Das Licht des Karsamstags

16. April 2022 in Kommentar


Benedikt XVI. und das Bild des Auferstandenen - Von Michael Hesemann


Köln (kath.net)

Ein Karsamstag war jener 16. April vor 95 Jahren (1927), an dem Joseph Ratzinger in Marktl am Inn geboren wurden. Die Worte, mit denen sein Bruder Georg Ratzinger mir vor nunmehr elf Jahren diesen Tag beschrieb, klingen mir noch heute in den Ohren. Kalt soll es damals gewesen sein und viel Schnee gehabt haben, ein fürchterliches Wetter also. Irgendwann wachte der kleine Georg, er war gerade drei Jahre alt, auf und merkte, dass er alleine war. Er war es nicht gewohnt, allein zu schlafen, normalerweise lag er bei den Eltern und seiner Schwester Maria im Bett. Doch als er in den frühen Morgenstunden dieses grauen, kalten Apriltages erwachte, war niemand mehr da. Stattdessen vernahm er die Geräusche eines hektischen Treibens. Türen fielen ins Schloss, schnelle Schritte hallten im Flur, es wurde laut geredet. Als er die Stimme seines Vaters hörte, rief er nach ihm: „Vater, ich möchte aufstehen!“ Da meinte Joseph Ratzinger senior, der wortkarge, strenge aber herzensgute Gendarm: „Nein, du musst noch warten. Heute haben wir ein kleines Buberl bekommen.“ Und da Georg Ratzinger sich bis ins hohe Alter seinen wunderbaren Humor erhalten hatte, fügte er hinzu, ich darf zitieren: „Das war damals für mich alles ein bisserl rätselhaft.“

Um 4.15 Uhr in der Früh hatte der spätere Papst Benedikt XVI. das Licht der Welt erblickt und schon um 8.30 Uhr morgens wurden er getauft. Man wartete nicht einmal, bis die als Taufpatin vorgesehene Anna Ratzinger benachrichtigt werden konnte, sondern bat eine Ordensschwester namens Adelma Rohrhirsch, für sie einzuspringen. Denn damals wurde die Liturgie der Osternacht schon am Morgen des Karsamstags gefeiert. Weil die Weihe des Taufwassers und der Taufritus fester Bestandteil dieser Liturgie sind, zögerten seine Eltern nicht lange: „Jetzt ist er scho do, der Bua, jetzt wird er getauft!“ Nur Georg und Maria, aber auch seine geliebte Mutter blieben daheim. Die Eltern fürchteten, die Geschwister würden sich erkälten und Mutter Maria war noch zu sehr von der Geburt geschwächt, um hinaus in den Schnee zu dürfen. So wurde der Neugeborene als erster Täufling mit dem frisch geweihten Osterwasser auf den Namen „Joseph Aloisius“ getauft. „An der Tür zu Ostern, allerdings noch nicht eingetreten“ wurde fortan zur Metapher für sein ganzes Leben, das so von Anfang an tief in das Ostermysterium eingetaucht war.

Für die einen mag es ein Zufall sein, für uns Christen ist es ein Zeichen der göttlichen Vorsehung, dass er auch seinen 95. Geburtstag an einem Karsamstag feiert. Nach den letzten Wochen und Monaten, die für ihn zu einem wahren Kreuzweg wurden, als er, unter einem billigen Vorwand, der vom Versagen anderer ablenken sollte, bespuckt und beleidigt und unter „crucifige eum“-Rufen auf die mediale via Dolorosa geschickt wurde, wird er den heurigen Karfreitag sicher noch intensiver erlebt haben als je zuvor. Der Herr rief uns auf, jeder sein Kreuz zu tragen, und die imitatio Christi, die Aufopferung des Leidens, macht aus der via Dolorosa die via regis, den Königsweg zum Heil. Jetzt ist es ruhiger geworden, vergleichbar mit der Stille des Karsamstags, und Zeit, um innezuhalten und zu reflektieren, was geschehen war, in Vorahnung der so plötzlichen und überraschenden österlichen Wende.

