzte Zeit zu Therapiezwecken aufzunehmen. Der Münchner Ordinariatsrat entschied sich auf einer Sitzung am 15. Januar 1980, der Bitte nachzukommen. Der damalige Generalvikar Gerhard Gruber erteilte daraufhin die Anweisung, Peter H. in einem bestimmten Pfarrhof der Diözese unterzubringen. Eine Kopie der Anweisung ging wie üblich an den Erzbischof.

Wissen Sie mehr darüber?

Peter Seewald: Ich habe Gruber für meine Ratzinger-Biografie interviewt. Das Gespräch fand am 27. März 2014 statt. Der frühere Generalvikar bestätigte, ja, er habe die genannte Anweisung gegeben. Es sei dabei ausschließlich um die Unterbringung zu einer Therapie gegangen. Ein Therapeut stand schon bereit. Die genauen Hintergründe für die Therapie wurden aus Essen allerdings nicht mitgeteilt. Gruber über den Priester aus dem Ruhrpott: „Es war nie die Frage, ihn in der Seelsorge einzusetzen.“ Die beschlussfassende Ordinaratssitzung vom 15. Januar 1980 hat Ratzinger als Bischof weder geleitet, noch hat er überhaupt an ihr teilgenommen.

Über seinen Sekretär Georg Gänswein ließ der emeritierte Papst mitteilen, er habe von den Vorwürfen gegen den Priester keine Kenntnis und mit dessen Einsatz in der Pfarrgemeinde nichts zu tun gehabt.

Peter Seewald: Tatsächlich war Ratzinger zur fraglichen Zeit längst Präfekt in Rom. Dass es hier ein Gesamtversagen gibt, wird von Ratzinger nicht bestritten, im Gegenteil. Wenn es jemanden gab, der den Missbrauch in der Kirche eben nicht verschwieg, dann war er es. Unvergesslich sein erschütternder Klageruf als Kardinal beim Kreuzweg im Jahr 2005: „Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche, und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten?“ 

Hat Sie der Bericht in der „Zeit“ überrascht?

Peter Seewald: Dass im Vorfeld des Untersuchungsberichtes diese Thematik erneut ausgefahren werden wird, war zu erwarten. Der Zeitpunkt war gewissermaßen die letzte Möglichkeit, um ungeniert spekulieren und den früheren Papst anklagen zu können, unabhängig von Fakten und Untersuchungsergebnissen. Überrascht hat mich die reißerische Aufmachung der Geschichte und die offen manipulative Darstellungsweise. Ich kenne bei der „Zeit“ großartige, seriöse Kollegen, die ihren Beruf ernst nehmen. Das heißt auch: ihre Verpflichtung zur Wahrheit. In diesem Fall gaben die Autoren klar zu erkennen, dass sie bereit sind, für den vermeintlich „guten Kampf“, den sie führen, sich die Dinge zurechtzubiegen. Ratzinger ist ein Mann der Vernunft, ein moderner Denker und Theologe, aber eben auch einer, der nie bereit war, die Grundlagen der katholischen Kirche dem Zeitgeist zu opfern. Und das macht ihn unbequem. Mancher hofft, die neuen Attacken würden dem bald 95-jährigen nun den letzten Stoß geben. Das Kalkül ist: egal, ob die Vorwürfe stimmen oder nicht – irgendwas wird schon hängenbleiben.

Auf der Titelseite der „Zeit“ heißt es: „Wie viel Schuld trägt Benedikt XVI. am Treiben eines Sexualtäters in seinem alten Bistum?“. Die Doppelseite im Blatt selbst  wird im Stil des investigativen Journalismus‘ als „Enthüllung“ aufgemacht.

Peter Seewald: In Wahrheit ging der Fall bereits 1986 durch die Medien. Neben der New York Times veröffentlichte auch die Süddeutsche Zeitung am 12. März 2010 einen Bericht über Peter H.. Überschrift: „Ratzingers Bistum setzte pädophilen Pfarrer ein.“ Auch wenn die Beteiligung Ratzingers nicht zur Debatte stand – nun hatte man zumindest eine Schlagzeile. Der Spiegel setzte nach: „Missbrauchsfall in Ratzinger-Bistum aufgedeckt“. Am selben Abend meldete das Heute-Journal, der Missbrauch habe nunmehr auch „den Vatikan erreicht“. Die öffentliche Erklärung von Generalvikar Gruber, er sei es gewesen, der H. verhängnisvollerweise wieder in der Pfarrseelsorge eingesetzt habe, wurde abgetan. Das sei nur ein Bauernopfer, um den Papst aus der Schusslinie zu nehmen.

Neu sei immerhin, so die „Zeit“, dass es nun Belege gibt, ein kirchliches „Dekret“, das Benedikt belaste.

Peter Seewald: Über dieses „Dekret“ aus dem Jahr 2016 berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits 2018, die Süddeutsche 2020. Offenbar hat erst jetzt die Zeit davon erfahren. „Dekret“ klingt nach einem höchstrichterlichen, über jeden Zweifel erhabenen Urteil. Aber diesen Titel tragen in der Kirche auch Abschlüsse von Verwaltungsstrafverfahren. Im Fall des Peter H. entstand das „Dekret“ unter Federführung des Münchner Kirchenrichters Lorenz Wolf. Wolf musste auf Geheiß aus Rom tätig werden. Die Bischöfe Reinhard Marx aus München und Franz-Josef Overbeck aus Essen hatten vor, den schuldigen Priester aus dem Klerikerstand zu entlassen, und zwar ohne Prozess. Die römische Glaubenskongregation unter Kardinal Gerhard Müller meinte, nein, so ginge das nicht. Wolf ist Entscheidungsträger mit einer Vielzahl von Posten in der Kirche. Die „Zeit“ selbst gibt zu bedenken, er haben bei der Verfassung des „Dekretes“ wohl mit Bedacht auf die Fehler anderer gezeigt, um die eigene Reputation nicht zu gefährden. „Wolf schillert“, räumen die „Zeit“-Autoren über ihren Kronzeugen ein, „er ist Teil von Rivalitäten, gehört zum System“.

