Kritik eines Experten: Bei ihrer Krisen-PR und Pressearbeit macht unsere Kirche fast alles falsch

25. Jänner 2022 in Interview


Medienexperte Holger Doetsch im kath.net-Interview: „Gerade Woelki und Benedikt XVI. haben bei der Aufarbeitung der Mißbrauchsfälle vehement, rückhaltlos und unbescholten auf Aufklärung gesetzt.“ Von Petra Lorleberg


Vatikan-Köln-Berlin (kath.net/pl) Fundierte Kritik äußert der Medienexperte, Journalist und Dozent Holger Doetsch im kath.net-Interview über die aktuelle Situation der katholischen Kirche in Deutschland. Mangelndes Missbrauchskrisen-Management seitens der Diözesen und der Deutschen Bischofskonferenz moniert er ebenso wie die jüngste Stellungnahme von Papst em. Benedikt XVI. zur Präsentation des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München („Wer bitteschön hat das formuliert? Der emeritierte Papst wohl nicht. Und wenn er es denn selbst formuliert haben sollte, würde sich die Frage stellen: wer hat drüber geschaut und gesagt: Heiliger Vater, so geht das nicht!“). Auch zum innerkirchlichen Umgang mit dem Markenkern der Kirche findet Doetsch mahnende Worte, auch an bischöfliche Adressen.

kath.net: Herr Doetsch, Sie kritisieren seit längerem schon die Öffentlichkeitsarbeit und das Krisenmanagement in der Katholischen Kirche ...

Holger Doetsch: Nicht nur das kritisiere ich, aber der Reihe nach ... Schauen Sie, ich bin seit fast dreißig Jahren Dozent für Öffentlichkeitsarbeit und Krisen-PR. Die Katholische Kirche, der ich dankbar angehöre, macht auf diesen Feldern in unschöner Regelmäßigkeit einen gravierenden Fehler nach dem anderen. Stellen Sie sich bitte folgendes Schaubild vor: Links steigt eine Achse vertikal in die Höhe, und diese Achse kennzeichnet die Dramatik einer Krise. Unten bei „0“ ist alles im grünen Bereich, nach oben hin entwickelt es sich zunehmend bis zur Katastrophe. Die horizontale, nach rechts strebende Achse wiederum zeigt den zeitlichen Verlauf einer Krise.

Der schlimmste Krisenverlauf ist dabei die Wellenbewegung. Eine Krise fällt also im Laufe der Zeit immer mal wieder ab, um dann durch irgendeinen Vorfall beziehungsweise einem Ereignis wieder anzusteigen. So läuft es in der Katholischen Kirche in Deutschland seit 2010, als das Ausmaß des Mißbrauchs an Schutzbefohlenen publik wurde.

Diese Schande öffentlich zu machen war natürlich richtig.

Aber hat sich irgend jemand der Beteiligten mal Gedanken darüber gemacht, wie mit diesem Horror operativ beziehungsweise strategisch umzugehen ist? Ich fürchte, nein. Es sieht eher so aus, daß kaum jemand in den Pressestellen der Bistümer die Kompetenz besitzt, ihren Chefs mal zu sagen, wie Krisen-PR funktioniert. Hier stinkt der Fisch nach meinen Beobachtungen nicht vom Kopfe, sondern von der Flosse her.

kath.net: Wie funktioniert Krisen-PR denn?

Doetsch: Nun, die beste Krise ist die, die gar nicht erst entsteht. Ein Beispiel: Als vor etwa zwanzig Jahren der Skandal mit den schwarzen Kassen in der CDU hochkam, habe ich im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten gearbeitet, der zugleich auch CDU-Kreisvorsitzender war. Eines Tages rief mich der SPIEGEL an und fragte, ob ich denn etwas wüßte über mögliche schwarze Kassen in eben diesem Kreisverband. Da schrillten bei mir alle Alarmglocken, und ich bin stante pede zu meinem Chef gegangen und habe ihn gefragt, ob es denn da etwas gäbe. Er verneinte. Dann habe ich noch einmal nachgefragt. Er war sauer, was Pressereferenten aber aushalten müssen, verneinte jedoch erneut. Wissen Sie, wenn Journalisten anrufen und einen möglichen Skandal hinterfragen, dann haben sie meistens schon irgendwelches Material in der Hand. Belastende Unterlagen, eidesstattliche Versicherungen von Beteiligten und so weiter und so fort. In dem von mir beschriebenen Fall war es dann tatsächlich eine Nullnummer für den SPIEGEL, aber, mit Verlaub, mein Handeln war professionell.

