Kard. Müller: „Die Rufmordkampagne gegen Benedikt XVI. ist Offenbarungseid der eigenen Absichten“

1. Februar 2022 in Interview


Kardinal Müller im kath.net-Interview über das Missbrauchsgutachten des Erzbistums München: „Ich kenne Ratzinger seit Jahrzehnten in seiner intellektuellen Redlichkeit und seinem moralisch sicheren Urteil.“ Von Rechtsanwalt Lothar C. Rilinger


Vatikan (kath.net/pl) „Es ist geradezu grotesk, einen Mann wie Papst em. Benedikt XVI./J. Ratzinger der Welt als Lügner vorführen zu wollen, indem man einen einzelnen Vorgang 42 Jahre später einer einzigen von vielen hundert Sitzungen zuordnet, an denen er vielleicht meinte, teilgenommen oder nicht teilgenommen zu haben.“ Das sagt der emeritierte Präfekt der Glaubenskongregation, Gerhard Kardinal Müller, im kath.net-Interview äber das Missbrauchsgutachten des Erzbistums München und Freising. Im Gegenteil, „er ist der Mann, der an entscheidender Stelle als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst das vernachlässigte kirchliche Strafrecht wieder zur Geltung gebracht hat… Sind es nicht gerade diejenigen, die ihn damals als „Panzerkardinal“ verspotteten, die ihm heute mangelnde Härte gegen Straftäter vorwerfen, obwohl diese Fälle nicht einmal einen schwachen Beweis für nachlässiges Fehlverhalten abgeben?“ Die Fragen stellt Lothar Rilinger (siehe Link), Buchautor, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht i.R. und stellvertretendes Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes a.D.

Dieses Missbrauchsgutachten des Erzbistums München und Freising schlägt hohe Wellen. In diesem werden auch die Tätigkeiten des damaligen Erzbischofs Kardinal Joseph Ratzinger bewertet. Ihm wird in drei Fällen ein Fehlverhalten unterstellt. Die Beweisführung der Gutachter lässt allerdings nicht die Annahme zu, dass Benedikt XVI. gerichtsfest Verfehlungen nachgewiesen worden sind. Die Zweifel an der Beweisführung und die Verdienste des ehemaligen Papstes wollen wir mit Kardinal Gerhard Ludwig Müller erörtern. Der Umfang dieses Interviews schließt es aus, die einzelnen Fälle näher zu erläutern. Wir können nur auf die Gründe der Beschuldigung eingehen.

Rechtsanwalt Lothar C. Rilinger: Betrachten Sie es als eine „Schutzbehauptung“, wie es im Gutachten formuliert ist, dass der damalige Erzbischof Kardinal Ratzinger nicht über die Verfehlungen unterrichtet worden sein soll, obwohl seine Vorgänger und seine Nachfolger über strafrechtliche Vergehen von Priestern durch die jeweiligen Generalvikare informiert worden sind? Kann die Kenntnis anderer Bischöfe über Missbräuche als „Prämisse“ vorausgesetzt und damit die Argumente von Benedikt als ein „logischer Fehlschluss“ qualifiziert werden?

Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Er hat eine Schutzbehauptung nicht nötig. Ihm eine moralisch derart niedrige Gesinnung zu unterstellen, zeugt nicht nur von einer totalen Respektlosigkeit gegenüber einem um Kirche und Gesellschaft höchst verdienten Menschen und Christen, sondern ist der Offenbarungseid der eigenen Absichten, die in der maßlos wahnsinnigen Rufmordkampagne gegen ihn erfüllt worden sind.

Rilinger: Ist die Anklageerhebung gegen den Priester wegen Exhibitionismus als eine minderschwere Straftat anzusehen, da die sexuelle Handlung „vor“ dem Opfer und nicht „an“ dem Opfer stattgefunden hat, so dass Erzbischof Kardinal Ratzinger nicht über dieses Verfahren unterrichtet worden ist?

Kard. Müller: Wie die Tendenz zum Exhibitionismus zustande kommt, ist eine Frage an die Sexualpsychologie.

Wie ihre Ausübung strafrechtlich bewertet wird, haben die zuständigen Richter der weltlichen Gerichte zu entscheiden.

