10. Februar 2022 in Kommentar
„Man will, jenseits aller Fakten, jenseits jeder Bereitschaft, den Missbrauchsskandal aufzuarbeiten, das Siegel der Lüge dem im Lebensabend angekommenen demütigen, glasklaren Mitarbeiter der Wahrheit aufdrücken.“ Gastkommentar von Martin Lohmann
Köln-Vatikan (kath.net) Die Veröffentlichung des persönlichen Briefes des emeritierten Papstes am 8. Februar 2022 macht es noch einmal deutlich: Benedikt XVI. hat keineswegs gelogen oder in irgendeiner Weise irgendetwas vertuscht. Der mitgelieferte Faktencheck macht dies eindeutig klar. Und doch meldeten sich wieder umgehend Stimmen, die diese persönliche Stellungnahme des beinahe 95jährigen Kirchenmannes zum Anlass nahmen, um Kritik am Emerito zu üben. Wie mit dem Elektronenmikroskop sucht man eifrig nach dem, was einem in der schnellen Verurteilung Benedikts doch noch Recht geben könnte. Eine Erkenntnis, sich eventuell bei dem alten und verdienten Herrn entschuldigen zu müssen, scheint man um jeden Preis vermeiden zu wollen.
Offenbar gibt es eine regelrechte Sehnsucht, sich am emeritierten Papst Benedikt XVI. zu verbeißen. Es ist erstaunlich, wie viele da offenbar nach wie vor unterwegs sind und auf einen alten Mann einschlagen, dessen geistige und geistliche, intellektuelle und theologische Lebensleistung einzigartig ist. Warum? Was stört da wirklich? Der längst korrigierte Fehler wegen der Teilnahme an einer Sitzung des damaligen Münchner Erzbischofs kann es von der Sache und vom Inhalt her wahrlich nicht sein. Wer genau hinschaut und die Pirouetten der mit gekonntem Betrübnisgestus versehenen Empörungssehnsucht betrachtet, kann unschwer auf erschreckend einfache und einfach nur noch erschreckende Antworten stoßen.
Doch halt! Stellen wir einmal die Frage, warum allein in der Sache selbst, aus der man eine „Lüge“ von Papst Benedikt konstruierte, Wesentliches auch von Journalisten angesehener Zeitungen beziehungsweise anerkannter und als vertrauenswürdig geltender Medien weggelassen wird, um nur ja kein ehrliches und maßstabsgetreues Bild der damaligen Wirklichkeit zu zeichnen und in den Köpfen der Mediennutzer zu ermöglichen. Insinuiert man absichtlich etwas Schräges und konstruiert eine „passende“ Lüge, die es niemals gab? Wegen einer Teilnahme des damaligen Münchner Erzbischofs an einer Sitzung, in der es – soweit die Faktenlage bekannt ist – um folgendes ging:
In seinem Heimatbistum Essen hatte man erkannt, dass ein Priester wegen seiner Vergehen dringend eine besondere Therapie brauchte. Dafür sollte er nach München, um behandelt werden zu können. Zur Erinnerung: Damals ging man medizinisch noch davon aus, dass Pädophilie wohl heilbar sein könne und nach dieser Heilung auch manche beruflichen Aufgaben wieder möglich seien. Und übrigens: Es gab damals sogar politische – aber keine kirchlichen! - Gruppierungen, die sich dafür einsetzten, in der (aus-gelebten) Pädophilie etwas ganz Normales sehen zu sollen. In der besagten Sitzung ging es also lediglich darum, ob der Essener Diözesanpriester, der Essener Priester blieb, innerhalb des Erzbistums München wegen einer notwendigen Therapie wohnen dürfe. Daraus ohne Berücksichtigung des damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstandes und ohne Beachtung der Fakten einen Vorwurf der Lüge zu basteln und den späteren Papst gar in die Nähe von Missbrauchstätern und pädophilen Verbrechern zu schieben, ist weder journalistisch korrekt noch fair noch anständig oder gar ehrlich. Noch einmal: Warum der Priester Peter H. in München Aufenthalt bekommen sollte, wurde in der in Rede stehenden Sitzung nicht thematisiert.