Wenn eine Krise im Anmarsch ist, sie dann da ist und im schlimmsten Fall auch noch wächst, dann müssen die Experten ihre Vorgesetzten bestmöglich darauf vorbereiten. Tagesaktuell Plan A, B und C entwerfen, den Umgang mit Journalisten durchspielen, ein „Wording” entwickeln ...

kath.net: Wording?

Doetsch: Klären, wer etwas sagt und auch wer nicht. Und was gesagt werden soll und was nicht.

kath.net: Und all dies ist in unserer Kirche Ihrer Meinung nach nicht geschehen?

Doetsch: So ist es. Es ist zum Beispiel geradezu sträflich, Gutachten in Auftrag zu geben und dann im Wissen darüber, was da wohl hochkommen wird, beziehungsweise welche Sprengkraft das Ergebnis haben wird, das die Auftraggeber ja zumindest im Ansatz wußten, auf die mächtige Explosion nur unzureichend oder gar nicht vorbereitet zu sein.

Nehmen Sie den Fall „Peter H.” Medien wie die „Süddeutsche Zeitung” haben vor Jahren schon über seine schändlichen Taten und darüber, wie unsere Kirche ihn quasi geschützt hat, berichtet. Dies immer und immer wieder, so daß diese Wellenbewegung, von der ich eben sprach, entstand. Einen professionellen Umgang mit diesem und auch mit anderen Fällen gab und gibt es also nicht.

kath.net: Wie hätte dieser professionelle Umgang, den Sie einfordern, Ihrer Meinung nach denn ausgesehen?

Doetsch: Als sich die Wahrheit über das Handeln des „Peter H.”, und dies ist nur ein Beispiel von vielen, immer mehr verfestigte, hätte ich empfohlen, aktiv zu handeln. Also: Nicht erst warten, bis SPIEGEL & Co. anrufen, sondern Hintergrund- und Pressegespräche mit Journalisten führen, gegebenenfalls eine Pressekonferenz organisieren. Den Verantwortlichen und ihren PR-„Experten” war bekannt, was da auf sie zukommt, wenn diese Gutachten veröffentlicht werden.

Das zu erwartende Aufheulen, das wir ja jetzt erleben, hätte somit durch eine kluge, präventiv ausgerichtete Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zumindest abgemildert werden können. Doch nun haben wir den Salat ...

kath.net: Aber kann das denn wirklich sein? Die Pressestelle des Bistums Köln ist doch gut besetzt ...

Doetsch: Sie ist total aufgebläht. Wenn es stimmt, daß da rund fünfzig Leute rumsitzen, zum Teil wohl hochbezahlt, und ziehen wir dann mal die für einen ordentlichen Betriebsablauf notwendigen Mitarbeiter ab, dann kommen wir immer noch auf eine nicht unerhebliche Zahl von Leuten, die wegen Inkompetenz entlassen werden sollten. Leute, bei denen man sich gar fragt, was die eigentlich beruflich so machen.

Man hätte Kardinal Woelki und auch Kardinal Marx unbedingt die Szenarien vorstellen müssen, die nach der Veröffentlichung der Gutachten ganz sicher folgen werden.

Ersterer aber legte es in eine Schublade und raunte von Persönlichkeitsrechten als Grund dafür. Letzterer tauchte ab.

Ein Gutachten in der Öffentlichkeit zu präsentieren, wie letzte Woche in München geschehen, und dann als Auftraggeber nicht dabei zu sein, das ist geradezu absurd.

Mehr noch: Das Fernbleiben von Kardinal Marx bei der Präsentation ist für mich ein Ausdruck von Feigheit.

Spätestens in Kenntnis dieser Verhaltensweisen, ich hoffe, die Chefs stehen in engem Kontakt mit ihren Pressestellen, hätten die Verantwortlichen den beiden klipp und klar sagen müssen: „So geht das nicht, Eminenz!”