In dem Wolf-Papier heißt es, die Bischöfe und ihre Generalvikare in München und Essen seien der „Verantwortung gegenüber den ihrer Hirtensorge anvertrauten Kindern und Jugendlichen nicht gerecht geworden“.

Peter Seewald: Der Befund ist pauschal und trifft auf alle in diesem Zeitraum amtierenden Bischöfe in Essen und München. Er ist andererseits erschütternd, weil der Priester aus dem Ruhrgebiet selbst nach der Verurteilung wegen Missbrauchs im Juni 1986 weiter eingesetzt wurde, ob als Altenseelsorger oder als Hilfspriester. Nach 2008 beschäftigte ihn Kardinal Marx in der Kurseelsorge in Bad Tölz. Aber auch die „Zeit“ kann keinen Beleg dafür erbringen, dass Ratzinger zu irgendeinem Zeitpunkt an der Widereinsetzung dieses Priesters beteiligt war.

Die „Zeit“ schreibt: „Selbst wenn Ratzinger nicht Bescheid wusste, ist es seine Pflicht als Chef, davon Kenntnis zu haben“.

Peter Seewald: Das klingt in einer so fulminant aufgemachten Anklageschrift dann doch ein wenig hilflos. Klar, ein Chef bleibt immer in Verantwortung, ob als Chef in der Kirche oder als Chef in einer Zeitungsredaktion. Niemand ist ohne Schuld, auch ein Papst nicht. Es gab damals in München jedoch keine Veranlassung, eine Untersuchung oder ein kirchliches Strafverfahren einzuleiten, wie die „Zeit“ das mokiert, denn zuständig blieb weiterhin H.s Heimatbistum Essen.

Als Zeugen für die Verfehlung Ratzingers werden von der „Zeit“ zwei Professoren für Kirchenrecht aufgeführt.

Peter Seewald: Es gehört zu den leichtesten Übungen von Journalisten, sofort irgendwelche Experten zur Hand zu haben, die das erwünschte Statement liefern. In kirchenpolitischen Fragen ist das zumeist der unvermeidliche Professor Thomas Schüller aus Münster. Er hat in der Dauerdienstbarkeit für linksliberale Medien die Nachfolge von Hans Küng angetreten. Im „Zeit“-Artikel kritisieren die Angefragten dann das „krasse Versagen mehrerer Hierarchen im Umgang mit Missbrauchstaten“. „Und Benedikt?“, schieben die Zeit-Autoren ungeduldig nach, als ob es zur „Tatzeit“ bereits einen Benedikt XVI. gegeben hätte. Sie formulieren dann gleich selber, dass dessen Verhalten „nicht von einem der Würde des Bischofsamtes angemessenen Verantwortungsbewusstsein“ gezeugt habe. Kirchenrechtsprofessor Bernhard Anuth springt gerne mit einer Bestätigung bei: Ja, sagt er tief betroffen, „so handelt kein guter Hirte“.

Die „Zeit“-Autoren gehen mit keinem Wort auf Ratzingers Verhalten im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch ein.

Peter Seewald: Sie hätten dann die Initiativen und Maßnahmen benennen müssen, die Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst auf den Weg brachte. Der Kampf gegen den Missbrauch in der katholischen Kirche gehört zu seinem wichtigen Vermächtnis. Hätten die Bischöfe seine Anweisungen befolgt, wäre man ein großes Stück weiter. Im Februar 2019 stellte der „Anti-Missbrauchsgipfel“ des Vatikans unter Vorsitz von Papst Franziskus fest, dass sich die Fortschritte im Kampf gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche wesentlich der Vorarbeit Ratzingers verdanken. Der italienische Enthüllungsjournalist Gianluigi Nuzzi urteilte: „Der Kampf Papst Benedikts XVI. gegen den Missbrauch war entschiedener und härter als der seines Nachfolgers.“ Benedikt XVI. habe „den Mantel des Schweigens weggezogen und seine Kirche gezwungen, den Blick auf die Opfer zu richten“.

Die „Zeit“-Autoren bezeichnen den deutschen Papst als den „Dunkelonkel längst vergangener Zeiten“.

Peter Seewald: Das ist die Stoßrichtung. Es geht um Diskreditierung. Und mit der Diskreditierung sollen auch Benedikts Position und sein Vermächtnis als kontaminiert erscheinen. Statt den Skandalbericht aus Hamburg kritisch zu hinterfragen, hatte der Chefredakteur der „Katholischen Nachrichtenagentur“ nichts Besseres zu tun, als diese Linie eiligst aufzunehmen. „Schon jetzt scheint absehbar, dass die neuen Enthüllungen das Ansehen des heute 94-jährigen Joseph Ratzinger mindern werden“, weiß er zu berichten. Benedikt XVI. habe wohl „durch Pflichtverletzung eine Schuld auf sich geladen, die er nun nicht mehr loswird.“

 

 


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