2. März 2022 in Deutschland
„Ich bitte Sie um Ihre Offenheit, Ihre Geduld, darum, dass Sie mir, nein, uns noch eine Chance geben. Vor allem aber erbitte ich Ihr Gebet für uns alle auf einem sicherlich nicht einfachen Weg, der jetzt vor uns liegt“ – Hirtenbrief in voller Länge!
Köln (kath.net/pek) Während seiner Auszeit, die auch eine Zeit des Gebets und der Exerzitien gewesen ist, hat der Erzbischof von Köln, Rainer Maria Kardinal Woelki, Papst Franziskus seinen Amtsverzicht angeboten. Der Papst wird darüber zu gegebener Zeit entscheiden. Weiter hat der Papst angeordnet, dass Kardinal Woelki - wie vorgesehen - am 2. März seinen Dienst wiederaufnimmt.
In einem Brief an die Gläubigen zum Aschermittwoch nimmt der Erzbischof von Köln dazu Stellung. Während seiner Auszeit sollte der Erzbischof weder in Kommunikation gehen noch Medienanfragen beantworten. Die nächste Zeit ist für den Kardinal eine Zeit des Zuhörens und Zugehens auf die Menschen.
Heute möchte sich der Kardinal für das unterstützende Gebet, den großen Zuspruch und die vielen ermutigenden Briefe, Mails und Postkarten aller jener Gläubigen bedanken, die ihn in den letzten Monaten aus dem Erzbistum Köln sowie aus weiten Teilen Deutschlands und aus dem Ausland erreicht haben. Ebenso möchte der Kardinal allen danken, die in den vergangenen Wochen und Monaten Verantwortung im Erzbistum getragen und wahrgenommen haben, allen voran dem Apostolischen Administrator, Weihbischof Rolf Steinhäuser.
kath.net dokumentiert den Hirtenbrief von Rainer Maria Kardinal Woelki, Erzbischof von Köln, zur Fastenzeit 2022 in voller Länge:
An Aschermittwoch 2022
Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
am heutigen Aschermittwoch beginnt für uns alle die österliche Bußzeit dieses Kirchenjahres. Für mich ist es zugleich der Tag, an dem ich nach einer mehrmonatigen Auszeit in den aktiven Dienst als Erzbischof von Köln zurückkehre. Mir ist klar, dass sich für viele von Ihnen damit auch ganz unterschiedliche Gefühle verbinden: Verunsicherung, Unverständnis, Misstrauen bis hin zur Ablehnung meiner Person sowie einer gewissen Sorge im Hinblick darauf, wie es bei uns im Erzbistum weitergehen wird. Es tut mir leid, dass diese Zeit für viele Menschen in unserer Kirche eine so belastete Zeit ist. Und ich weiß und es schmerzt mich, dass auch ich für diese Situation Verantwortung trage.
Eines ist mir aber zunächst vor allem wichtig: Ihnen allen aufrichtig Dank zu sagen, die Sie in den vergangenen Wochen und Monaten in ganz unterschiedlicher Weise Verantwortung getragen und wahrgenommen haben, die Sie sich in unserem Erzbistum gekümmert und den Glauben gelebt haben. Allen voran gilt dieser Dank dem Apostolischen Administrator, Weihbischof Rolf Steinhäuser, der sich unermüdlich für ein gutes Miteinander und ein neues Zueinander eingesetzt hat. Dank sei auch allen gesagt, die ihn darin unterstützt und mit dazu beigetragen haben, Wege aufeinander hin zu finden und zu gehen. Herzlichen Dank Ihnen allen!
Natürlich nehme ich wahr, dass die Situation seit Oktober letzten Jahres nicht einfacher geworden ist. Eine Auszeit an sich löst ja keine Probleme. Von außen kann auch nur wenig auf den Weg gebracht werden. Und schließlich kann Versöhnung nur in einem Miteinander gedacht, gewagt, konkret versucht werden – und nicht im Modus einer Auszeit voneinander. Gleichwohl sind Auszeiten Chancen. Viele von uns wissen das und haben Erfahrung mit konstruktiven, gar heilsamen Dynamiken, die sich in Auszeiten in Gang setzen. Dabei sind Auszeiten selbst eher „schwere“ Zeiten: der inneren Auseinandersetzung, der Konfrontation, des Revue-passieren-Lassens, des Eingestehens, des Verabschiedens, des tastenden Neuanfangs.
So kehre auch ich nicht unverändert einfach so zurück, als sei in dieser Zeit nichts geschehen. Tatsächlich war für mich im Oktober letzten Jahres ein Maß an körperlicher und mentaler Erschöpfung erreicht, das eine Auszeit notwendig machte. Es wird nicht wenige unter Ihnen geben, die um die Notwendigkeit einer solchen Zeit wissen, weil Sie selbst oder Ihnen nahestehenden Menschen schon einmal die Erfahrung einer solch langfristigen Überbeanspruchung gemacht haben. Es war eine Zeit, meine eigene Erschöpfung zuzulassen und wieder neu zu Kräften zu kommen. Zeit, auf die letzten Jahre zurückzuschauen und Zukünftiges in den Blick zu nehmen. Zeit, mich den Versäumnissen, den Fehlern und der Schuld in meinem Leben zu stellen und dabei auch Gelungenes und den Zuspruch zu sehen und wertzuschätzen – und aus beidem zu lernen.