Ich kann mir nicht vorstellen, daß dies geschehen ist. Hier wird von Seiten der betreffenden Mitarbeiter das Wort „Loyalität” vielleicht falsch interpretiert worden sein, was ich übrigens auch im Politikbetrieb kennengelernt habe. Wirkliche Loyalität bedeutet für Pressesprecher, hinter verschlossener Tür dem Chef begründet darzulegen, welche Fehler er macht. Geht die Tür aber dann wieder auf, steht der Pressesprecher wie eine Eins vor seinem Chef. So muß das laufen.

Was ich übrigens auch nicht verstehe: Gerade Kardinal Woelki – wie übrigens auch Benedikt XVI., diesbezüglich empfehle ich in der Papst-Biographie von Peter Seewald besonders die Lektüre des Kapitels 68 – hat bei der Aufarbeitung der Mißbrauchsfälle vehement, rückhaltlos und unbescholten auf Aufklärung gesetzt. Da wurde eben nichts vertuscht und/oder verharmlost. Chapeau, dafür müßte Woelki eigentlich bis heute geachtet werden. Doch nun wird er geächtet, was auch an den Fehlern bei der Öffentlichkeitsarbeit im Bistum Köln liegt.

Will unsere Kirche also endlich wieder auf die Füße kommen, dann muß sie ihre Öffentlichkeitsarbeit neu aufstellen. Dazu gehört, dass in manchen Pressestellen und Öffentlichkeitsarbeitsabteilungen kein Stein auf dem anderen bleiben darf. Diesbezüglich befürchte ich übrigens, daß ein weiteres Problem auftauchen wird ...

kath.net: Welches?

Doetsch: Ich habe als Dozent an der „Macromedia”-Fachhochschule in Köln im Fach „Marketing”, ich glaube, das war 2007 der 2008, meine Studenten gebeten, eine Imagekampagne für die Katholische Kirche zu erstellen. Die Ergebnisse waren zum Teil wirklich ausgezeichnet, dies vielleicht auch deshalb, weil die wenigsten meiner Studenten katholisch waren. Sie waren Atheisten, Muslime, ein junger Mann war Anglikaner, andere buddhistisch angehaucht. Somit hatten sie also keinen Tunnelblick. Eine hochrangige Jury hat die Arbeiten bewertet, darunter der katholische Publizist Martin Lohmann sowie der heutige Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz Matthias Kopp. Ich erinnere mich daran, wie Herr Kopp damals zu mir sagte: Sehr gut, was Ihre Studenten da auf die Beine gestellt haben. Wird so aber nicht umsetzbar sein. Auf meine Frage hin, warum, klärte er mich – wieder sinngemäß – so auf: Weil jedes Bistum diesbezüglich eigene Vorstellungen über die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hat.

Somit gibt es in meinen Augen ein Strukturproblem. Wenn es in der Katholischen Kirche im wichtigen Bereich Medienarbeit keinen gibt, der den Hut aufhat, und sich womöglich die Pressesprecher in den Bistümern in Krisenzeiten nicht absprechen – Stichwort „Wording” – dann kommt mit Blick auf das Öffentlichkeitschaos, das wir im Moment einmal mehr erleiden, sowas eben von sowas. Und der nächste Fehler bei der Krisen-PR, oder besser formuliert, Nicht-Krisen-PR scheint mir schon wieder in der Entwicklung zu sein ...

kath.net: Ach herrje. Was meinen Sie?

Doetsch: Kardinal Woelki hat sich eine Auszeit genommen. Schön und gut. Aber wer berät ihn denn nun in der Frage, wie er, wenn er denn bald wieder in seinem Bistum sein wird, sich verhalten sollte? Und wie er denn seine Statements sinnvollerweise formulieren könnte, Stichwort „empathische Rhetorik”? Es hat sich doch nichts beruhigt im Bistum Köln, das spürt und sieht man doch aktuell. Ja, auf der einen Seite gibt es kluge Menschen wie den Laienvertreter Stephan Neuhoff, der sehr richtig sagt: „Die von Rom eingeforderte Versöhnung kann (...) gelingen, wenn auch die Kritiker des Kardinals bereit sind, ihren Beitrag zu leisten.” Doch fürchte ich, daß genau dies nicht geschehen wird.