Moraltheologisch gesprochen, ist eine solche Tat eine schwere Sünde. (vgl. 1 Korinther 6,9) Wer sie begeht, ist des Priesteramtes unwürdig, weil der Priester wie jeder andere Christ auch an das Sechste Gebot gebunden ist. Darüber hinaus repräsentiert er Christus als den guten Hirten und soll damit ein geistliches und moralisches Vorbild für alle Gläubigen sein. (vgl. 1. Petrus 5,3) Ein katholischer Priester hat sich überdies nicht nur an den Grenzen des gerade noch Erlaubten zu bewegen, sondern muss in seinem Verhalten jeden Anstoß und in seiner Rede alle Zweideutigkeiten vermeiden.

Rilinger: Ist es nachvollziehbar, dass Bischof Ratzinger die Verfehlung nicht gemeldet, sondern von der Verwaltung selbst bearbeitet worden ist, weil der Missbrauch nicht in Ausübung der priesterlichen Tätigkeiten aufgetreten ist, sondern im privaten Bereich?

Kard. Müller: Es gab früher sicher die wohlgemeinte Praxis, den Ordinarius nicht in alle Details des unsauberen Verhaltens seiner Kleriker und Laienmitarbeiter einzubeziehen, weil man ihm das nicht zumuten wollte und das Problem selbst auf der Ebene der Personalabteilung lösen zu können meinte. Heute ist man schon bei den ersten Anzeichen sensibler und hellhöriger. Die neue Gefahr ist, dass vorschnell Unschuldige verdächtigt werden oder sogar der Medienmeute zum Fraß vorgeworfen werden. Haben sich all die Empörten und Hetzer im Fall Kardinal Pell, der letztinstanzlich von allen Anklagepunkten des sexuellen Missbrauchs freigesprochen wurde, entschuldigt oder wenigstens in ihrem Gewissen vor Gott Abbitte geleistet?

Es gab nach dem Konzil auch ein weitverbreitetes progressives Priesterbild, dessen Protagonisten bei der Sexualmoral nicht mehr so „verklemmt“ sein wollten. Den liberalen Ex-Kardinal McCarrick aus den USA (siehe Link) hat man jahrelang in diesen Kreisen entschuldigt mit der Ausrede, dass seine Opfer ja nur (!) Priesteramtskandidaten seien, die als Erwachsene wüssten, was sie tun. Auf dieser frivolen Linie sind heute noch die heuchelnden „Kirchenreformer“ auf dem Weg, die Sexualstraftaten an Heranwachsenden durch Legitimierung von heterosexuellen und homosexuellen Kontakten der Priester oder Laienmitarbeiter mit Erwachsenen verhindern wollen. Dadurch unterminieren sie die geoffenbarte Moral und die natürliche Ethik, machen den Zölibat zu einer gotteslästerlichen Farce und entheiligen die Ehe von Mann und Frau als göttliche Stiftung. Was Sünde ist, legt der Christ nicht selbst ab dem Tag seiner bürgerlichen Mündigkeit, also ab dem 18. Geburtstag, fest. Als Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Senioren wissen wir, dass wir mündig-verantwortlich sind gegenüber Gott und seinem heiligen Willen. Schon der vorchristliche Philosoph Seneca erkannte: „In einem Königreich sind wir geboren: Gott zu gehorchen ist Freiheit.“ (Vom glücklichen Leben 15, 7) Um wieviel mehr glauben wir Christen, dass wir durch die Erfüllung der Gebote Gottes frei und glücklich werden. „Denn ihr seid zur Freiheit berufen…Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe.“ (Galaterbrief 5, 13)

Die Kirche kommt aus diesem Medientief nicht heraus durch die Unterminierung der Sexualmoral. Aus dem Elend der Sexualisierung und Kommerzialisierung unserer leiblichen Existenz, die nur die verzweifelte Sinnleere des Europäischen Nihilismus widerspiegelt, kommen wir nur heraus, wenn wir unser Mann-Sein oder Frau-Sein als Disposition zur personalen Liebe verstehen und somit als Gnade erfahren. Sexualität wird immer missbraucht, wenn sie zur Droge verkommt; sie soll das Gefühl der Sinnlosigkeit betäuben. Das Leben ist aber nie sinn-los, weil der Sinn, die Vernunft, das Wort Gottes, Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat und in Jesus Christus bei uns mit seiner Gnade und Wahrheit bleibt.