Es war vor allem eine Zeit der Nähe mit Jesus und, in meinem Sozialeinsatz nach den Exerzitien, mit ganz unterschiedlichen Menschen, bei denen ich nicht in einer Schublade steckte, sondern die mich angenommen und in vielfacher Weise herausgefordert haben. Das hat mir einen neuen Blick ermöglicht auf die Situation im Erzbistum Köln, auf mein eigenes und auf fremdes Handeln. Dabei ist in mir manches in Bewegung gekommen, was sich in der immer angespannteren kirchlichen Situation und zunehmenden, oft sehr persönlichen Anfeindungen meiner Person in unguter Weise in mir verhärtet hatte. Das betrifft Zusammenhänge von Beteiligung und Leitung, Möglichkeiten der pastoralen Entwicklung sowie notwendige Reformen in der Kirche bis hin zu systemischen Veränderungen, welche die Realitäten von sexuellem, geistlichem und strukturellem Missbrauch auch mir aufgeben. Richtungsweisend war und ist mir dabei die Perspektive der von Missbrauch Betroffenen, das, was sie erlebt und erlitten haben, als Kompass für mein Nachdenken und Handeln – und auch für das Arbeiten an mir selbst.
Immer und immer wieder habe ich in den vergangenen Monaten - betend und arbeitend - mein Handeln und die Situation in unserem Erzbistum reflektiert und meditiert. Besonders bedeutsam wurde mir ein Impuls, der für meine 30- tägigen Exerzitien grundlegend war und in die gesamte Auszeit hineingestrahlt hat: das immer neue Einüben in die ignatianische Haltung der Indifferenz, also in die Haltung, mich wie am Tage meiner Priesterweihe Christus, dem Herrn der Kirche, ganz und vorbehaltlos zu übereignen, die Haltung, „nichts zu sehr zu wollen“, sondern alles, wirklich alles auf Gott hin frei zu geben.
Als Ausdruck dieser Haltung innerer Freiheit habe ich dem Heiligen Vater meinen Dienst und mein Amt als Erzbischof von Köln zur Verfügung gestellt, so dass auch er frei ist, zu entscheiden, was dem Wohl der Kirche von Köln am meisten dient. Persönlich werde ich mich weiterhin mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften dafür einsetzen, dass der barmherzige Herr uns die Chance für einen Neuanfang schenken möge, auf neuen Wegen und in einem neuen Geist. Hierzu bitte ich Sie um Ihre Offenheit, Ihre Geduld, darum, dass Sie mir, nein, uns noch eine Chance geben. Vor allem aber erbitte ich Ihr Gebet für uns alle auf einem sicherlich nicht einfachen Weg, der jetzt vor uns liegt.
Ja, ich weiß um den Missbrauch in seinen verschiedenen Dimensionen. Ich weiß um den ungenügenden Umgang damit, um Fehlverhalten von Verantwortlichen insgesamt und um Irritationen in der Kirche in Deutschland und der Weltkirche – bis hin zu einer reformbedürftigen Kommunikation und Verkündigung des Glaubens, die heute zu oft am Leben der Menschen vorbeigeht. Ich weiß, dass diese Zusammenhänge zum Kern dessen gehören, was aktuell viele Menschen in der Kirche bewegt und belastet, verzweifelt macht. Doch ich weiß auch, dass sich nicht allein mit den großen Überschriften beschreiben lässt, wovon die eigene Auseinandersetzung bei Ihnen oder bei mir im Einzelnen geprägt ist.
Liebe Schwestern , liebe Brüder, meinen Gedanken, Erfahrungen, Empfindungen und Einsichten der letzten Zeit fehlen nun unbedingt die Ihren! Gern würde ich heute von möglichst vielen von Ihnen erfahren, was Sie in den vergangenen Monaten im Einzelnen bewegt hat und was die konkreten Beweg -Gründe sind für den Standpunkt, den Sie aktuell einnehmen: zu mir persönlich, aber doch vielmehr noch hinsichtlich Ihres Christseins in dieser Krisen- und Umbruchszeit der Kirch e. Ich ahne, was für eine Herausforderung Ihr kirchliches Engagement aktuell für Sie darstellen muss – und vertraue dabei darauf, dass Ihnen in unterschiedlichsten Zusammenhängen immer auch erfüllende Momente der Begegnung mit Gott und untereinander geschenkt waren und sind. Letzteres sollte grundsätzlich wieder unseren Alltag bestimmen dürfen. Daran möchte ich sehr gewissenhaft mit Ihnen gemeinsam arbeiten.