Wenn man sich im Bistum Köln umhört, dann hört man, wie schon jetzt die Messer gewetzt werden, und dies nicht nur im Diözesanpastoralrat, sondern auch bei Leuten an der Basis des Bistums, die offensichtlich jeglichen Respekt vor dem hohen Amt eines Kardinals verloren haben. Das Problem ist doch nicht weg, wenn Woelki am Aschermittwoch wiederkommt. Daher muß Seine Eminenz vor seiner Rückkehr gründlich beraten werden, und zwar von unabhängigen Experten, wobei dies hier nun wirklich keine Bewerbung meinerseits sein soll. Mir fällt da zum Beispiel der bereits erwähnte Medienexperte Martin Lohmann ein.

Daß es in einem Bistum eine unselige „Kultur” des Wetzens von Messern überhaupt geben kann, wundert mich übrigens nicht, wenn sich der Woelki-Stellvertreter Steinhäuser erblödet, sich öffentlich als „Chef der Täterorganisation Erzbistum Köln” zu empfehlen. Man bleibt da nur noch fassungslos zurück, zumal diese Entgleisung nach meiner Kenntnis keinerlei Konsequenzen beziehungsweise Reaktionen aus der Deutschen Bischofskonferenz oder aus Rom nach sich gezogen hat.

kath.net: Was denken Sie über die Kosten, die im Zusammenhang mit dem Kölner Gutachten entstanden sind?

Doetsch: Liebe Frau Lorleberg, was muß man eigentlich tun, welche Location für eine Pressekonferenz mieten und welches Catering auswählen, um neunzigtausend Euro zu verbrennen? Auch hier war das Echo bekanntlich verheerend, und zwar zu Recht. Vor allem war das Echo vorhersehbar. Ich habe mal eine Rechnung aufgemacht: 2013 habe ich mit Freunden ein Kinderhilfswerk in Kambodscha gegründet, und 120 Mädchen und Jungen erhalten seitdem ein Frühstück und Bildung, auch Kleidung. Dafür zahlen unsere Paten in Deutschland und in der Schweiz dreißig Euro, die ausreichen. Monatlich kommen für die 120 Kinder somit 3.600 Euro zusammen. Mit neunzigtausend Euro hätten wir also diesen armen 120 Kindern zwei Jahre und einen Monat lang helfen können. Ich denke, das beantwortet Ihre Frage.

kath.net: Wie bewerten Sie als PR-Experte den Umgang mit der Verteidigungsschrift von Papst em. Benedikt XVI. an die Kanzlei, die das Münchner Missbrauchsgutachten erstellt hat?

Doetsch: Geradezu verheerend! Wer bitteschön hat das formuliert? Der emeritierte Papst wohl nicht. Und wenn er es denn selbst formuliert haben sollte, würde sich die Frage stellen: wer hat drüber geschaut und gesagt: Heiliger Vater, so geht das nicht!

Daß Joseph Ratzinger wohl Fehler gemacht hat in seiner Zeit als Bischof im Erzbistum München und Freising von 1977 bis 1982, dürfte er wohl selbst am besten wissen. So wie ihm klar sein wird, daß vor dem Richterstuhl Gottes seine Fehler gewogen und seine Sünden einen gerechten und barmherzigen Gott finden wird.

Doch ist auch dies aus weltlicher Sicht heraus schon wieder ein Fall des Versagens in der Krise, diesmal im Umfeld des emeritierten Papstes. Mit Verlaub, hätte Joseph Ratzinger mich gefragt, was er denn tun soll, dann hätte ich ihm empfohlen, kurz, knapp und knackig zu schreiben: „Sofern ich damals Fehler gemacht habe, und von Fehlern ist kein Mensch befreit, dann bedauere ich das zutiefst und bitte um Verzeihung. Ich schließe die Kinder und Jugendlichen, die Opfer von sexualisierter Gewalt wurden, tief in meine Gebete ein.”

Gut, müßte man sicher noch besser formulieren, aber ich wollte hier nur die in meinen Augen richtige Stoßrichtung vorgeben. Ein aufrichtiges mea culpa, das man diesem Mann ja nun wirklich abnehmen kann, hätte mehr gebracht.

