26. Juni 2022 in Weltkirche
Kardinal Barbarin blickt auf seinen Prozess zurück
Wien (kath.net/http://vision2000.at)
2002 wurde Philippe Barbarin Erzbischof von Lyon und im Jahr darauf zum Kardinal ernannt. Bernard Preynat, ein Priester der Diözese, hatte zwischen 1971 und 1991 vielfachen sexuellen Missbrauch an Jugendlichen begangen. Von einem Opfer informiert, versetzte Barbarin den Priester in den Ruhestand. 2012 äußerte sich der Kardinal gegen die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare in Frankreich und warnte vor einem Dammbruch. Er geriet ins Schussfeld der Medien, wurde von Mitgliedern eines Vereins der Preynat-Opfer angeklagt, die Missbrauchsfälle nicht entsprechend verfolgt zu haben und im Zuge eines Prozesses vor dem Strafgericht im März 2019 zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, obwohl der Staatsanwalt keine Verurteilung gefordert hatte. Der Kardinal bot darauf dem Papst seinen Rücktritt an, den dieser erst ein Monat nach Barbarins Freispruch im Jänner 2020 annahm. Im Folgenden ein Gespräch über Barbarins Erfahrungen und sein neues Leben als Kaplan bei geistlichen Schwestern:
Hatten Sie manchmal den Eindruck, dass eher die Kirche als Sie auf der Anklagebank saß?
Kardinal Barbarin: Seit ihren Anfängen sitzt die Kirche auf der Anklagebank. Als es den großen Brand von Rom im Jahr 64 gab, waren die Christen gerade erst in die Stadt gelangt, und schon entschied Nero, dass sie schuldig seien: Sie mussten dafür zahlen. Aber nicht alle Anklagen sind ungerecht oder eine Lüge. Das zeigen in letzter Zeit bedauerlicherweise die Untersuchungen über den Missbrauch durch Priester und Laien in der Kirche und in der restlichen Gesellschaft. Meine Zeit auf der Anklagebank ist nur ein Randgeschehen, das den Weg der Reinigung und der Reform der Kirche nicht ändert. Das zentrale Ereignis auf diesem Weg liegt noch vor uns. Das Wichtigste muss erst kommen. Es ist das, was wir im Credo bekennen: Nach den vielen „ich glaube“, kommt das wunderbare „Ich erhoffe“. Und zwar: „die Auferstehung von den Toten“ und „das Leben der kommenden Welt“ – das ist unsere ganze Hoffnung!
In Ihrem Buch haben Sie berichtet, dass man Sie auf der Straße oder bei der Haltestelle als „Kinderschänder“ bezeichnet hat. Wie ist es Ihnen gelungen, all das zu ertragen? Und passiert Ihnen das auch heute noch trotz des Freispruchs?
Kardinal Barbarin: Im Februar 2016, zu Beginn der Medienkampagne, ist die letzte Seligpreisung zum festen Bestandteil meines Gebets geworden: „Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und Jubelt…“ (Mt 5,11f) Und auch, was Paulus schreibt: „Freut euch zu jeder Zeit! Betet ohne Unterlass! Dankt für alles…“ (1Tess 16-18) Klar, das ist nicht immer leicht! Im Grunde genommen meine ich, dass es mir dank aller Gebete so vieler Freunde gelungen ist, wieder aufzustehen und meinen Auftrag weiter zu erfüllen. Außerdem muss ich sagen, dass ich oft auf der Straße angehalten worden bin, sowohl in Lyon wie in Paris, von Leuten, die mich erkannt hatten und mir gesagt haben: „Ich bete für Sie, jeden Tag… Sie können mit mir rechnen!“ Heute hat sich die Sache beruhigt. Aber viele erinnern sich eher an meine Verurteilung als an den Freispruch, der schließlich erfolgte. Auch wenn das Höchstgericht den Spruch des Berufungsgerichts – den die Medien kaum erwähnt haben – bestätigt hat, wird mein Name weiter in Verbindung mit dem Skandal des Kindesmissbrauchs durch Priester verbunden bleiben. Dieser ist ja auch frevelhaft! Die Leute haben irgendwie den Eindruck, dass ich pädophile Handlungen während meiner Zeit als Bischof gedeckt habe… Nur wenige wissen, dass es da um Handlungen geht, die 20 Jahre vor meiner Ankunft in der Diözese stattgefunden hatten und von Leuten bearbeitet wurden, die drei Amtsperioden vor mir tätig waren!