Wichtig ist hier der Hinweis, dass Erzbischof Kardinal Ratzinger nicht – in Worten: nicht – über die pädophilen Hintergründe des Peter H. informiert wurde und also auch nicht wissen konnte, warum der Essener Priester und zu welcher Krankheitsbehandlung nach München kommen sollte. Generell ist aber auch anzumerken im Blick auf das Bemühen, den Priester nach München zu schicken: Ist es rückblickend verwerflich, dass man den psychisch kranken Mann aus dem Verkehr zog und durch eine Therapie, von der man sich damals aus der Sicht der Psychiatrie Erfolg erhoffte, den heilen wollte von seinen Perversionen? Oder könnte man einem Erzbischof Joseph Ratzinger, der die Hintergründe eben nicht kannte, allen Ernstes vorwerfen, dass er die erst Jahre später veröffentlichten und in Kraft getretenen neuen Regeln des kirchlichen Gesetzbuches 1980 noch nicht kennen konnte – selbst wenn er etwas Genaueres gewusst hätte, was nicht der Fall war? Erst recht kannte er nicht die viele Jahrzehnte später erlassenen Verfügungen Roms zum Umgang mit Missbrauchstätern im Klerus. Ein Wiedereinsatz des – eben nicht geheilten – Pädophilen geschah erst nach der Bischofszeit von Ratzinger Jahre später, unter seinem Nachfolger Friedrich Wetter. Joseph Ratzinger hat nichts vertuscht!
Noch einmal, nicht als nachträgliche Rechtfertigung, aber als erklärende Erinnerung: Die sogenannte Reformpädagogik der Odenwaldschule war damals gesellschaftlich hoch angesehen, und es wurde von manchem, der sich heute über die Aufarbeitung des Missbrauchs in der Kirche eschauffiert, ernsthaft die Freigabe der Pädophilie gefordert. Auch im Blick auf diese „libertinären“ Verirrungen bedarf es dringend einer schonungslosen Aufklärung und Aufarbeitung. Die damals gegen jede Lehre der Kirche von Scham, die für ihre angebliche Verklemmtheit durch Fordern von Keuschheit höhnisch verlacht und verachtet wurde, propagierten mentalen und krankhaften Verstrickungen gar einem Papst Benedikt ankleben zu wollen, der entschieden vorging gegen jeden, der sich nicht an die Gebote hielt und beschämenderweise auch den Versuchungen der Schamlosigkeit nicht gewachsen war, ist einfach widerlich.
Selbstgerechte Moralapostel, unter die sich gar Bischöfe einreihen, die sich einst in seinem Lichte schön zu sonnen verstanden, fordern öffentlich und wohlfeil eine Entschuldigung von Papst em. Benedikt XVI. Sie nähren den Verdacht, dass möglicherweise von wichtigen Fragen und Notwendigkeiten wie der dringend erforderten Aufklärung eigener und wirklicher Versagen abgelenkt werden soll. Das aber wäre nicht nur fatal, sondern geradezu bösartig. Haben es eventuell gar hohe Kirchenvertreter tatsächlich nötig, im Betroffenheitsgestus unter Abonnieren des Zeitgeistapplauses öffentlich im Fernsehen in diesem Zusammenhang fremdbußbereit zu fordern, man müsse die Lehre der Kirche ändern?
Ja, genau darum geht es auch bei allen Zerstörungsversuchen gegen Joseph Ratzinger im Kern – und für alle, die sich nicht total (ver)blenden lassen wollen: Es geht um das katholische und an der Offenbarung Gottes und seinem Mensch gewordenen Sohn orientierte Bild der Kirche, die nicht auf Beliebigkeit und wackligem Anpassungsgesäusele gebaut ist, sondern auf stabiler Wahrheit. Es geht darum, einen besonders starken und klaren Zeugen der Wahrheit, der gemäß seines bischöflichen Wahlspruchs „Mitarbeiter der Wahrheit“ ist, deswegen zu diskreditieren. Denn dieser Mann vertritt mit der Macht der Logik und der Treue zur Frohen Botschaft all das, was die Kirche Jesu Christi als Zeichen des Widerspruchs wirklich ausmacht. Deshalb stürzen sich manche wie die Geier und in der bekannten (und auch erkennbaren) feindseligen Sprungbereitschaft, die es schon lange gibt und die man sorgfältig pflegte und kultivierte, auf diesen Gelehrten, Theologen, Kirchenlehrer und auf-geklärten Zeugen der Wahrheit.
