1. April 2022 in Interview
Müller: „Ich war in Medyca an der ukrainischen Grenze direkt bis auf zehn Meter. Erschütternd und im Herzen ergreifend war es, hunderte Mütter mit Kindern nach Polen strömen zu sehen“ – Erneut Lob für Polen! - kath.net-Interview von Petra Lorleberg
Vatikan-Warschau (kath.net/pl) Mit der Weihe Russlands und der Ukraine an das Unbefleckte Herz Mariens hat „Papst Franziskus seine ganze geistliche und moralische Autorität in die Waagschale geworfen, um dem Frieden zu dienen und dem Guten zum Siege zu verhelfen.“ Das erläutert der emeritierte Präfekt der Glaubenskongregation, Gerhard Kardinal Müller. Der Kardinal hatte die Weihe in Polen nahe der Grenze zur Ukraine mitvollzogen und ordnet im Interview mit KATH.NET seine frischen Vor-Ort-Eindrücke in den größeren Zusammenhang ein.
kath.net: Herr Kardinal, Sie waren vor Ort an der polnischen Grenze zur Ukraine. Wie sind Ihre Eindrücke?
Kard. Müller: Mit Erzbischof Adam Szal von Przemyśl und seinem Vorgänger Jósef Michalik war ich in Medyca an der ukrainischen Grenze direkt bis auf zehn Meter. Erschütternd und im Herzen ergreifend war es, hunderte Mütter mit Kindern nach Polen strömen zu sehen und das mit dem Bewusstsein im Hinterkopf, dass ein gewissensloser Autokrat all dies Leid verursacht hat und es bei guten Willen hätte verhindern können.
Auf der anderen Seite bewegte mich die grenzenlose Bereitschaft der Polen, die verfolgten und ihrer Heimat beraubten Menschen willkommen zu heißen, ihnen einen ersten Schluck Wasser zu reichen und sie mit allem zu versorgen, was sie nötig hatten. Es sind jetzt schon 2,5 Millionen Ukrainer in Polen aufgenommen worden.
Schon vor dem Krieg lebten bereits zwei Millionen Ukrainer in Polen und waren gut angenommen, obwohl die gefühllosen Bürokraten und antichristlichen Ideologen in Brüssel und Straßburg Polen mit einer erbarmungslosen Hetzkampagne europaweit überzogen als fremdenfeindlich verleumdeten und sie mit Liebesentzug, d.h. der Beraubung der finanziellen Hilfe bedrohten, wenn sie nicht die neoeuropäischen „Werte“ wie Mord an Kindern (Abtreibung) und Alten (Euthanasie) übernehmen wollten sowie den Kindesmissbrauch durch Frühsexualisierung, Genderideologie und Geschlechtsverstümmelung.
Gott sei Dank ist in Polen der Glaube stark, der das humanistische (Natur) und christliche Menschenbild (Gnade) zur Säule von Gesellschaft und Staat macht. Die kirchlichen Einrichtungen (Caritas, Pfarrgemeinden, Diözesen) arbeiten ideal zusammen mit den kommunalen und staatlichen Behörden. In Medyca traf ich den Bürgermeister, der pausenlos für die Flüchtlinge 18 Stunden unterwegs ist – in bester harmonischer Zusammenarbeit mit dem Caritasdirektor der Erzdiözese Przemyśl.
kath.net: Die Glocke „Die Stimme der Ungeborenen“ ist im ukrainischen Lemberg angekommen (Link zum kath.net-Artikel). Als Papst Franziskus diese Prolife-Glocke am 27.10.2021 auf dem Petersplatz weihte, hätten wohl nur wenige Menschen vorhersagen können, dass nur wenige Monate später die künftige Heimat dieser Glocke einem so brutalen Angriffskrieg ausgeliefert sein würde. Wie ordnen Sie das Prolife-Engagement angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Ukraine ein?
Kard. Müller: Leider wurde die große Armut in der Ukraine von reichen „Westlern“ brutal ausgenutzt, um sich Frauen als Leihmütter zu kaufen und Kinder wie eine Ware zum Gebrauchs-Genusswert für Geld zu erwerben. Kiew war die Welthauptstadt der Leihmutterschaft mit 2.500 vermarkteten Kindern pro Jahr. Deshalb ist die Prolife-Glocke ein Weckruf für das Leben und die Würde von Kindern und den Frauen als deren eigenen Müttern.
