Kardinal Marx gibt Statement zum Gutachten – „Ich klebe nicht an meinem Amt“

27. Jänner 2022 in Deutschland


„Das Angebot des Amtsverzichtes im letzten Jahr war sehr ernst gemeint. Papst Franziskus hat anders entschieden und mich aufgefordert, meinen Dienst verantwortlich weiterzuführen“ - Erklärung zum neuen Gutachten über sexuellen Missbrauch


München (kath.net/pem) Bei einer Pressekonferenz in der Katholischen Akademie Bayern hat der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, am Donnerstag, 27. Januar, zum externen Gutachten „Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019“ erklärt:

„Das aktuell veröffentlichte Gutachten über sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising von 1945 bis 2019 ist ein tiefer Einschnitt für die Kirche hier im Erzbistum und darüber hinaus. Es ist ein tiefer Einschnitt für Betroffene, für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und für die Gläubigen, die sich vielfach fragen, wie sie der Kirche und den in ihr Verantwortlichen vertrauen können. Nach der Lektüre bin ich erneut erschüttert und erschrocken über die Fälle sexuellen Missbrauchs, vor allem über das Leid der Betroffenen, aber auch über Täter und Beschuldigte und über das Verhalten von Verantwortlichen.

Missbrauch und Gewalt in all ihren Aspekten, die auch im Gutachten noch einmal deutlich werden, sind eine dunkle Seite und werden fortan auch als Teil der Geschichte unseres Erzbistums sichtbar sein. Wer jetzt noch systemische Ursachen leugnet und einer notwendigen Reform der Kirche in Haltungen und Strukturen entgegentritt, hat die Herausforderung nicht verstanden. Ich habe es den Gläubigen im Erzbistum nach meinem vom Papst abgelehnten Amtsverzicht geschrieben: Die Kirche war offensichtlich für viele Menschen ein Ort des Unheils und nicht des Heils, ein Ort der Angst und nicht des Trostes. Trotz des großen Engagements von Priestern, von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, von Ehren- und Hauptamtlichen und von vielen Gläubigen, gab es diese dunkle Seite, die in den letzten Jahren verstärkt ans Licht geholt wird. Auch diese dunkle Seite gehört mit zu einem ehrlichen, realistischen Blick auf die Kirche von heute und auf das, was in der Vergangenheit geschehen ist. Mit dem Gutachten der Kanzlei WSW, das die Erzdiözese selbst beauftragt hat, lassen wir uns als Verantwortliche im Erzbistum einen Spiegel vorhalten und halten dem Stand, was wir sehen und relativieren es nicht.

Das gilt auch für mich persönlich: Mir wird in diesem Gutachten Verantwortung zugeschrieben und ich bin bereit, Verantwortung zu übernehmen. Im letzten Jahr habe ich Papst Franziskus geschrieben und auch zuvor schon an anderer Stelle benannt, dass für mich die größte Schuld darin besteht, die Betroffenen übersehen zu haben. Das ist unverzeihlich. Es gab bei uns kein wirkliches Interesse an ihrem Schicksal, an ihrem Leiden. Das hat nach meiner Auffassung auch systemische Gründe und zugleich trage ich dafür als amtierender Erzbischof moralische Verantwortung.

Deshalb bitte ich als Erstes noch einmal persönlich und auch im Namen des Erzbistums bei Ihnen als Betroffene um Entschuldigung für das, was Sie erlitten haben im Raum der Kirche. Ich bitte auch die Gläubigen in diesem Erzbistum um Entschuldigung, die an der Kirche zweifeln, die den Verantwortlichen nicht mehr vertrauen können und in ihrem Glauben Schaden genommen haben. Auch die Pfarrgemeinden, in denen Täter eingesetzt wurden, haben wir zu lange nicht ausreichend im Blick gehabt und sie einbezogen. Auch bei Ihnen bitte ich um Entschuldigung.