Gott schuf den Menschen nicht hetero-, bi,-trans- oder asexuell, päderastisch oder lesbisch oder pädo- und homophil oder in sonstigen Lustgewinntechniken, sondern nach seinem Bild und Gleichnis schuf er jeden einzelnen als Mann oder Frau. Und er segnet das Ehepaar, indem er sagt: „Seid fruchtbar und mehret euch, bevölkert die Erde.“ (Genesis 1, 28 f) Und Jesus, der Sohn Gottes und einzige Lehrer der göttlichen Wahrheit, legt diese anthropologische Urwahrheit endgültig so aus, dass durch die wechselseitige Liebe von Mann und Frau die beiden nicht mehr zwei sind, sondern „ein Fleisch“ (Matthäus 19, 5).

Rilinger: Eine Woche nach Kenntnisnahme seitens der Verwaltung von der Verurteilung eines Priesters wurde dieser vom Religionsunterricht entbunden. Als Grund für die Freistellung wurde die angestrebte Promotion angegeben. Kann aus diesem Argument zwingend hergeleitet werden, dass die Verurteilung wegen eines Sexualdeliktes der Grund für die Entpflichtung gewesen war?

Kard. Müller: In keiner Weise. Wer das tut, verwechselt den Ablauf einer Ordinariats-Sitzung mit den Vernehmungsmethoden der Kriminalpolizei oder der juristischen Akrobatik eines amerikanischen Geschworenengerichts. Unsere Leute in der Kirchenverwaltung sind nicht mit allen Wassern gewaschen, sondern meist sehr gutgläubig, also mehr einfältig wie die Tauben und nicht so klug wie die Schlangen. Die es doch sind, haben oft mehr Schaden angerichtet.

Die Betrüger wissen, dass man den Pfarrern am leichtesten einen Bären aufbinden kann, um von ihnen Geld locker zu machen. Gewiss muss man auch bei der Personalführung in der Kirche aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, aber auch nicht in das gegenteilige Extrem eines Klimas der permanenten Verdächtigung verfallen. Die beste Prävention ist das priesterliche Ethos, dem sich die Seelsorger unterstellen und zu dem sie sich wechselseitig anhalten. Wer sich in der Feier der Heiligen Eucharistie täglich mit dem Kreuzesopfer Christi verbindet, besiegt mit seiner Gnade jede Versuchung zur Sünde

Rilinger: Pädophilie wurde als heilbar angesehen, was auch dem Resozialisierungsgedanken, der zu der damaligen Zeit im Strafrecht als vorherrschend angesehen wurde, entsprochen haben konnte. Widerspricht es der „Richtigkeitsvermutung“, dass wegen dieser Bemühungen Bischof Ratzinger nicht unterrichtet worden ist?

Kard. Müller: Wie es im Einzelnen mit der präzisen Information war, weiß ich als Unbeteiligter natürlich nicht. Aber auch die Anwesenden können die Vorgänge nicht mehr vollständig aus den Akten und schon gar nicht aus dem Gedächtnis rekonstruieren.

Aber ich kenne Joseph Ratzinger seit Jahrzehnten in seiner intellektuellen Redlichkeit und seinem moralisch sicheren Urteil.

Und daraus ergibt sich ohne Zweifel, dass er niemals und unter keinen Umständen etwas Fahrlässiges oder gar Gezieltes getan und zugelassen hat, was einen Schaden an einzelnen Personen oder an der Gemeinschaft der Gläubigen bewirkt hätte.

Wie oft haben sich schon Psychologen mit ihren Prognosen über die Rückfälligkeit von Straftätern geirrt. Daraus folgt, dass jeder nur nach besten Gewissen und Wissen an seiner verantwortlichen Stelle handeln kann.

