29. Jänner 2022 in Kommentar
„Was derzeit aber in den deutschen Medien abgeht, hat mit dem eigentlichen Missbrauchsskandal nicht mehr viel zu tun. Hier geht es nicht mehr um die wahren Täter und die Opfer.“ Kommentar des evangelischen Pfarrers Jürgen Henkel
München (kath.net/jh) Joseph Ratzinger zählt schon zu Lebzeiten zu den größten Theologen aller Zeiten. Sein Gesamtwerk ist von einer beeindruckenden geistlich-theologischen Tiefe, Weisheit und denkerischen Strahlkraft, und das in einer einzigartig feinen, poetischen und eleganten Sprache. Seine Schriften gehören zum Klügsten und Schönsten, was die christliche Theologie je hervorgebracht hat. Nicht umsonst gilt er als „Mozart der Theologie“. Dabei hat er sich wie kaum ein anderer um die Vermittlung von Glauben und Wissen und damit von Seele und Verstand, Fides und Ratio, Religion und Wissenschaft bemüht, auch im Dialog mit Jürgen Habermas.
Als Präfekt der Glaubenskongregation hat er von 1982 bis 2005 stets genau das getan, was seines Amtes war: Er hat – meist gegen zeitgeistigen und oft auch gegen innerkirchlichen Widerstand vor allem im deutschsprachigen Raum – der Katholischen Kirche verbindlich Orientierung über den eigenen Glauben gegeben und klar markiert, welche Positionen der katholischen Lehre entsprechen – und welche nicht. Solche Diakrisis gehörte als notwendige wie identitätssichernde Unterscheidung der Geister zu allen Zeiten und Epochen zur überlebenswichtigen Normierung kirchlicher Selbstbehauptung bis hin zu erforderlichen Abgrenzungen von Irrlehren. Erst die moderne Infragestellung des Wahrheitsbegriffs führte in der christlichen Theologie zu der seit einigen Jahrzehnten virulenten Selbstsäkularisierung von Kirche und Theologie mit der Konsequenz der Selbstrelativierung der eigenen Botschaft und Lehre.
Genau diese Fehlentwicklungen hat Papst Benedikt XVI. zeit seines Lebens als Theologe wie als Kirchenmann stets bekämpft und den damit verbundenen Relativismus immer mutig und klar dechiffriert, gegen erbitterten Widerstand von liberaler und modernistischer Seite. Unvergessen bleibt seine Predigt hierzu bei der Trauerfeier für Papst Johannes Paul II. im April 2005 auf dem Petersplatz. Ratzinger avancierte mit seinem Bekenntnis zur reinen Lehre und seinem Zeugnis der geoffenbarten und unumstößlichen Wahrheit als Mensch, Theologe und Person zum bestkultivierten Feindbild für Generationen von Linken und Liberalen in Medien, Gesellschaft und leider auch der Kirche.
Als Papst Benedikt XVI. war Joseph Ratzinger später der brillanteste Theologe auf dem Stuhl Petri seit Leo dem Großen († 461) und Gregor dem Großen († 604). Seine Jesus-Trilogie aus jenen Jahren bietet wahre Meisterwerke geistlicher Schriftauslegung, seine Enzykliken sind mustergültige Normtexte zum christlichen Glauben und Leben, seine Predigten und Ansprachen enthalten tiefgründige Auslegungen der christlichen Botschaft in liebevoll-fürsorglicher Hinwendung zu allen Menschen guten Willens und zur ganzen Welt.
Was wurde freilich nicht alles über diesen Papst Benedikt XVI. im Laufe seines langen Lebens und Wirkens schon geschrieben? Bereits zu meiner Schulzeit in den 1980er Jahren galt er als erzkonservativ und reaktionär und wurde als „Panzerkardinal“ geschmäht. Die meisten indes, die sich an ihm in linken und liberalen – und leider auch manchen „gutbürgerlichen“, aber romkritischen – germanischen Gazetten und Kanälen sowie theologischen Werken über Jahre und Jahrzehnte abarbeiteten, konnten ihm theologisch und argumentativ, geistig wie geistlich, intellektuell und sprachlich nie das Wasser reichen.