Die Betroffenen in den Mittelpunt zu stellen, begann erst langsam mit dem Jahr 2010; Schritt für Schritt gab es einen Weg zur Veränderung, nicht nur einzelne Maßnahmen zu ergreifen, sondern grundsätzlich anders zu denken, in der Perspektive der Betroffenen. Ist das seitdem konsequent geschehen? Offensichtlich nicht. Auch bei uns nicht. Natürlich gab es Bemühungen, und ich danke jenen in unserem Erzbistum, die in den letzten Jahren in diesem Bereich gearbeitet haben und sich engagieren als unabhängige Ansprechpersonen, Interventionsbeauftragte, Präventionsbeauftrage, in Beraterstäben, in dem von uns mit initiierten und unterstützten Center for Child Protection (CCP), das die Thematik auch auf einer weltkirchlichen Ebene verstärkt hat.

Dankbar bin ich für die Entwicklungen im Erzbistum im vergangenen Jahr mit der Bildung des Betroffenenbeirats und der unabhängigen Aufarbeitungskommission, die uns schon wesentliche Impulse aus ihrer Perspektive gegeben haben. Aber für mich selbst sage ich offen, dass das ein Weg war, der auch für uns und für mich noch nicht zu Ende ist. Die MHG-Studie hat noch einmal einen starken Schub in die Richtung der Orientierung an den Betroffenen gegeben, auch für mich persönlich, auch im direkten Kontakt. Mir ist noch klarer geworden, dass die Fragen und Bedürfnisse der Betroffenen im Mittelpunkt stehen sollten, dass es auch ein seelsorgliches Angebot und eben noch mehr die persönliche Begegnung braucht, sowie ein aktiveres Zugehen auf Betroffene.

Das nun vorgestellte Gutachten ist für die Erzdiözese kein Endpunkt, sondern ein wichtiger Baustein der weiteren Aufarbeitung. Damit ist die Aufarbeitung nicht abgeschlossen, sondern sie muss weitergehen auf unterschiedlichen Feldern. Hier setze ich vor allem auf das Zusammenwirken von Betroffenenbeirat und Aufarbeitungskommission. Beide Gremien sind ja unabhängig und ich werde, so hoffe ich, zeitnah mit ihnen und auch mit dem Diözesanrat und anderen Beratungsgremien über das Gutachten und die Konsequenzen für unser Erzbistum sprechen können.

Ich möchte einen Punkt aufgreifen, der in der Pressekonferenz in der letzten Woche von den Gutachtern benannt wurde: Was immer an neuen Gutachten und Untersuchungen kommen wird, es wird wohl nicht von den grundsätzlichen Einsichten der jetzt vorliegenden Untersuchungen abweichen. Das gilt schon für den ersten Missbrauchsbericht von 2010 mit den entsprechenden Schlussfolgerungen, das gilt für die MHG-Studie und auch andere Untersuchungen. Wir wissen jetzt genug, damit wir hinschauen und jetzt anders handeln können.

Deswegen ist es völlig abwegig, von einem „Missbrauch des Missbrauchs“ zu reden im Sinne einer Verhinderung einer Reform der Kirche. Auch das habe ich in meinem Brief an Papst Franziskus zum Angebot des Amtsverzichts deutlich gemacht: Für mich ist die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs Teil einer umfassenden Erneuerung und Reform, wie das der Synodale Weg aufgegriffen hat. Auch da bleiben wir unterwegs. Wir gehen in der Kirche einen langen und mühsamen Weg, aber wir gehen ihn um der Wahrheit willen und um unseres Auftrags willen, das Evangelium in dieser Zeit und an diesem Ort zu verkünden und zu bezeugen. Es gibt keine Zukunft des Christentums ohne eine erneuerte Kirche!

Das jetzt vorliegende Gutachten ist eine wichtige Diskussionsgrundlage, so haben es die Gutachter ja formuliert. Jeder, der es liest, kann sich eine eigene Meinung bilden. Ich halte nach der ersten Lektüre für mich fest, dass wir mit diesem Gutachten der Wahrheit und der umfassenden Perspektive auf die Kirche ein Stück nähergekommen sind. Wir sehen ein Desaster. Das Gutachten hilft uns, nicht wegzuschauen, sondern hinzuschauen. Darum geht es jetzt: hinschauen und hinhören! Das bin ich, das sind wir nach meinem Empfinden den Betroffenen und allen Gläubigen schuldig.