Statt dessen führen wir nun eine Diskussion, ob der Papst an jener Sitzung teilgenommen hat, in der über „Peter H.” gesprochen worden ist oder nicht, verbunden damit, daß interessierte Kreise meinen, den emeritierten Papst der Lüge überführen zu können. Das ist genauso unerträglich wie das Verhalten einiger deutscher Bischöfe in dieser Angelegenheit, Bischöfe übrigens, die ich fast schon als üblich Verdächtige wahrnehme ...

kath.net: Sie meinen die Kritik des Limburger Bischofs Bätzing und des Aachener Bischofs Dr. Helmut Dieser?

Doetsch: Ja. Und andere. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Ich empfinde es als unchristlich, nachzutreten, auch vor dem Hintergrund des hohen Alters und auch des großen Lebenswerks von Joseph Ratzinger.

Da herrscht in den eigenen Reihen fast schon eine „Kultur” der Vernichtung, die man als Fußvolk in unserer Kirche, zu dem ich ja gehöre, kaum aushält. Da wird von „desaströsem Verhalten” und von Vertuschung gefaselt, gar ein Schuldeingeständnis gefordert. Und dann, Tusch!, der Höhepunkt: „(...), jetzt ist die Stunde der Wahrheit.” Dies alles impliziert, der emeritierte Papst Benedikt XVI. sei ein Täter gewesen, nicht zu fassen. Bätzing und andere handeln geradezu ehrabschneidend und darüber hinaus infam. Es sind Szenen wie aus einem Tollhaus ...

Und auch hier: Waren Experten beteiligt bei diesem unnötigen Kanonendonner? Sicher nicht. Wenn welche beteiligt gewesen sein sollten, dann wären sie keine Experten, sondern schlicht und ergreifend inkompetent. Ich empfehle dem Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz Bätzing übrigens insgesamt ein Mindestmaß an Zurückhaltung, die ihm in seiner Amtsführung, in der er stets über jedes Hölzchen springt, das ihm Aktivisten von „Maria 2.0“ und manche Wanderer auf dem „Synodalen Weg” hinhalten, besser zu Gesicht stehen würde. Ich denke, er sollte der Hirte aller Schafe in der Katholischen Kirche Deutschlands sein.

Die Mehrheit in unserer Kirche, davon bin ich fest überzeugt, legt nicht so sehr Wert auf Experimente, sondern wir hungern eher nach religiösem Halt durch die Anbetung des Herrn, von mir aus auch nach einer theologischen Einordnung der Dinge in schwierigen Zeiten. Wir benötigen Orientierungshilfe, Seelsorge und Trost. Wir brauchen Ermutigung und die einende Kraft des Evangeliums.

Was wir nach meinem Dafürhalten aber nicht brauchen: Ständige Diskussionen darüber, was man denn so alles in unserer Kirche verändern könnte. Die Katholische Kirche ist doch kein Karnickelzüchterverein, wo man im Jahresverlauf mal hier, mal da eine Satzung ändern kann, nur weil es manchem Mitglied gefällt.

kath.net: Was glauben Sie, wohin unsere Kirche steuert?

Doetsch: Wenn die Verantwortlichen so weitermachen, dann steuert unsere Kirche wohl auf kurz oder lang mit voller Fahrt auf ein Riff oder einen Eisberg zu und wird das Schicksal der Titanic erleiden.

Bezeichnend: Ich habe seit fünfzehn Jahren einen guten Bekannten der sich als Atheist bezeichnet. In all den Jahren habe ich mich mit ihm persönlich in der Kneipe und aber in den asozialen Netzwerken im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt in der Wolle gehabt. Auf einmal aber war er diesbezüglich verstummt. Keine Anwürfe gegen die Katholische Kirche und ihr Personal mehr, nichts. Ich habe ihn – als Christ natürlich hoffend auf eine späte Läuterung des Bekannten – gefragt, was denn los sei. Und er antwortete mir mit einem Schmunzeln: „Ich schweige, weil ich erkannt habe, daß Ihr euch selbst kaputt macht. Warum sollte ich mich da noch anstrengen?”

