23. April 2022 in Kommentar
„Wir sind als Christen heute zurecht erschüttert über die infame Interpretation des Angriffskrieges gegen die Ukraine als Verteidigung der russischen Orthodoxie gegen westliche Dekadenz.“ Von Gerhard Card. Müller
Anagni (kath.net/pl) kath.net dokumentiert die Schriftvorlage zur Lectio magistralis von Kardinal Gerhard Müller anlässlich der Verleihung des Internationalen Premio Bonifacio VIII ‚per una cultura della pace‘ an ihn in Anagni (Italien) am 23.4.2022 in voller Länge und dankt für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung (Es gilt das gesprochene Wort).
Jenseits der komplexen zeitgeschichtlichen Zusammenhänge hat das Attentat auf Papst Bonifatius VIII. zu Anagni am 7. September 1303 eine symbolische Bedeutung. Es geht prinzipiell um das Verhältnis von geistlicher Autorität und weltlicher Macht oder – wie wir heute sagen würden – um das Verhältnis von Religion und Politik. Konkret haben wir es zu tun mit der Spannung von Gewissen, in dem wir vor Gott verantwortlich sind, und politischer Macht, die sich an zeitlichen Interessen ausrichtet. Je nach ideologischem Standpunkt wird die „Ohrfeige“, die Sciarra Colonna dem Papst gegeben haben soll, als der Anfang vom Ende der mittelalterlichen Machtstellung des Papstes bedauert oder als Aufstieg des säkularen Staates bejubelt, der seine Autonomie auch über das natürliche Sittengesetz und sogar über die religiöse Freiheit erklärt hat. Diese Form von Souveränität, die mit Niccolò Machiavelli die Räson des Staates als ultimative Instanz erklärt, wird sowohl im Absolutismus gegenüber den Untertanen wie auch in sogenannten Volksdemokratien mit unerbittlichem Bürokratismus gegenüber den Bürgern wahrgenommen.
Die abendländische Geschichte seither hat die Theorie von der absoluten Staatssouveränität allerdings schwer ins Unrecht gesetzt. Die übernationale Autorität des Papsttums hatte den christlichen Staaten, die aus dem Erbe des römischen Reiches hervorgegangen waren, das Bewusstsein ihrer Einheit in der Verantwortung vor Gott vermittelt. Demgegenüber konnte das Konzept des Gleichgewichtes der Mächte, der Balance of power, die Katastrophen der dynastischen Erbfolgekriege im 18. Jahrhundert, der kolonialistischen Revolutions- und Befreiungskriege im 19. Jahrhundert und der beiden imperialistischen Weltkriege im 20. Jahrhundert nicht verhindern.
Die Kirche selbst war in vielen Ländern Opfer und zugleich auch Promotor hemmungsloser Nationalismen und des ideologischen Expansionismus, indem sie sich für die Staatsräson instrumentalisieren ließ. Man denke nur an den Gallikanismus, den Febronianismus oder die törichte Propaganda, die den Ersten Weltkrieg umdeuten wollte zu einem Endkampf zwischen französischem Katholizismus und deutschem Protestantismus. Und wir sind als Christen heute zurecht erschüttert über die infame Interpretation des Angriffskrieges gegen die Ukraine als Verteidigung der russischen Orthodoxie gegen westliche Dekadenz.
Bei den Auseinandersetzungen im Mittelalter zwischen Kaiser und Papst ging es im Prinzip nicht um eine von den Päpsten beanspruchte weltliche Macht, sondern um die Behauptung des Primates der Moral über die Politik. Die Liebe zum Nächsten und die Solidarität der Völker stehen über den Interessen an nationaler Macht, imperialem Einfluss, und – ganz platt materialistisch – an Ölvorkommen und Gaslieferungen.
Unter den völlig gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen und den kulturellen Verschiebungen der Neuzeit haben die Päpste auf dem Feld der internationalen Politik ihre Rolle als Mittler des Friedens und als Hüter des natürlichen Sittengesetzes überzeugend wahrgenommen. Hätten die in ihrem blinden Machtwillen gefangenen Politiker der Entente und der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg der Friedensinitiative des Papstes Benedikt XV. zugestimmt, hätten Millionen Menschen nicht sinnlos ihr Leben und ihre Gesundheit verloren, und es hätten auch die bolschewistischen und faschistischen Kräfte nicht die Chance bekommen, im Zweiten Weltkrieg die Völker in eine noch größere Katastrophe zu stürzen.