Jedenfalls bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Erfahrung des Ostersamstags in den ersten Stunden seines so langen und gesegneten Lebens den späteren Papst Benedikt XVI. zutiefst geprägt hat. Ja, dass seine Geburt am Karsamstag in der Tat ein Zeichen der göttlichen Vorsehung war, das sein Leben prägte, seinen Weg anzeigte und seine Prädestination definierte. Denn kein Tag im Kirchenjahr entspricht so sehr dem Wesen des Theologen. Es ist der Tag der Contemplatio, der Stille, des Innehaltens, des Betrachtens, des zu verstehen Versuchens – wie die Jünger des Herrn, von denen Johannes (20,9) schreibt: „Noch hatten sie die Schrift nicht verstanden, dass er von den Toten auferstehen musste.“ Als Historiker mag ich mich jetzt auf glattes Parkett begeben, wenn ich zu behaupten wage: Dieser Versuch, das Geschehen von Golgota einzuordnen, das Mysterium unserer Erlösung zu ergründen, war die eigentliche Geburtsstunde der Theologie.

Die Jünger waren verzweifelt. Judas Iskariot hatte ihren Meister verraten und an die Tempelwache ausgeliefert. Petrus hatte ihn dreimal verleugnet. Alle, bis auf Johannes, waren geflohen, hatten sich versteckt, während sich das Unvorstellbare vollzog: Der Herr des Lebens, ja das Leben selbst, hing am Kreuz und litt. Der Schöpfer des Universums, der sich aus reinem Erbarmen klein gemacht und Mensch geworden war, um sein gefallenes Geschöpf zu erlösen, sollte von Menschen ermordet werden. Der Erlöser, der Messias Israels, dem nur fünf Tage zuvor mit „Hosianna“-Rufen gehuldigt wurde, hing am Kreuz unter dem Titulus, der ihn auf makabre Weise zum „König der Juden“ proklamierte. Gegen zwölf Uhr mittags verdunkelte sich der Himmel, bebte die Erde. Drei Stunden später hallte ein gellender Schrei durch das Universum, und mit einem Mal schien es, als sollte Nietzsche, der natürlich achtzehneinhalb Jahrhunderte später lebte, doch recht haben, als sei Gott wirklich und wahrhaftig tot. Er atmete nicht mehr, Sein Leichnam war blass, starr und kalt, als ihn die Männer des Joseph von Arimathäa vom Kreuze abnahmen und Seiner Mutter in den Schoß legten, bevor sie ihn den Hügel Golgota hinab in das kalte Felsengrab trugen, das wie ein Tor zur Unterwelt in der steilen Wand eines ehemaligen Steinbruchs klaffte. Es war für einen einzigen, finsteren Augenblick, als hätten Tod und Teufel gesiegt, als hätten die Mächte der Unterwelt die gerade erst begründete Kirche noch vor ihrem ersten Aufkeimen erstickt.

Wir können nur ahnen, was in dieser sicher schlaflosen Nacht in den Köpfen Seiner Jünger vorging, in welchem Keller oder Obergemach sie sich auch immer gerade versteckt haben mochten. Wurde mit ihrem geliebten Meister jetzt auch ihre Hoffnung begraben? War damit alles, nein, waren wir nun alle verloren? Waren sie einer Illusion gefolgt? War der, den sie für den Messias, ja den Sohn des lebendigen Gottes gehalten hatten, an seinem Anspruch, an der eiskalten Macht des Weltherrschers Rom und des „gottgleichen“ Cäsar Tiberius, gescheitert? War Jesus, was Gott verhüten möge, vielleicht selbst einer Täuschung erlegen, war er gar ein falscher Prophet? Hatte nicht Moses gelehrt, dass verflucht sei, wer am Pfahle hing? Und hätte der Sohn Gottes denn dann ein solches Schicksal erleiden können?

Doch trotz all dieser finsteren Gedanken müssen wir daraus, dass sie trotz aller Angst und Verzweiflung in Jerusalem verharrten, schlussfolgern, dass ihnen noch ein Quäntchen Hoffnung blieb. Tief in ihrem Innersten keimte es auf und wurde allmählich immer stärker. Dann aber strahlte das Licht des Ostermorgens auf, zunächst noch in weiter Ferne, bevor es sie mit der gleißenden Dämmerung überwältigte und die Frauen zu Boten der Auferstehung wurden: Christus ist auferstanden, er ist wahrhaft auferstanden, Halleluja!