Zuerst einmal darf die Hinwendung der Katholischen Kirche an die Opfer und ihre Lebensleiden nicht nachlassen. Entschädigungszahlungen sind dabei das eine. Doch wichtiger ist die Seelsorge, sofern der Betroffene sie zulassen kann. Sodann muß sie die Täter und ihre Lebenslügen von sich aus aufdecken und – Persönlichkeitsrechte hin oder her – transparenter werden und bei alledem glaubhaft eine empathische Rhetorik anwenden. Wenn alle Beteiligten, hier auch das „Fußvolk” unserer Kirche, wie ich es eben nannte, dabei (hoffentlich) Teil eines umfassenden Lernprozesses sind oder werden, dann ist das in meinen Augen zu begrüßen.

Weiterhin stelle nicht nur ich fest, daß sich die Wortmeldungen von Kardinälen Bischöfen, Laien, aber auch Medienvertretern und Politikern kaum oder gar nicht mehr unterscheiden, die Rhetorik sich zunehmend in Superlativen erschöpft. Das ist nicht gut, weil die Aufarbeitung des eigentlichen Skandals, des Mißbrauchs von Kindern und Jugendlichen in unserer Kirche also, so zu einer Inszenierung oder gar zu einem sinnfreien Spektakel zu werden droht.

Weiterhin muß sich unsere Kirche in ihrer Öffentlichkeitsarbeit professionell aufstellen, bewußt habe ich nicht „professioneller” gesagt. Dies von der Pfarrgemeinde bis in die oberste Spitze im Vatikan. So bedarf es zum Beispiel der Entwicklung kluger, zielgruppenorientierter Kampagnen, mit denen endlich auch mal all das Segensreiche gezeigt und unterstrichen wird, wofür die Katholische Kirche nicht nur hierzulande, sondern weltweit doch auch steht: Misereor, Caritas, Jugendarbeit, Pfadfinder, Meßdiener, all die sozialen Projekte und, und, und.

Unsere Kirche tut sehr viele gute Dinge. Und sie muß selbstbewußt unterstreichen, daß es nicht in Ordnung ist, daß Priester unter Generalverdacht stehen.

Wohl weit über neunzig Prozent unserer Priester, davon bin ich fest überzeugt, haben mit diesen furchtbaren Verbrechen an Kindern und Jugendlichen nichts zu tun. All das also sollte mit Kampagnen deutlich gemacht werden, und gerne schicke ich der Deutschen Bischofskonferenz mal die Ergebnisse der Studenten, von denen ich in diesem Interview gesprochen habe.

Damit verbunden, denke ich, wäre es hilfreich, wenn gerade die Bischöfe und Kardinäle aufhören, Minderheiten zu hofieren und Mehrheiten zu vernachlässigen. Mit großer Freude beobachte ich, wie Bischöfe wie Heiner Koch, Wolfgang Ipolt, Gerhard Feige, Stefan Oster, Gregor Maria Hanke und andere mehr sich nicht beirren lassen, sich in erster Linie als Seelsorger zu sehen und so auch handeln.

Kardinal Marx, Bischof Bätzing, Bischof Overbeck und anderen indes will ich ins Stammbuch schreiben: Ja, Kirche ist Vielfalt. Und doch sollte bei alledem die Einheit unserer Kirche immer im Vordergrund stehen. Die Einheit unserer Kirche sollte unser Markenkern sein. Wer das nicht einsieht und immer nur irgendwelche Partikularinteressen durchsetzen will, verwässert aber diesen Markenkern oder zerstört ihn gar. Und wer das tut oder unterstützt – auch dies lernt man im Marketing – begeht auf kurz oder lang Selbstmord.

Holger Doetsch (58) kennt in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit sowie Journalismus beide Seiten des Tischs. Er hat bei der „Rhein-Zeitung” in Koblenz gelernt und ist bis heute journalistisch für verschiedene Medien tätig. In der ersten und letzten demokratisch gewählten DDR-Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière war er 1990 Sprecher des Ministeriums für Jugend und Sport. Hiernach Sprecher des Bundesverbandes der Jungen Union (JU) sowie Leiter der CDU-Landtagsfraktionen im Freistaat Thüringen und in Brandenburg. Von 1998 bis Ende 2021 war er für verschiedene Abgeordnete (Ulf Fink, Rainer Eppelmann, Yvonne Magwas) Referent im Deutschen Bundestag. Weiterhin ist er unter anderem bei der Konrad-Adenauer-Stiftung Coach für Rhetorik.

Foto: Holger Doetsch (c) Carsten Janke

Foto - Papst Johannes Paul II. segnet Holger Doetsch


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