Einen Rechtsstaat ohne Verbrechen einzelner Bürger und eine Kirche ohne die Sünden ihrer einzelnen Glieder, obwohl sie ihrer Substanz nach der heilige Leib Christi ist (vgl. II. Vatikanum, Kirchenkonstitution Lumen gentium 8), werden wir vor dem Jüngsten Gericht in dieser Welt nicht erleben und schon gar nicht mit pelagianischer Selbstgerechtigkeit dieser gefallenen Welt abtrotzen können. Wir sind aber überzeugt, dass am Ende Gott allen Erniedrigten und Beleidigten Gerechtigkeit zuteilwerden lässt.

Rilinger: Benedikt XVI. will aufklären und hat sich deshalb freiwillig bereit erklärt, an der Aufklärung mitzuwirken. Allerdings zweifeln die Gutachter an der Erinnerungsfähigkeit, weil er sich nach 40 Jahren nicht an eine Sitzung erinnern konnte, und insinuieren, dass der damalige Erzbischof entgegen seiner Erinnerung über strafrechtliche Verfehlungen von Priestern informiert worden ist. Halten Sie es für möglich, dass sich Benedikt auf Erinnerungslücken beruft, um vermeintliche Verfehlungen zu leugnen?

Kard. Müller: Nur Gott hat in seinem Gedächtnis ein perfektes Wissen um alles Geschehen in der Welt im Allgemeinen und bis in die letzten Einzelheiten. Menschen haben eine unterschiedliche Gedächtnisleistung, aber keiner verfügt über ein absolutes Gedächtnis. Aus unserer Vergangenheit wissen wir grosso modo um die Ereignisse und können uns punktuell an dieses einzelne Wort und Erlebnis erinnern. Manchmal kombinieren wir auch falsch und meinen, es müsste – aufgrund einer falschen Assoziation – so gewesen sein.

Es ist geradezu grotesk, einen Mann wie Papst em. Benedikt XVI./J. Ratzinger der Welt als Lügner vorführen zu wollen, indem man einen einzelnen Vorgang 42 Jahre später einer einzigen von vielen hundert Sitzungen zuordnet, an denen er vielleicht meinte, teilgenommen oder nicht teilgenommen zu haben.

Außerdem geht der Fehler nicht auf ihn selbst zurück, sondern es handelt sich um ein Versehen seiner Mitarbeiter. Er ist mit seinen 94 Jahren im intellektuellen Sinn noch voll auf der Höhe, kann aber die operativen Vorgänge, z.B. das Lesen von Tausenden von Akten am Bildschirm, nicht bewältigen.

Er kann sich aber an die Tatsache erinnern, dass ihm zum damaligen Zeitpunkt die Gefährlichkeit dieses aus dem Bistum Essen kommenden Priesters nicht bekannt war. Außerdem ist dieser Mann nicht mehr in seinen Gesichtskreis getreten und bis zum Weggang J. Ratzingers nach Rom nicht negativ auffällig geworden.

Rilinger: Benedikt XVI. kann sich nach 40 Jahren nicht an alle Einzelheiten erinnern. Kann ihm deshalb eine „Lüge“ unterstellt werden, wenn sich nach Veröffentlichung des Gutachtens herausgestellt hat, dass er tatsächlich an einer Sitzung teilgenommen hat, auf der über den inkriminierten Priester gesprochen wurde, wobei sich allerdings aus dem Protokoll der damaligen Sitzung ergibt, dass lediglich über die Unterbringung des Priesters gesprochen worden ist, nicht aber über seine strafrechtliche Auffälligkeit. Wie würden Sie als Theologe und Philosoph „Lüge“ definieren?

Kard. Müller: In seinem Aufsatz „Was heißt die Wahrheit sagen?“ gibt Dietrich Bonhoeffer unter den lebensbedrohlichen Bedingungen des staatlich gedeckten Lügensystems im Jahr 1943, im Gefängnis Berlin-Tegel, die theologische und hier allein maßgebende Definition im Gegensatz zu ihrer ideologisch-agitatorischen Instrumentalisierung: „Lüge ist Widerspruch gegen das Wort Gottes, wie er es in Christus gesprochen hat, und in dem die Schöpfung beruht. Lüge ist demzufolge die Verneinung, Leugnung und wissentliche und willentliche Zerstörung der Wirklichkeit, wie sie von Gott geschaffen ist und in Gott besteht, und zwar soweit dies durch Worte und durch Schweigen geschieht.“ (Dietrich Bonhoeffer Werke 16, 627)