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Sie haben beschlossen, das Honorar für Ihr Buch den Opfern der pädophilen Priester zuzuwenden. Als erstes würden Sie auch jeden Tag für diese Opfer beten Hatten Sie Gelegenheit, persönlich Opfer von Preynat kennenzulernen?
Kardinal Barbarin: Jedes Mal, wenn ich einen Vertrag mit einem Herausgeber unterschreiben musste, gingen die Autorenrechte direkt an die Diözese Lyon. Als daher die Anfrage der Opfer-Vereinigungen bezüglich meines Buches En mon âme et conscience an mich gerichtet wurde, musste ich mich nicht entscheiden. Es war die Diözese Lyon, für die ich nicht mehr verantwortlich war, die entschied, das Geld den Opfern zuzuwenden. Mir schien das eine gute Entscheidung. Was das Morgengebet anbelangt: Ja, auf der Rückseite einer Karte mit dem Bild des gekreuzigten Christus habe ich die Namen der Opfer, die mich vor Gericht gebracht und vieler anderer, die sich geoutet haben und die ich dann empfangen habe, geschrieben. Im Laufe der Jahre haben wir besser verstanden, dass diese kriminellen Handlungen eine beispiellose Wunde schlagen, die nach Ansicht einiger nicht heilbar ist. Ich freue mich, dass die Kirche vieler Länder darangeht, einen Weg der Wiedergutmachung einzuschlagen; das entspricht der Gerechtigkeit. Auf jeden Fall müssen wir den Herrn bitten, Er möge alles, was der Heilung bedarf, heilen – in jedem einzelnen der Opfer.
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Als Kardinal sind Sie jetzt als nur 71-Jähriger ein einfacher Kaplan. Wie hat sich Ihr Leben verändert im Vergleich zu der Zeit als Erzbischof von Lyon?
Kardinal Barbarin: Heute bin ich Kaplan im Mutterhaus der „Kleinen Schwestern der Armen“ in Saint Pern, zwischen Rennes und Saint-Malo. Diese Schwestern haben die Berufung, sich ganz den Ärmsten zu widmen. Jede ihrer Niederlassungen nennt sich „Ma Maison“. Für mich war das wichtigste Anliegen, einen wahren priesterlichen Dienst zu finden, einen einfachen, von dem ich wusste, dass ich ihn auch erfüllen könnte. Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken, und dann habe ich mich entschieden, da ich mehrere Angebote hatte. Außerdem halte ich einige Vorlesungen am Seminar Saint-Yves in Rennes, und oft werde ich angefragt, bei Einkehrtagen verschiedener Gruppen von Seminaristen, Schwestern, Laien und Priestern zu predigen… Das ist klarerweise eine ganz andere Mission als jene, die ich in Lyon hatte. Was mir aber gefällt, ist, dass es sich um einen wahrhaft priesterlichen Dienst handelt, mit all seinen Freuden und seinen Herausforderungen. Ich bin in der Diözese als Mitbruder aufgenommen worden, wofür ich Bischof d’Ornellas, dem ich das zu verdanken habe, sehr dankbar bin. Der heilige Ignatius sagt, wir müssen Gott lieben, als Gesunde wie als Kranke, im Überfluss wie in der Armut; wichtig ist, sich jeden Tag auf Seinen Willen auszurichten. Gestern war ich Erzbischof von Lyon, heute bin ich Kaplan bei den Schwestern… ein Priester, ein Christ, der voranschreitet, wie es eben gefordert ist, auf dem Weg des Reiches Gottes.
Das Gespräch führte Nico Spuntoni für La Nuova Bussola Quotidiana v. 19.2.22
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