Dieses Grübeln und Sinnen, dieses Glauben und Hoffen, dieser Versuch, das Geschehene einzuordnen und seine Bedeutung zu erfassen, diese Zeit der Ungewissheit zwischen dem Karfreitag und dem Ostersonntag, ist doch nun wahrhaft nichts anderes als das erste theologische Wochenendseminar der Christenheit: Ein Weg, der oft genug durch das Dunkel der Zweifel, des Haderns und Suchens führt, aber im besten Fall im Licht der Erkenntnis enden sollte, dass wahrhaft Gott Mensch geworden ist und uns die Wahrheit über unser Sein, unsere Bestimmung und den Weg zu unserem Heil, hinaus aus diesem Tal der Tränen, offenbarte. Das jedenfalls ist, ich muss es leider relativieren, Theologie im Idealfall, wie man sie freilich an deutschen Hochschulen immer seltener trifft. Aber es ist ganz gewiss doch Ratzinger-Theologie, die uns alle von Gottsuchern zu Cooperatores Veritatis macht und uns darauf vorbereitet, an unserem eigenen Ostermorgen die Herrlichkeit Gottes zu schauen und zu begreifen. Und genau deshalb ist der Karsamstag der symbolträchtigste Geburtstag für einen großen Theologen, in dem die Kirche der Zukunft einen ihrer Lehrer erkennen wird.

Dass ich dies als Historiker und nicht als Theologe schreibe, hat freilich einen Grund. Denn ich möchte an dieser Stelle an den Moment erinnern, als Benedikt XVI. selbst den Kreuzungspunkt von Geschichte samt ihrer Hilfswissenschaften und der Theologie des Karsamstags betrat. Das war vor gut zwölf Jahren, am 2. Mai 2010, als er im Dom von Turin vor der Ikone des Karsamstags, dem Turiner Grabtuch, stand: dem Bild der Überwindung von Pein und Tod, „geschrieben“ mit dem Blut der Passion und dem Licht der Auferstehung Christi. Nirgendwo sonst lässt sich die ganze Menschlichkeit und Göttlichkeit Jesu, von der das Konzil von Chalcedon sprach, so kondensiert erfassen.

Hier der Mensch, der „Mann der Schmerzen“ aus der Prophezeiung des Jesaja (Jes 53,3), gezeichnet durch Sein kostbares Blut, das Er zu unserer Erlösung vergoss: Die 117 hantelförmigen Wunden, die von den 39 („Vierzig weniger einen“) Schlägen mit der dreischwänzigen Geißelpeitsche der Römer zeugen, an deren drei Lederriemen hantelförmige Bleistücke befestigt waren (darum „Flagellum taxellatum“). Sie allein schon zeugen davon, dass die Tortur von Römern mit einem römischen Züchtigungsinstrument aber mit Rücksicht auf das mosaische Gesetz vollstreckt wurde, das ein Höchstmaß von 40 Schlägen (siehe 5 Mos 25,3) vorschrieb. In der Praxis wurden daraus die „40 Schläge weniger einen“, die auch Paulus im 2. Korintherbrief (2 Kor 11,24) erwähnt, wohl, weil man Gott nicht herausfordern wollte für den Fall, dass man sich verzählt. Ein solches Höchstmaß war bei den Römern unbekannt und nur denkbar in den Jahren zwischen 6 und 66 nach Christus, als Judaea, das einstige Vasallenkönigreich des Herodes, ein römisches Protektorat und keine unterworfene Provinz war und man die Besonderheiten des jüdischen Rechts respektierte. Dann die Spuren der Dornenkrone, die, anders als in der christlichen Ikonografie, eine Dornenhaube war und die ganze Kopfhaut in Mitleidenschaft zog: sie allein beweisen, dass der „Mann auf dem Grabtuch“ Jesus von Nazareth war. Keinem anderen der hunderttausenden Unglücklichen, die gegeißelt und gekreuzigt wurden, setzte man je eine solche Krone auf außer dem, der als „König der Juden“ verhöhnt wurde. Schließlich sind da die Schürfwunden an den Knien, der Wange und der Nase, die von drei Fällen auf dem Weg zur Kreuzigungsstätte zeugen; inmitten der Blutkrusten fanden Wissenschaftler Partikel von Straßenstaub, der, ebenso wie der Straßenstaub an den Abdrücken der Fußsohlen, nach seiner geologischen Signatur auf der Elemententafel eindeutig der Region um Jerusalem zugeordnet werden konnte. Dann die durchbohrten Füße und Handgelenke (letztere wieder in Abweichung zur herkömmlichen Ikonografie), die belegen, dass der „Mann auf dem Grabtuch“ am Kreuz endete, wo er nach einem stundenlangen Todeskampf verstarb. Diesen Todeskampf spiegelt der pathologische Befund der Seitenwunde – auch sie entspricht der biblischen Beschreibung – wider, aus der tatsächlich „Blut und Wasser“ (Joh 19,34) strömten, nicht nur als Sinnbild für die Eucharistie, den mit Wasser vermischten Messwein, sondern auch medizinisch plausibel: Es war Lungenflüssigkeit, angesammelt während der unmenschlichen Strapazen, die den Kreislauf allmählich kollabieren ließen, und Blut aus dem Herzvorhof, den die Lanze des Legionärs nach Durchdringen der Lunge traf. So bildet das Muster der Blutflecken auf dem Leichentuch die Grundlage für einen „Kreuzweg in einem Bild“, der nur mit Hilfe der Wissenschaft, hier: der forensischen Pathologie, decodiert und dechiffriert werden kann.