Man will, jenseits aller Fakten und jenseits jeder Bereitschaft, den Missbrauchsskandal aufzuarbeiten, das Siegel der Lüge mit dem im Lebensabend angekommenen demütigen und glasklaren „Mitarbeiter der Wahrheit“ verschweißen, es ihm gleichsam voller Eifer und Gier brutal aufdrücken. Man möchte ihn – und mit ihm das wahre Bild von Kirche – zerstören, beseitigen, vernichten. Man ist geneigt, so etwas satanisch zu nennen. Denn man will auch das Faktum im Bewusstsein vieler verunmöglichen, dass Kardinal Ratzinger und später als Benedikt wesentlich energischer, entschiedener, konsequenter und glaubwürdiger als andere ausgeklärt und gehandelt hat und Konsequenzen ziehen ließ, wenn es um das abscheuliche Verbrechen des Missbrauchs in der Kirche Jesu Christi ging.
Nicht der emeritierte Papst muss sich entschuldigen, sondern viele, darunter leider auch Bischöfe, die sich in den vergangenen Tagen in sprungbereiter Hassbereitschaft an einem Mann abarbeiteten, dem sie theologisch, menschlich, glaubensmäßig und charakterlich offenbar nicht ansatzweise das Wasser reichen können. Wenn noch Zweifel diesbezüglich bestanden haben sollten, dann sind sie von den Akteuren der Falschheit jetzt selbst beseitigt worden. Sie alle sollten eine Entschuldigungsbitte noch rechtzeitig vor dem 95. Geburtstag von Joseph Ratzinger am 16. April versuchen – falls die Begabung zur Scham und zur Selbstkritik, Selbstkorrektur und Umkehr nicht ganz ausgelöscht wurde.
Sünde muss Sünde genannt werden. Wer gegen Gottes Gebote verstößt, sündigt. Und jeder ist persönlich für seine Sünden verantwortlich, erst recht für verbrecherische. Und für Verbrechen muss es klare Konsequenzen für den dafür Verantwortlichen geben. Da darf nichts vertuscht werden! Und in aller Deutlichkeit: Den Opfern muss geholfen werden. Und es gilt, alles zu tun, um weitere Opfer zu vermeiden.
Es wäre gut, wenn manche ihre eigene Glaubwürdigkeit nicht ganz verspielen, indem sie endlich damit aufhören, ihre panische Angst vor einer ecclesia semper reformanda durch Fremdempörung und Fremdbußbereitschaft zu perpetuieren. Alles andere wäre perfide. Und die Reform der Kirche hat sich ausschließlich an der Urform Jesus Christus und dem Heutigwerden der immer gültigen Wahrheit zu orientieren. Wohlfeile Anpassung an den jeweiligen Zeitgeist gehörte und gehört niemals zur DNA der Kirche. Wahrheit und der Mut ihrer Verkündigung aber sehr wohl. Wer ehrlich ist, wird es zugeben (müssen): Vielen, die sich im Gewande vermeintlicher Kritik tarnen, geht es eher darum, einen schrecklichen anti-christlichen Auftrag mit allen Mitteln zu Ende zu bringen: ecclesia teutonica semper deformanda. Das aber gehört nicht zum Auftrag der Treue gegenüber dem, dessen Kirche mehr sein muss als ein volatiler Verein glaubens- und bekenntnisloser Zeitgeistanbeter.
Der Autor ist Theologe, Historiker und Publizist. Er kennt seit Mitte der 60er Jahre Joseph Ratzinger persönlich und gehört zum Neuen Schülerkreis des emeritierten Papstes Benedikt XVI.
Archivfoto Martin Lohmann (c) LohmannMedia
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