Ob also der damalige Erzbischof von München J. Ratzinger an dieser Sitzung ganz oder teilweise teilgenommen hat, ist für die Sachentscheidung, diesen Mann während seiner Psychotherapie in einem Münchner Pfarrhaus unterzubringen, nicht ausschlaggebend. Es ist doch nur eine perfide Rechthaberei, ihm die Anwesenheitsliste um die Ohren zu schlagen und sie ihm zynisch wie eine Trophäe vorzuhalten, so wie die „Fischweiber“ – die Poissarden – auf dem Demonstrationszug von Versailles ins revolutionäre Paris die abgeschlagenen Köpfe seiner Diener König Ludwig XVI. auf Bratspießen vorausgetragen haben (5./6. Oktober 1789).

Ich komme täglich mit vielen Menschen aus verschiedenen Nationen zusammen, die mich fragen, wie es möglich ist, dass in Deutschland ein Papst aus ihrer Heimat als Lügner bezeichnet wird. Man kann sich angesichts dieser Vorgänge nur schämen, ein Deutscher zu sein, vor allem auch, weil so viele Menschen, die an sich guten Willens sind, auf die antikatholische Propaganda hereinfallen.

Rilinger: Halten Sie es für eine Falle, dass die Gutachter es unterlassen haben, Benedikt XVI. wegen der protokollierten Teilnahme an der Sitzung vorab durch einen Hinweis auf seinen Irrtum hinsichtlich der Teilnahme an der Sitzung aufmerksam gemacht zu haben, da es jeder Logik widerspricht, eine Teilnahme an einer Sitzung zu leugnen, wenn die Anwesenheit durch die Unterschrift auf dem Protokoll dokumentiert ist?

Kard. Müller: Er war wohl nur irrtümlich der Meinung, an der Sitzung nicht teilgenommen zu haben. Allerdings konnte er es nicht mit metaphysischer Gewissheit sagen. Auf jeden Fall wurde hier nicht fair gespielt. Und in der Sache ist es völlig unerheblich, ob er da war oder nicht, weil in ihr keine Entscheidung wegen strafrechtlich relevanter Vorkommnisse erörtert und beschlossen wurde. Dass der in Gnaden aufgenommene Priester die Gastfreundschaft so schäbig missbrauchte, konnte niemand ahnen.

Die Anwaltskanzlei sollte auch etwas vom hohen Ross heruntersteigen, da ihre Einlassungen zur kirchlichen Sexualmoral bei weitem ihre Kompetenz überschreiten und, überhaupt, jede Besserwisserei nach 42 Jahren mehr als wohlfeil ist.

Kein Geschöpf mit einem nur endlichen Verstand kann die möglichen kontingenten Wirkungen seiner Entscheidungen im Positiven und Negativen total vorausberechnen, selbst wenn sie mit bestem Wissen und Gewissen getroffen wurden. Das können nicht einmal Juristen und Journalisten.

Rilinger: Aus dem Gutachten ist ersichtlich, dass sich die Gutachter außerstande sehen, Benedikt XVI. zweifelsfrei ein Fehlverhalten zu unterstellen. Sie stützen sich in ihrer Argumentation auf Vermutungen, Unterstellungen und Analogien, ohne aber durch eine schlüssige Beweisführung aus den zitierten Indizien einen Nachweis erbringen zu können. Widerspricht diese Vorgehensweise nicht doch der auch von den Gutachtern beschworenen strafrechtlichen Unschuldsvermutung, die jeder Betroffene für sich reklamieren kann?

Kard. Müller: Diese Anwälte wollen Untersucher, Ankläger, Verteidiger und Richter in einem sein. Zuständig für ein Fehlverhalten im strafrechtlichen Sinn sind allein die ordentlichen Gerichte des Staates. Es ist illegitim, weltliche Instanzen über das Regierungshandeln von Bischöfen in ihrem geistlichen Amt anzurufen. Hinsichtlich der staatlichen Gerichtsbarkeit sind Bischöfe und Priester wie alle Bürger gleichberechtigt und gleichverpflichtet.