Das wird Räume und Möglichkeiten brauchen, in denen wir uns überhaupt sinnvoll wiederbegegnen könnten. Räume, in denen Menschen nicht komplett miteinander fertig sind, sondern sich nach einer Auszeit eine Chance geben, indem sie sich vielleicht erst einmal in aller Schwachheit begegnen und einander einfach zuhören: persönlich, von Mensch zu Mensch, und auch im Blick darauf, was sich während der letzten fünf Monate inhaltlich gezeigt und getan hat.
Dafür möchte ich in den kommenden Wochen und Monaten die Begegnung mit möglichst vielen von Ihnen suchen, um voneinander zu hören, was uns zu schaffen macht – und auch, woraus wir leben. Ich wünsche mir sehr und hoffe darauf, dass Sie mir auf den Wegen, die dafür notwendig sind, entgegenkommen. Dass dies offen, angstfrei und ehrlich geschehen kann, dafür möchte ich alles mir Mögliche tun. Vielleicht wird dies nicht immer direkt gelingen. So möchte ich Sie um Ihre Hilfe und Ihre Unterstützung bitten. Die Hoffnung, die ich damit verbinde, ist die Möglichkeit einer neuen Erfahrung miteinander. Es würde mich freuen, wenn auch Sie diese Hoffnung und Offenheit teilen könnten.
Wenn ja, dann würde ich mich sehr darüber freuen, wenn jedes Wieder-Begegnen auch etwas von einem Neu-Begegnen haben dürfte. Das meint, dass wir nach Möglichkeit nicht von vornherein festgelegt aufeinander zu kommen und gehen, sondern auch dem eine Chance geben, was wir jetzt wahrnehmen, was und wie wir etwas heute hören und dabei vielleicht entdecken, welche neuen Einsichten sich als zukunftsweisend herausstellen. Dafür möchte ich in der kommenden Zeit Räume und Möglichkeiten zur Verfügung stellen und Sie dahin einladen. Und sehr gerne werde ich auch überall dort hinkommen, wo Sie mir Ihre Türen öffnen.
Liebe Schwestern und Brüder, wir haben eine Geschichte miteinander, direkt oder auch nur indirekt. Daraus soll nichts weggewischt werden, vor allem nicht das, was Sie verletzt oder entmutigt hat – bis hin zur Verzweiflung an der Kirche. Ich möchte auch nicht den Eindruck erwecken, am liebsten nur noch nach vorn und nicht mehr zurück zu schauen. Vielmehr liegt mir daran, miteinander Räume zu betreten und zu gestalten, in denen wir uns ehrlich begegnen, einander zuhören und in denen wir gemeinsam die Möglichkeiten ausloten, wie es in unserem Erzbistum „gut“ weitergehen kann. Dafür möchte ich jetzt vor allem meine Zeit einsetzen.
So wird es für mich ein eher stiller Beginn sein. Ich habe viel nachzuholen. In den vergangenen viereinhalb Monaten ist das kirchliche Leben hier vor Ort ja intensiv weitergegangen. Das möchte und muss ich erst einmal „aufholen“. Dazu gehört vor allem, Ihnen zuzuhören: Ihrer Enttäuschung, Ihrem Ärger, Ihren Vorwürfen genauso wie Ihren Erwartungen, Wünschen, Ihrem Zuspruch und Ihren guten Ideen. Ich bitte Sie, geben Sie dem, geben Sie mir, Gelegenheit dazu.
Schließen möchte ich meinen Brief heute mit einem Gebet. Ich habe es noch im alten Jahr in einem kleinen geistlichen Heft gefunden – als Geschenk des Himmels in einer für mich sehr herausfordernden Zeit. Den drei ersten Strophen aus dem Stundengebet der Benediktinerinnen von Dinklage möchte ich noch eine vierte hinzufügen. Erlauben Sie mir, es mit Ihnen zu teilen:
Alles Gelingen: in deine Fülle.
In dein Erbarmen: meine Grenzen.
Und meine Sehnsucht: in deinen Frieden.
In deine Hände gebe ich mich.
All meine Freude: in deine Schönheit.
In deinen Abgrund: meine Klagen.
Und meine Hoffnung: in deine Treue.
In deine Hände gebe ich mich.
All meine Wege: in deine Weite.
In deine Schatten: meine Schwachheit.
Und meine Fragen: in dein Geheimnis.
In deine Hände gebe ich mich.
All mein Suchen: in das Wehen deines Geistes.
In deine Barmherzigkeit: mein Versagen.
Und meine tastenden Schritte: in dein Licht.
In deine Hände gebe ich mich.
Aus ganzem Herzen wünsche ich Ihnen in den kommenden Wochen auf Ostern zu die Erfahrung des Gehalten- Seins in Gottes Händen – trotz und in allem, was uns sorgt, worauf wir hoffen, worum wir bitten in einer Zeit, die uns durch den Krieg und das Leid der Menschen in der Ukraine noch einmal vor ganz neue Herausforderungen stellt.
Ihr
Rainer Maria Card. Woelki
Archivfoto Kardinal Woelki (c) Erzbistum Köln
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