Doch während jeder Sterbliche, wenn er – Gott bewahre! – Ähnliches durchleiden müsste, auch vergleichbare Blutspuren hinterlassen würde, macht etwas anderes das Leinentuch von Turin zum Mysterium. Das eigentliche „Geheimnis der Sindone“ ist das Körperbild, dieser scheinbare Abdruck eines menschlichen Körpers von der Vorder- wie der Rückseite, ausgestreckt liegend, die Hände über der Scham platziert, mit deutlichen Anzeichen eines rigor mortis. Seit Secondo Pia (1898) wissen wir, dass dieses Körperbild alle Eigenschaften eines fotografischen Negativs hat, seit John Jackson (1978) zudem, dass es 3D-Informationen enthält, also mit einer Holographie vergleichbar ist. Die abenteuerlichsten Theorien wurden aufgestellt, um es als Werk eines Künstlers oder Abdruck der Spezereien zu erklären, mit denen der Leichnam angeblich eingerieben worden war – ohne Erfolg! Sicher ist nur, dass nie in der fünftausendjährigen Geschichte der Sepulkralkultur ein Grabtuch mit vergleichbaren Spuren entdeckt wurde. Wir haben es hier also mit dem zu tun, was die Quantenphysik als „Singularität“ bezeichnen würde.

Tatsächlich ergab eine gründliche Untersuchung des Turiner Grabtuchs mit Elektronenmikroskopen bereits 1978, dass dieses Körperbild nur auf den obersten Fasern der Leinenfäden existiert, aus denen das Grabtuch zusammengewoben wurde. In dieser hauchdünnen Schicht, feiner als die Haut einer Seifenblase, sind die Fasern in unterschiedlicher Intensität vergilbt. Vergilbung ist immer eine Folge von Strahlung. Diese Strahlung konnte aber nicht von außen auf den Körper gerichtet worden sein, denn dann hätte er an allen unebenen Stellen Schatten geworfen; sie muss von ihm selbst ausgegangen sein. Seit Einstein wissen wir, dass alle Materie nur „gefrorene Energie“ ist und dass, vergleichbar mit dem Moment der Kernspaltung, Energie freigesetzt wird, wenn dieser Verband aufgelöst wird. So sind namhafte Physiker wie Prof. John Jackson, Prof. Giulio Fanti, Prof. Eberhard Lindner aus Karlsruhe und andere überzeugt, dass das Körperbild auf dem Grabtuch gewissermaßen ein „Lichtbild“ ist, dass es entstand, als das Tuch buchstäblich durch den Körper hindurchfiel, als dieser sich in Energie umwandelte und Strahlung freisetzte. So phantastisch dies auch klingen mag, es würde perfekt den vorliegenden Befund erklären.