Das hätten die Auftraggeber wissen müssen, dass nur der Papst mit seinen römischen Kirchengerichten über Bischöfe nach kanonischem Recht Recht spricht. Und über Benedikt XVI. kann in kirchlichen Dingen sowieso niemand befinden, wenn er auch jetzt im Status des früheren Papstes ist. Der Sinn einer solchen Untersuchung kann nur sein, den Opfern von sexuellem Missbrauch, falls es noch nicht geschehen ist, jetzt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und bisher unerkannte Straftäter der weltlichen oder kirchlichen Gerichtsbarkeit zuzuführen.

Rilinger: Auch wenn die einzigartigen Verdienste Joseph Ratzingers als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst für die Aufklärung von Missbräuchen unabhängig von seiner Tätigkeit als Erzbischof gesehen werden müssen, soll aber nicht verschwiegen werden, in welchem Umfang und Schärfe er gegen Priester vorgegangen ist, die sich des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht haben. Was hat J. Ratzinger geleistet und hat er sich in besonderer Weise um die Missbrauchsopfer gekümmert?

Kard. Müller: Er ist der Mann, der an entscheidender Stelle als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst das vernachlässigte kirchliche Strafrecht wieder zur Geltung gebracht hat. Gewiss gab es – im Unterschied zu den progressiven Ideologien – niemals in der Kirche Zweifel, dass sexueller Missbrauch an Heranwachsenden ein schreiendes Unrecht ist und einen Schlag ins Gesicht des katholischen Priesterideals bedeutet. Aber wie oft wurde von progressistischer Seite der Abschied von der „Rechtskirche“ beschworen, immer in der Hoffnung auf die „Liebeskirche“, in der Jesus so viel Verständnis mit den Sündern gehabt hat und in der vor allem die Sünden gegen das Sechste Gebot nicht überbewertet werden sollten.

Sind es nicht gerade diejenigen, die ihn damals als „Panzerkardinal“ verspotteten, die ihm heute mangelnde Härte gegen Straftäter vorwerfen, obwohl diese Fälle nicht einmal einen schwachen Beweis für nachlässiges Fehlverhalten abgeben?

Rilinger: Da es den Gutachtern nicht gelungen ist, Kardinal Ratzinger gerichtsfest straf- und kirchenstrafrechtlicher Taten zu überführen, drängt sich der Verdacht auf, dass mit der Beauftragung der Gutachter durch Erzbischof Kardinal Marx mehr als nur Aufklärung beabsichtigt wurde. Können Sie den Verdacht ausschließen, dass mit den Anschuldigungen auch der Versuch unternommen wurde, Benedikt XVI. – wie schon zuvor Kardinal Woelki aus Köln – als Gegner des sogenannten Synodalen Weges, den Kardinal Marx unterstützt, auszuschalten?

Kard. Müller: Ich möchte mich nicht zur Person eines Mitbruders in der Öffentlichkeit äußern oder Gleiches mit Gleichem vergelten. Es liegt aber auf der Hand, dass innerkirchliche Kreise und erst recht die antikatholische Stimmungsmache, die den moralischen Tiefstand des Kulturkampfes in der Bismarckzeit erreicht hat, Kardinal Woelki als Person schweres Unrecht zufügten und sich damit selbst diskreditierten.

Rilinger: Ist es mit der Weihe zum Priester und Bischof und mit der Ernennung zum Kardinal vereinbar, persönliche Animositäten zu verfolgen, auch auf die Gefahr hin, dass die Kirche erheblichen Schaden erleiden könnte?

Kard. Müller: Die größte Gefahr seit 2000 Jahren war immer die Gefahr, das Bischofsamt nach der Art von weltlichen Machthabern ausüben zu wollen.

Jesus hat Jünger zu Aposteln gemacht und in ihrer Nachfolge zu Bischöfen, Priestern und Diakonen, damit sie sein Evangelium verkünden, seine Gnade in der Liturgie und in den Sakramenten auf die einzelnen Menschen und die ganze Kirche herabflehen und damit jeder durch sie die Hirtenliebe Christi erfährt.