Es geht in diesem Gutachten vor allem auch um persönliche und institutionelle Verantwortung, besonders im Blick auf die Leitungsebene des Erzbistums. Sicher wird es in der Beurteilung von Bewertungen verschiedene Sichtweisen und auch Kritik geben. Freilich wird man dann begründen müssen, warum bestimmte Bewertungen so nicht akzeptiert werden können. Aber – um das nochmals klar zu sagen: Es geht mir jetzt nicht darum, mich in Einzeldebatten zu begeben oder gar verteidigend zu argumentieren, denn das wäre nach meinem Empfinden unangemessen gegenüber den Betroffenen.

Die konkreten Fälle, mit denen auch ich konfrontiert wurde von den Gutachtern, werde ich zusammen mit Fachleuten nochmals aufarbeiten und genau prüfen. Nicht um mich zu verteidigen, sondern um daraus zu lernen und Veränderungen anzugehen. Ich sehe hier vor allem auch administrative und kommunikative Versäumnisse. Aber ich werfe mir in einem Fall vor, nicht wirklich aktiv auf Betroffene zugegangen zu sein.

Der Umgang mit Missbrauch in der Kirche war und ist für mich Chefsache und steht nicht im Gegensatz zum Verkündigungsauftrag. Ich war und bin nicht gleichgültig. Hätte ich noch mehr und engagierter handeln können? Sicher ja!

Die Thematik des Missbrauchs war immer wieder Gegenstand in den Besprechungen zwischen dem vorherigen Generalvikar und mir. In der Frage des Umgangs mit dem Thema haben der damalige Generalvikar Beer und ich uns gemeinsam engagiert, neue Ideen diskutiert und dann auch gemeinsam in Gang gebracht, sei es im Erzbistum und auch darüber hinaus. Der Generalvikar hat dabei ohne Zweifel eine wichtige Rolle gespielt. Das gemeinsame Ziel war, Prävention, Aufarbeitung und Reform der Kirche voranzubringen.

Generalvikar Klingan, Amtschefin Dr. Herrmann und ich werden kritisch prüfen, welche weiteren Veränderungen wir in Gang setzen können. Wir handeln gemeinsam. Für mich gehört dazu auch der regelmäßigere Austausch mit den Beratungsgremien im Bereich Missbrauch, mit den Interventions- und Präventionsbeauftragten und besonders mit dem Betroffenenbeirat und der unabhängigen Aufarbeitungskommission. Hier will ich stärker präsent sein. Denn der Vorwurf, den ich mir selbst mache, ist die immer noch nicht ausreichende Übernahme der Perspektive der Betroffenen. Das war auch ein Anlass für die Gründung meiner Stiftung „Spes et Salus“, die genau diese Perspektive stärken soll.

Natürlich fragen sich viele: Welche konkreten Konsequenzen hat das Gutachten? Wir werden das genau prüfen und intensiv beraten. Die Vorschläge des Gutachtens nehmen wir ernst. Einiges haben wir ja auch schon vorher auf den Weg gebracht. Gibt es personelle Konsequenzen? Jeder Verantwortungsträger sollte auf die bisherigen Erkenntnisse schauen und sich überlegen: Was habe ich persönlich zu verantworten? Worin besteht mein Versagen? Wo habe ich mich schuldig gemacht? Welche Konsequenzen muss ich ziehen und was kann ich besser machen? Das gilt auch für die Verantwortlichen, die im Gutachten nicht direkt namentlich genannt werden.