Italienische Wissenschaftler erreichten immerhin einen vergleichbaren Vergilbungseffekt, als sie ein Stück Leinen stundenlang mit Laserlicht im ultravioletten Spektrum bombardierten. Wenn sich aber, wie offenbar beim Grabtuch, der Bildentstehungsprozess in Sekundenschnelle vollzog, wäre dazu    nach Berechnungen von Experten der ENEA („Nationale Behörde für Neue Technologien, Energie und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung“) aus dem Jahr 2011 eine Energieleistung von 2000 MW/cm2 17000 cm2 = 34.000 Milliarden Watt nötig, mehr also, als jedes Kraftwerk der Erde produzieren könnte. Bei Gott aber ist, so wissen wir, kein Ding unmöglich.

Eines der großen Lebensthemen Benedikts XVI. ist die Versöhnung von Glaube und Vernunft. Das Turiner Grabtuch ist mit Methoden der interdisziplinären Forschung und Wissenschaft untersucht worden, es konnte eine Hypothese formuliert werden, wie sein Abbild entstand. Eine experimentelle Überprüfung ist unmöglich, weil sie die menschlichen Möglichkeiten überschreitet, die Wissenschaft hier also an ihre Grenzen stößt. An dieser Stelle muss der Glaube übernehmen.

1800 Jahre lang haben Menschen das Turiner Grabtuch verehrt, ohne seine Entstehung zu verstehen. Dann kam die Wissenschaft und hat, im Zuge der Aufklärung, alle Reliquien a priori zu frommen Fälschungen erklärt, natürlich auch (und gerade) das Grabtuch. „Gott ist tot“ lautete das Dogma vieler Naturwissenschaftler, oder Er hat sich zumindest zur Ruhe gesetzt, ist nach der Schöpfung zum Deus emeritus geworden, wie es die Deisten unter den Aufklärern glaubten. Darum vergleiche ich das Turiner Grabtuch gerne mit einer Zeitkapsel. Erst heute, in dieser Zeit der Gottesferne, in der die Wissenschaft für viele längst zur Ersatzreligion geworden ist, sind es gerade Männer dieser Wissenschaft, die sich seiner wieder annehmen und vor ihm auf die Knie fallen, weil ihr ganzes Wissen bei ihm an seine Grenzen stößt. So wie der Apostel Thomas erst die Wunden des Herrn sehen und berühren musste, um auf die Knie zu fallen und das schönste Glaubensbekenntnis des gesamten Johannes-Evangeliums auszusprechen: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28). Das Ringen der ersten Theologen, der Apostel, um ein Verständnis dessen, was sich am Karfreitag vor ihrer aller Augen ereignet hatte, war an diesem zweiten Sonntag nach Ostern zum Abschluss gekommen. Theologie ist eine Erkenntniswissenschaft, ihr Ziel ist die Gotteserkenntnis.

Erst jetzt verstanden Petrus, Johannes und Jakobus auch, was sie damals, auf dem Berg Tabor, noch so sehr verwirrt hatte, dass sie Moses und Elias Hütten bauen wollten, als sie den Herrn in Seiner Verklärung schauten. Dort, in Seiner Lichtwerdung, hat Er gewissermaßen vorweggenommen, was sich in der Osternacht in der Finsternis des Grabes, vor ihren Blicken verborgen, ereignen würde: „Sein Antlitz strahlte wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht“, heißt es bei Matthäus (17,2). In seinem 2. Brief schildert Petrus, einer der Augenzeugen (schon deshalb bin ich überzeugt, dass dieser Brief tatsächlich von Ihrem Amtsvorgänger, dem Ersten Papst, diktiert wurde), das Geschehen auf dem Berg Tabor und auch er benutzt die Licht-Metapher („denn es ist ein Licht, das an einem finsteren Ort scheint“ 2 Petr 1,19), vor allem aber bezeugt er: „Denn wir sind nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, verkündeten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe. Er hat von Gott, dem Vater, Ehre und Herrlichkeit empfangen.“ (2 Petr 1,16-17)

Unser Glaube basiert auf der geoffenbarten Wahrheit, unsere Kirche begründeten die Zeugen Seiner Herrlichkeit, sie beruft uns alle, Cooperatores veritatis zu werden, wie Joseph Ratzingers Bischofs- und Papstmotto bekanntlich lautet.