Als Joseph Ratzinger nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. – des bedeutendsten und wirkmächtigsten Papstes der Geschichte – selbst zum Nachfolger Petri gewählt wurde, war Mediendeutschland überrascht, das publizistisch-propagandistische Dauerfeuer gegen Ratzinger verstummte kurzzeitig, die „Bild“-Zeitung jubelte: „Wir sind Papst!“. Der Hype hat sich nach anfänglicher Begeisterung schnell gelegt, als die deutschen Medien irgendwie doch einiger Zeit bemerkten, dass Ratzinger als Papst zwar verbindlicher auftreten konnte als zuvor in seiner Rolle als Präfekt der Glaubenskongregation, dass er aber gerade in seinem neuen Amt vor allem eines war und immer blieb: das Oberhaupt der Katholischen Kirche – und damit verantwortlich für die Einheit, die Lehre und die Ausrichtung der gesamten Weltkirche. Papst Franziskus hat übrigens nach anfänglicher Euphorie denselben „Parcours“ an Wechselbädern medialer und öffentlicher Wahrnehmung in Deutschland erlebt und hingelegt.
Als Glaubenspräfekt wie als Papst hat der seit 2013 emeritierte Pontifex mehr gegen den sexuellen Missbrauch durch Priester und für die Ahndung solcher Fälle getan, als jeder Papst vor ihm: praktisch, durch kanonisch-kirchenrechtliche Verordnungen, aber auch durch konkrete Suspendierungen von Missbrauchstätern. Benedikt XVI. ist als erster Papst mehrmals mit Missbrauchsopfern zusammengetroffen. Zu all dem ist auf kath.net in den letzten Tagen bereits viel veröffentlicht worden. Wobei ihm selbst damals – wie allen anderen Verantwortlichen wohl auch – das erschreckende Ausmaß dieser Taten sicher nicht bewusst war und manche Verteidigungsstrategien und Presseverlautbarungen heute recht hilflos, unbeholfen und unprofessionell wirken. Ja, es gab diesen „Schmutz“ in der Kirche, wie er es selbst bei einer Kreuzweg-Prozession einmal formuliert hat.
Was derzeit aber in den deutschen Medien abgeht, hat mit dem eigentlichen Missbrauchsskandal nicht mehr viel zu tun. Hier geht es nicht mehr um die wahren Täter und die Opfer, sondern hier wird ein Vernichtungsfeldzug gegen die Person und das Lebenswerk von Joseph Ratzinger alias Papst Benedikt inszeniert und mit vielen Rachegelüsten und Hintergedanken auf der politischen, medialen und gesellschaftlichen Bühne zur Aufführung gebracht. Dieser Generalangriff auf den Papst zielt auf die beinahe schon physische Zerstörung des emeritierten Kirchenoberhaupts ab. Joseph Ratzinger soll als Papst und Mensch medial erlegt werden. Leider reihen sich Teile des deutschen katholischen Episkopats und Establishments hier ein und werden zu (un)freiwilligen Helfershelfern dieses späten Rachefeldzugs gegen den lange übergroßen Papst Benedikt XVI., dessen gesamtes Leben und Wirken nun systematisch, gezielt und voll finsterer Absicht auf Fehler in seiner sehr kurzen Amtszeit als Erzbischof von München und Freising reduziert werden sollen.
Nein: Es geht den deutschen Medien und den meisten Anklägern in der Öffentlichkeit, die sich hier zugleich als Richter gerieren, nicht mehr um die Sache und um damit um die Missbrauchsfälle von München. Ziel ist es, Joseph Ratzinger ganz persönlich fertigzumachen, ihn als Menschen, als Theologen, als Bischof und Papst der Lüge und des Vertuschens zu überführen und damit seine persönliche Integrität, seinen Ruf als Theologen und als Persönlichkeit und sein Lebenswerk nachhaltig und dauerhaft zu zerstören. Auch blanker Kirchenhass führt hier viele Federn. Als beabsichtigter Kollateralschaden soll diese Kampagne die wahre Kirche im Sinne Ratzingers diffamieren und diskreditieren, um die Reform(ations)pläne der deutsch-katholischen Modernisten zu befördern. Diese Absicht und Aussicht beflügelt die Akteure in ihrer Hetzjagd auf den 94jährigen Papa emeritus zusätzlich, der wie kaum ein anderer für die traditionelle Kirche und die reine Lehre steht. Hier wird auch ein „Stellvertreter“-Krieg geführt.