Für mich persönlich sage ich noch einmal deutlich: Als Erzbischof trage ich nach meiner moralischen Überzeugung und in meinem Amtsverständnis Verantwortung für das Handeln des Erzbistums. Ich klebe nicht an meinem Amt. Das Angebot des Amtsverzichtes im letzten Jahr war sehr ernst gemeint. Papst Franziskus hat anders entschieden und mich aufgefordert, meinen Dienst verantwortlich weiterzuführen. Ich bin bereit, auch weiterhin, meinen Dienst zu tun, wenn das hilfreich ist für die weiteren Schritte, die für eine verlässlichere Aufarbeitung, eine noch stärkere Zuwendung zu den Betroffenen und für eine Reform der Kirche zu gehen sind. Falls ich den Eindruck gewinnen sollte, ich wäre dabei eher Hindernis als Hilfe, werde ich das Gespräch mit den entsprechenden Beratungsgremien suchen und mich kritisch hinterfragen lassen. In einer synodalen Kirche werde ich diese Entscheidung nicht mehr mit mir allein ausmachen.

Was weitere im Gutachten benannte lebende Verantwortungsträger angeht, so können sich meine Vorgänger im Bischofsamt und die vormaligen Generalvikare selbst äußern und haben das ja auch schon getan. Prälat Wolf, der als Offizial, im Gutachten stark kritisiert wird, habe ich geschrieben. Er hat mir mitgeteilt, dass er alle seine Ämter und Aufgaben ruhen lassen will. Damit bin ich einverstanden. Er will zu gegebener Zeit Stellung nehmen.

Ich will abschließend betonen:  Wir nehmen das Gutachten sehr ernst! Einige haben sich gefragt, warum ich bei der Vorstellung des Gutachtens durch WSW nicht dabei war. Das hat nichts mit mangelndem Respekt vor den Betroffenen zu tun! Bereits im Vorfeld hatte ich – nach reiflicher Überlegung – die Kanzlei WSW darüber informiert, dass die Erzdiözese von Generalvikar und Amtschefin vertreten wird. Beide hatten im Untersuchungszeitraum ihre jetzigen Ämter noch nicht inne. Ich wollte dem Gutachten den gebührenden Raum geben und habe mich deshalb gegen eine Teilnahme entschieden; gleichwohl habe ich die Präsentation verfolgt. Falls ich durch meine Entscheidung Gefühle von Betroffenen verletzt habe, tut mir das leid.

Es ist berechtigt, dass derzeit viele Fragen aufkommen, die sich aus dem Gutachten ergeben, die wir heute aber noch nicht alle beantworten können. Darum gilt es, weitere Gespräche zu führen und die Aufarbeitung konsequent voranzubringen. Ich möchte spätestens in einem Jahr berichten, welche konkreten Veränderungen in Gang gesetzt wurden und diese dann vorstellen zusammen mit dem Generalvikar und der Amtschefin.
 
Die bisherige Erfahrung zeigt uns, dass wir gut daran tun, externen Sachverstand einzubeziehen und auch mit dem Staat und weiteren Gesprächspartnern zusammen zu arbeiten. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns als Kirche als lernende Organisation verstehen müssen, die auch externe Expertise aufnimmt.

Es gilt jetzt, die Ausrichtung an den Betroffenen strukturell noch deutlicher zu sichern, aber auch – wie das Gutachten betont – stärker den Blick auf Pfarreien und Institutionen zu richten, in denen Missbrauch stattgefunden hat. Zudem gilt es jetzt, die Reformschritte voranzutreiben, wie sie der Synodale Weg diskutiert und wie sie auch weltkirchlich im synodalen Prozess auf die Tagesordnung kommen werden. Dafür will ich mich weiter engagieren. Denn ohne eine wirklich tiefgehende Erneuerung wird Aufarbeitung letztlich nicht gelingen.

Wir schauen im Erzbistum nach vorne, aber ohne den Blick zurück wird es nicht gehen. Deswegen werden wir auch über ein angemessenes Gedenken und Erinnern an die Betroffenen sexuellen Missbrauchs in der Kirche nachdenken. Dabei hoffe ich auf die Beratung mit dem Betroffenenbeirat und anderen. Beides sollte zum Ausdruck kommen: Die Bereitschaft, die dunkle Seite anzuerkennen, das Signal, daraus zu lernen und in erneuerter Weise eine Kirche zu sein, die für die Menschen da ist, nicht für sich selbst.“

Archivfoto Kardinal Marx (c) Erzbistum München und Freising


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