Genau das aber ist die Botschaft der Ikone des Karsamstages und damit des Karsamstages selbst, dessen Licht sie schrieb. Das erkannten Benedikt XVI., als er am 2. Mai 2010 im Angesicht dieser nach dem Schleierbild von Manoppello herrlichsten und geheimnisvollsten Ikone der Christenheit erklärte: „Dies ist das Geheimnis des Karsamstags: Genau von dort, in der Dunkelheit des Todes des Sohnes Gottes, kommt das Licht einer neuen Hoffnung, das Licht der Auferstehung. Und mir scheint, dass wir bei der Betrachtung dieses heiligen Leinens mit den Augen des Glaubens etwas von diesem Licht erheischen.“

Ich benutzte weiter oben das Bild von der „Zeitkapsel“. Auch hier zeigt sich das Wirken der göttlichen Vorsehung. Ausgerechnet in dieser Zeit der Apostasie, der größten Glaubenskrise und Gottvergessenheit der Geschichte, in der die meisten Menschen leben, als ob es Gott nicht gäbe, kommen die Hohepriester ihrer Ersatzreligion, nämlich Wissenschaftler, und verkünden die alte Osterbotschaft der Kirche. Es ist doch wahr! Christus ist doch auferstanden von den Toten! Er ist wahrhaft auferstanden, so wahrhaft, dass das Licht Seiner Auferstehung Sein Abbild in das Leinen brannte. In der Nacht des Karsamstags hat das Licht für immer die Finsternis, hat das Leben den Tod besiegt!

Es ist meines Erachtens ebenso wenig ein Zufall, dass diese Erkenntnis ihre Reifung und Abrundung ausgerechnet während des Pontifikats Benedikts XVI. fand und dass er es war, der, vielleicht unbewusst, in seiner Meditation über das „Licht der Auferstehung“ eine Brücke zwischen den Erkenntnissen der Naturwissenschaft und der Theologie schlug und damit Glaube und Vernunft gleichermaßen den Kurs auf Ostern nehmen ließ.

Er wurde zum Papst des Karsamstags. Nach dem „zweiten Karfreitag“, der erneuten Kreuzigung Jesu durch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, die mit Auschwitz ein „Golgota“ unserer Zeit schufen (um den hl. Johannes Paul II. zu zitieren), erleben wir heute, im beginnenden 21. Jahrhundert, den globalen Karsamstag, die Zeit der Zweifel, der dunklen Gedanken, ja des Glaubensabfalls. Auch er wurde verhöhnt und mit Unterstellungen überzogen wie die Jünger, die drauf und dran waren, aus Jerusalem zu fliehen, wo sie noch Schlimmeres befürchteten. Doch als die Nacht am finstersten war, flammte im Grabe Gottes, der nur scheinbar tot und von der Gesellschaft abgehakt war, ein Licht auf, das alles veränderte. Dieses Licht der Wahrheit ist es, das auch uns in dieser Zeit Hoffnung und Orientierung gibt. Denn als Christen wissen wir, dass auf die finstere Nacht des Karsamstags das helle Licht des Ostermorgens folgt und dann der Osterjubel die Welt erfüllt.

Dr. h.c. Michael Hesemann, geb. 1964, ist Historiker, Dozent und Autor von 45 Büchern, meist zu Themen der Kirchengeschichte, die in 16 Sprachen übersetzt wurden.  Als Experte für christliche Reliquien stellte er 2013 für den Malteserorden eine Ausstellung über das Turiner Grabtuch zusammen. 2011 interviewte er Georg Ratzinger für den internationalen Bestseller „Mein Bruder, der Papst“.

Website: www.michaelhesemann.info

 

Foto: (c) Michael Hesemann


© 2022 www.kath.net