Jetzt kommt der brutale Angriffskrieg Putins hinzu, der bisher Zehntausenden von Menschen das Leben kostete, sie an Leib und Seele verstümmelte und Millionen ihrer Heimat und Wohnungen beraubte. Wie Putin und seine Helfer, die sich als Christen orthodoxen Glaubens verstehen, das einmal vor Gottes Richterstuhl verantworten wollen, ist mir völlig unverständlich. Der Patriarch von Moskau muss nach göttlichem Gebot Putin ins Gewissen reden und ihm die Strafe der ewigen Verdammnis vor Augen stellen, die jeden Menschenmörder erwartet, wenn er sich nicht bekehrt. Er kann zwar mit seiner Propaganda das eigene Volk und vielleicht sogar sich selbst belügen, aber nicht Gott, der in die Herzen sieht und bei jedem Einzelnen das Gute belohnt und das Böse bestraft, „das er im irdischen Leben getan hat“. (1 Kor 5, 10).
kath.net: Sie besuchten bei Ihrer Reise die Gedenkstätte für die Familie Ulma in der Erzdiözese Przemyśl. Die Eltern Jozef und Wiktoria Ulma wurden 1944 von Nazis kaltblütig erschossen, weil sie geflüchteten Juden geholfen hatten, ebenso starben ihre vier Buben und zwei Mädchen im Alter von 18 Monaten bis 7 Jahre sowie das ungeborene Kind, mit dem die Mutter hochschwanger gewesen war. Der Seligsprechungsprozess läuft. Sind Sie beeindruckt vom Lebenszeugnis dieser Familie – und sehen Sie es im Zusammenhang mit der aktuellen Hilfsbereitschaft?
Kard. Müller: Ja, der Vergleich mit der jetzigen Situation drängt sich auf, wenn auch die historischen Umstände ganz andere waren. Es geht darum, sich ohne Angst vor den Gefahren für das eigene Leben, den guten Ruf und die Sicherheit verfolgten Mitmenschen zu helfen und sie in Schutz zu nehmen vor der mörderischen Bosheit der Mächtigen. Stalin und Hitler waren antichristliche Atheisten, aber Putin gibt sich für einen Christen aus, auch wenn er in cäsaropapistischer Tradition die Kirche der Staatsräson unterordnet. Aber als getaufter und die hl. Messe besuchender Christ weiß er doch, dass Mörder und andere schwere Übeltäter, „das Reich Gottes nicht erben werden“. (1 Kor 10; Offb 22, 15). Dazu gehören auch die Götzendiener, die auf dem Altar ihrer zu einem Götzen gemachten Nation (oder sonstiger relativer Werte) Menschen als Opfer darbringen.
kath.net: Sie haben von Polen aus die Weihe Russlands und der Ukraine an das Unbefleckte Herz Mariens in der Intention von Papst Franziskus mitvollzogen (Link zur Predigt von Kardinal Müller). Was sagt man in Polen zu dieser Weihe? Und wie ordnen Sie selbst dieses spirituelle Geschehen ein?
Kard. Müller: Ja, ich war schon vor dem Kriegsausbruch zum Patrozinium des Klosters Lezajsk bei Przemyśl zur Messfeier mit Predigt eingeladen am Hochfest Mariä Verkündigung. Aber dann wurde aktuell und zeitgleich dies mit der Weihe der Ukraine und Russlands an das Unbefleckte Herz Mariäs verbunden. Mit der Gottesdienstgemeinde sprachen wir das vom Heiligen Vater formulierte Weihegebet vor dem Gnadenbild. Die Gläubigen waren sehr bewegt, denn fast alle haben mit den geflüchteten Frauen und Kindern vor Ort von Angesicht zu Angesicht zu tun.
Die reale Begegnung ist etwas ganz anders als das Elend nur virtuell im Fernsehen vor sich zu haben. Die Politiker, Diplomaten und Medienschaffenden sind angesichts des militärischen Gewaltausbruchs an die Grenzen des Menschenmöglichen gekommen.
Hier hilft nur noch das Beten, denn „allein den Betern kann es noch gelingen, das Schwert ob unseren Häuptern aufzuhalten“ (Reinhold Schneider). Und nur, wer betet und sein Gewissen Gottes Geboten öffnet, kann auch in der Politik, in der Wirtschaft und Wissenschaft, Justiz und Gesellschaft die richtigen Einsichten finden und zum Wohle aller umsetzten.
Papst Franziskus hat seine ganze geistliche und moralische Autorität in die Waagschale geworfen, um dem Frieden zu dienen und dem Guten zum Siege zu verhelfen. Das geht weit über die Möglichkeiten der vatikanischen Diplomatie hinaus, auf die man den Petrus-Dienst keineswegs reduzieren darf.
Der römische Primat ist übernatürlichen Ursprungs, die päpstliche Diplomatie dagegen bewegt sich nur im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten, wenn sie auch aus christlicher Perspektive das moralische Prinzip zur Geltung bringt, das den „Willen zur Macht“ in der Politik auf den Kurs des Guten lenken will.
Foto: Kardinal Müller in Lezajsk/Polen (c) Kard. Müller/privat
Kardinal Gerhard Müller während seiner Predigt in der Basilika Mariä Verkündigung (Leżajsk/Polen) am 25.3.2022
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