Polnisch-deutsche Verantwortung für die Wahrheit des Evangeliums

24. Februar 2022 in Kommentar


„Erzbischof Gądecki drückt die Bedenken aus, die jedem katholisch fühlenden/denkenden Christen in den Sinn kommen, wenn er die Dispute und Vorgänge auf Frankfurter ‚Synodalem Weg‘ von DBK und ZdK aufmerksam analysiert.“ Von Gerhard Card. Müller


Vatikan (kath.net) Der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki, hat im Blick auf die 1000-jährige Glaubens- und Geschichtsgemeinschaft der Katholiken in Deutschland und Polen einen universalkirchlich bedeutsamen Brief an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz geschrieben (siehe Link: Brief in voller Länge). Darin drückt er die Sorgen und Bedenken aus, die jedem katholisch fühlenden und denkenden Christen in den Sinn kommen (sentire cum ecclesia), wenn er die Dispute und Vorgänge auf dem Frankfurter „Synodalen Weg“ von DBK und ZdK aufmerksam analysiert.

Es bleibt die Hoffnung wider alle Hoffnung, dass dessen Aktivisten und Propagandisten mit Respekt vor den Polen, die von deutscher Überheblichkeit mehr als alle europäischen Nachbarn zu leiden hatten, wenigstens diesmal mit sachlichen Argumenten statt mit persönlichen Übergriffen reagieren.

Zu unterscheiden sind auf den Dauer-Sitzungen der Weg-Genossen die Kontroversen über die allseits bekannten Einzelforderungen von der vergessenen Fundamentalhermeneutik der katholischen Theologie, d.h. dem grundsätzlichen Zugang zum Verständnis der Offenbarung Gottes in Jesus Christus im „Gehorsam des Glaubens.“ Denn „darin überantwortet sich der Mensch Gott als ganzer in Freiheit, indem er sich dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft und seiner Offenbarung willig zustimmt.“ (II. Vatikanum, Dog. Konst. über die Göttliche Offenbarung, Dei verbum 5).

Mit Verweis auf die in der Offenbarung begründete kirchliche Lehre und Praxis bestätigt der Erzbischof von Posen die Glaubenswidrigkeit der „Segnung“ und damit trügerischen Gutheißung außerehelichen sexuellen Begehrens (Mt 5, 28) und Handelns (Mk 10,11f), der Negation der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als Mann und Frau, der Forderung nach dem Weihesakrament für Frauen wie auch der Ignoranz der inneren Entsprechung von sakramentalem Priestertum und zölibatärer Lebensform (II. Vatikanum, Presbyterorum ordinis 16).

All diese Irrtümer im Einzelnen sind nur möglich, weil die vom II. Vatikanum so nachdrücklich herausgestellte Sakramentalität der Kirche übersehen oder sogar geleugnet wird. Man reduziert die Kirche auf ihre äußere Organisationen und ihre Funktionäre. Und dabei trifft man sich paradoxerweise mit dem Unverständnis der Neuheiden für die Kirche als „Sakrament/Mysterium des Heils der Welt in Christus“ und ihrer Abneigung gegen die (!) Kirche als ein säkulares Politikum, das sie deshalb mit tödlichem Hass verfolgen, weil es ihrem totalitären Machtanspruch oder ihrer libertären Ideologie widerspricht.

In einem Briefwechsel (vom 5. und 6. Febr. 2022) mit mir über den neulich zum Kirchenlehrer erklärten Irenäus von Lyon hat Papst Franziskus die drei wesentlichen Kriterien bestätigt, anhand derer der Lehrer der Einheit der Kirche (doctor unitatis) die Wahrheit der katholischen und apostolischen Lehre von häretischen und schismatischen Positionen unterschied: 1. ihre Grundlage und Quelle in den Schriften des Alten und Neuen Testaments; 2. die Treue zur Lehrtradition der Apostel; und 3. die Übereinstimmung aller Ortskirchen in Lehre, Liturgie und Leben mit dem kirchlichen Lehramt der Bischöfe in der Amts-Nachfolge (Sukzession) der Apostel -mit Petrus und Paulus an ihrer Spitze, die mit ihrer apostolischen Zeugnis in Lehre und dem Vergießen ihres Blutes die zentrierende Stellung römischen Kirche begründet haben (vgl. Adversus haereses III, 3, 2f).