Dass im Erzbischöflichen Ordinariat von München zur Amtszeit Ratzingers teils gravierende Fehler gemacht wurden und Priester, die als Missbrauchstäter bekannt waren, mehrfach wieder an den Altar und in den Gemeindedienst gelangten, statt diese schlicht und ergreifend vom Amt zu suspendieren und der weltlichen Gerichtsbarkeit zu übergeben, liegt dabei auf der Hand: Wer nachweislich Kinder und Jugendliche sexuell belästigt, hat nichts (mehr) am Altar und im Pfarrdienst verloren. Hier muss „Null Toleranz“ herrschen, genauso wie bei Häresien und Irrlehren in theologisch-dogmatischer Hinsicht. Aber die „feine“ Jagdgesellschaft und ihre Meute, die Benedikt XVI. zum Abschuss freigegeben haben, wären auch mit einer aufrichtigen Entschuldigung des früheren Erzbischofs von München und Freising nicht zufrieden, sondern würden dies höchstens als pontifikalen Ritterschlag für ihre Kampagne werten nach dem Motto: Jetzt ist Ratzingers Versagen amtlich!
Was also Medien, weite Teile der Öffentlichkeit und eben leider auch kirchliche Stimmen bis hin zu Bischöfen aus diesem Münchner Gutachten machen, ist nur noch perfide und eine bösartige Schlammschlacht und Schmutzkampagne: Es geht längst nicht mehr um einzelne konkrete Fehler Ratzingers als Erzbischof von München im Blick auf Missbrauchstäter unter den Priestern, sondern hier werden die Messer gewetzt mit dem Ziel, das Denkmal und den jahrzehntelangen Fels in der Brandung Joseph Ratzinger zu stürzen, auch zur Delegitimierung, Disqualifizierung und Deklassierung seines theologischen Werkes und Erbes. Viele überschlagen sich geradezu vor Begeisterung, endlich eine vermeintliche Handhabe gegen den 94Jährigen in der Hand zu haben. Und das ausgehend von der Frage, ob dieser vor über 40 Jahren an einer Routinesitzung eines Gremiums teilgenommen hat, bei der es um den „Fall H.“ ging.
Und wieder eifern und geifern, urteilen und verurteilen, spucken und spotten viele, die dem emeritierten Papst nie das Wasser reichen konnten und können oder auch nie in einer so großen und existenziellen Verantwortung für die gesamte Kirche standen wie Joseph Ratzinger. Allen voran der einschlägig bekannte Kirchenrechtler Thomas Schüller, der allgegenwärtige Lieblingsinterviewpartner und dauerzitierte Stichwortgeber unserer amtskirchenkritischen deutschen Medien. Er bedient diese so zuverlässig mit antirömischen Affekten, ritualisierter Reformrhetorik und hierarchiekritischen Einlassungen wie weiland Hans Küng und Eugen Drewermann. Schüller weiß und liefert, was die Sender und Redaktionen brauchen.
Und ganz zufällig outen sich punktgenau am selben Tag mit Benedikts selbstkorrigierender Erklärung, bei der Sitzung damals wohl doch dabei gewesen zu sein, 120 deutsche LGBT-Katholiken und Kirchenmitarbeiter und fordern einen grundlegenden Wandel der Kirche – natürlich in die entgegengesetzte Richtung als die, für die Joseph Ratzinger alias Benedikt XVI., Gerhard Kardinal Müller und der heilige Papst Johannes Paul II. standen und stehen. Perfektes Timing! Alles Zufall? Minutenlang berichten die Nachrichten darüber, seitenlang die Printmedien, Sondersendungen betonen die Dringlichkeit des Anliegens, die Katholische Kirche in Deutschland und am besten gleich weltweit endlich protestantisch zu machen. Und auch hier pflichten einige katholische Bischöfe schnell bei. Diese passgenau und fristgerecht inszenierte Parallelkampagne lässt nur noch Ironie zu: So sollten „eingefleischte“ Veganer nicht den Metzgerberuf ergreifen, wer wasserscheu ist, nicht Bademeister oder Tiefseetaucher werden, und wer unter Flugangst leidet nicht Pilot.
Fazit: Papst Benedikt XVI. verdient in dieser so offensichtlichen wie leicht durchschaubaren Kampagne unsere Solidarität und unsere Fürbitte – jetzt erst recht und mehr denn je!
Pfarrer Prof. h. c. Dr. Jürgen Henkel aus Selb ist Gemeindepfarrer der Evang.-Luth Kirche in Bayern und Professor honoris causa der Babeş-Bolyai-Universität Klausenburg/Cluj-Napoca (Rumänien). Er ist Gründer, Herausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift „Auftrag und Wahrheit. Ökumenische Quartalsschrift für Predigt, Liturgie und Theologie“.
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