In der Politik geht es nicht um die Liebe zur Wahrheit, sondern um den „Willen zur Macht“. Aufgabe der Bischöfe und des Papstes ist es, den Machthabern dieser Welt – auch den christlichen – ins Gewissen zu reden, damit diese ihren Machtwillen zügeln und ihre Völker auf den Frieden, die soziale Gerechtigkeit, die materielle Wohlfahrt und die kulturelle Blüte hinlenken.

Rilinger: Im Gutachten wird der Auftraggeber Kardinal Marx der Untätigkeit und der Vertuschung beschuldigt. Wäre es jetzt notwendig, dass Kardinal Marx ein weiteres Mal seinen Rücktritt als Erzbischof dem Papst gegenüber anbietet?

Kard. Müller: Ein Bischof ist von Christus eingesetzt und ihm verantwortlich in täglicher Gewissenserforschung und tatkräftigem Verkünden und Bezeugen des Heils, das von Gott kommt.

Ein Bischof ist also nicht vom Papst in seine geistliche Vollmacht und Sendung eingesetzt. Aber bei erheblicher Behinderung wie zum Beispiel Krankheit oder schwerer Verletzung seiner Pflichten kann er von der konkreten Ausübung seines Amtes entpflichtet werden. Diese öffentlichkeitswirksamen Gesten, mit denen man ein Spiel mit dem Dienst am Heiligen, zu dem Christus, das Haupt der Kirche im Heiligen Geist, einen schwachen Menschen befähigt, treibt, tut jedem Katholiken, der mit seiner Kirche lebt und denkt, in der Seele leid.

Der Papst sollte diesen kopflosen Haufen, der sich Deutsche Bischofskonferenz nennt, nach Rom befehlen und die Bischöfe solange nicht mehr auf die ihnen anvertrauten Gläubigen loslassen, bis jeder von ihnen das III. Kapitel der Kirchenkonstitution Lumen gentium über das Bischofsamt auswendig gelernt hat.

„Denn mit ihren Helfern, den Priestern und Diakonen stehen die Bischöfe im Dienst ihrer Brüder und Schwestern, damit alle, die zum Volke Gottes gehören und sich daher der wahren Würde eines Christen erfreuen und in freier und geordneter Weise sich auf das Ziel ausstrecken und so zum Heile gelangen.“ (vgl. LG 18; 20) Das zeitliche und ewige Ziel des Menschseins ist die innigste Gemeinschaft mit Gott in Jesus Christus, dem Licht, das jeden Menschen erleuchtet. (vgl. LG 1)

Rilinger: Die Kirche bemüht sich, die Missbrauchsfälle ihrer Geistlichen und Angestellten aufzuarbeiten. In anderen Bereichen der Gesellschaft, ob im Sport, in der Kinderbetreuung, in anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften oder in den Familien, ist sexueller Missbrauch in einem weit höheren Maße zu beobachten. Könnte der Wille der Römisch-Katholischen Kirche, den sexuellen Missbrauch aufzudecken und zu ahnden, Vorbild für diese anderen Organisationen sein?

Kard. Müller: Die Kirche ist mit den Menschen, die ihr angehören, Teil der Gesellschaft im Guten wie im Bösen. „Sie ist zugleich (von ihrer göttlichen Sendung her) heilig und (von ihrer menschlichen Ausführung her) stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung.“ (Lumen gentium 8) Die Kirche in ihrer irdischen Knechtsgestalt kann sich nicht vor der Welt brüsten als die ideale Gemeinschaft der absolut Reinen und Sündlosen. Aber sie darf stets neu ihre göttliche Sendung annehmen und ausführen, in Christus Sakrament des Heils der Welt zu sein. Wer sonst als die Kirche Jesu Christi wäre berufen, für die unveräußerlichen Menschenrechte einzutreten und ganz besonders für die seelische und leibliche Integrität unserer Heranwachsenden. Jesus ist unser aller Vorbild. „Amen, amen, das sage ich euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Und er nahm die Kinder in seine Arme; dann legte er ihnen die Hände auf und segnete sie.“ (Markus 10, 15 f)

Rilinger: Vielen Dank, Eminenz.

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Archivfoto Kardinal Müller (c) kath.net


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