Gegen die Gnostiker (vgl. Buch I, 10,3) formuliert der Bischof von Lyon: „Den Glauben, den sie von den Aposteln empfangen hat, bewahrt die über die ganze Welt verbreitete Kirche so sorgfältig, als wenn sie in einem Haus wohnte, weil der Inhalt der Überlieferung überall ein und derselbe ist, sowohl in den Kirchen in Spanien und Gallien, aber auch in Germanien“ -hoffentlich heute auch östlich des Limes.

Das Wort Gottes an uns Menschen ist immer beides zugleich: (1. ) positive Anknüpfung an die menschlichen Grundfragen und damit die Erhebung und Vollendung der geist-leiblichen Natur des Menschen in der Liebe zu Gott und dem Nächsten, aber auch (2.) die Kritik der Gesellschaft und die Befreiung unserer individuellen Existenz und unserer sozialen Daseinsform von der Sünde, die unser Denken ideologisch verbohrt und unseren Willen vom Guten zum Bösen hinabzieht.

Seit den Kirchenvätern und der Scholastik bis zur Gegenwart arbeitet die katholische Theologie jederzeit an einer aktuellen geistigen Synthese von geoffenbarter Wahrheit und dem natürlichen Denken und Wissen in der Philosophie und den sich ständig durch trial and error fortentwickelnden empirischen Wissenshaften.

Einen Widerspruch zwischen der geoffenbarten Wahrheit Gottes und den von der natürlichen Vernunft erkannten Wahrheit über die Welt seiner Schöpfung kann es nur dort geben, wo deren Erkenntnisse von ideologischen Vorurteilen missdeutet oder zu Zwecken der widernatürlichen und gottlosen Herrschaft von Menschen über Menschen missbraucht werden. Gerade die Soziologie und Psychologie sind seit dem 19. Jahrhundert vom agnostisch-atheistischen und nihilistischen Denkern zur Konstruktion eines „Humanismus ohne Gott“ oder zur transhumanistischen Utopie des neuen sozialistischen oder konsumistischen Menschen gegen das christliche Menschenbild in Stellung gebracht worden -bis hin zum Willen der propagandistischen Vernichtung und blutig-realen Verfolgung der Kirche und der Christus-Gläubigen.

Es ist die Aufgabe der ganzen Gemeinschaft der Gläubigen, ihrer von Christus bestellten Hirten und aller Christen mit ihren natürlichen Talenten und charismatischen Gaben, „die Zeichen der Zeit“, also die geistige, soziale, kulturelle, politische Situation der Gegenwart wahrzunehmen und zu analysieren, sie aber „im Licht des Evangelium zu deuten“ (Gaudium et spes 4).

Die Kirche Christi auf dem irdischen Pilgerweg darf nicht das getreue oder verzerrte Spiegelbild ihrer Epoche sein, sondern muss sich selbst und die Menschen im Lichte Christi betrachten, bekehren und erneuern.

Weil „Christus das Licht der Völker ist“ war es „der Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Synode“ (des II. Vatikanischen Konzils), „alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkündet.“ (Dog. Konst über die Kirche, Lumen gentium 1). Bei allem Wandel der geistigen und praktischen Lebensverhältnisse bleiben die existentiellen Grundfragen nach dem Sinn des Menschseins im Leben und Sterben, im Leiden und Hoffen über unsere irdischen Grenzen hinaus.

Und das Wort von dem dreifaltigen Gott als Ursprung, Sinn und Ziel jedes Menschen unterscheidet die Kirche Christi von den vergänglichen Zielen aller weltlichen Institutionen: Das ist ihr Glaube, „dass Christus, der für alle starb und auferstand, dem Menschen Licht und Kraft schenkt durch seinen Geist, damit er seiner höchsten Berufung nachkommen kann.“ (II. Vat., Gaudium et spes 10).

Archivfoto Kardinal Müller (c) kath.net


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