Am 24. August 1939 erklärte Papst Pius XII. in einer Rundfunkrede: Mit dem Frieden sei nichts verloren, aber mit dem Krieg werde man alles verlieren. In seiner unvergessenen Enzyklika Pacem in terris (1963) erklärte Papst Johannes XXIII., dass Gott das Fundament der sittlichen Ordnung und der Garant der Entwicklung der Völker zum Frieden und zu einem gedeihlichen Zusammenleben ist.
Und Johannes Paul II. hat in seiner Warnung an die Amerikaner vor den Golfkriegen Recht behalten. Denn die Vernichtung von Menschenleben und die Zerstörung der Sachgüter übertreffen um ein Vielfaches die Erfolge im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Und auch Papst Franziskus behält jetzt mit seiner Warnung an Russland vor dem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine Recht. Abgesehen von der Rechtfertigung der Kriegsverbrechen mit dem verlogenen Anspruch, das Nachbarland von Nazis und mafiosen Oligarchen zu befreien, bestätigt der Verlust an Menschenleben und der Schaden für das eigene Land und aller Völker Europas und der Welt nur das Wort Jesu, dass „alle, die zum Schwert greifen durch das Schwert umkommen.“ (Mt 26, 52).
Wir sind also von unserem historischen Ausgangspunkt mitten in der bedrängenden Gegenwart angekommen, in der wir mit tiefem Ernst die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Politik erneut aufwerfen müssen. Eine Politik ohne die religiöse und sittliche Orientierung an einem das Menschliche überschreitenden Maß in der Transzendenz oder an dem personalen Gott, führt die Menschheit in den Abgrund militärischer Selbstvernichtung oder in den Tod der Langeweile in einem materialistischen Konsumparadies auf Erden. Was nutzt es, wenn die Umweltschützer das Aussterben der Eisbären auf Grönland verhindern, aber gleichzeitig den Kindern im Mutterleib das elementare Menschenrecht auf das Geborenwerden verweigert wird?
Das liberale und sozialistische Narrativ von der Kirche und den Päpsten, die immer hinter den Errungenschaften der Neuzeit zurückgeblieben seien, weil sie ihrer weltlichen Macht im Mittelalter nachtrauerten, ist ebenso falsch wie Hegels Gegenüberstellung des Protestantismus als Religion der Freiheit und des Katholizismus als „Religion der Unfreiheit“ (Enzyklopädie § 552). Denn die Alternative zum katholischen Verständnis des Staates, dessen Autorität auf naturrechtlicher Grundlage lediglich auf das zeitliche bonum commune beschränkt bleibt, ist die Vergottung des Staates, den Hegel im preußischen Staat schon verwirklicht sah. Die Folgen dieser verstiegenen Spekulation haben wir in der Praxis schrecklich erfahren. Wenn die Päpste gegenüber der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu Beginn der französischen Revolution skeptisch waren, dann war das Motiv nicht ihre Ablehnung der Substanz nach, sondern wegen ihrer mangelnden Begründung in der metaphysischen Natur des Menschen, die der Willkür und dem Missbrauch im Grande Terreur und durch die politischen Großideologien des 20. Jahrhunderts Tür und Tor geöffnet hatten.
Es führt – trotz aller geschichtlichen Brüche und menschlichen Versagens – eine einheitliche Linie der kirchlichen Lehre von Petrus bis Papst Franziskus. Das über alles erhabene und alles tragende Grundgesetz der Weltgeschichte besteht in der Wahrheit, dass Gott den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat, als Mann und Frau, mit der sich daraus ergebenden Folge der Generationen bis zum Jüngsten Gericht und zum ewigen Leben in der Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht.
Das Papsttum hat das Attentat von Anagni überstanden, wie auch alle vorherigen Verfolgungen und späteren Prüfungen durch die Machthaber dieser Welt. Denn in der Person des Papstes ist die Verheißung des Sohnes Gottes von der Unzerstörbarkeit und Unfehlbarkeit der Kirche wie ein Fels in der Brandung der Gezeiten sichtbar und tragfähig.
Die Kirche ist überzeugt, dass sich das Geheimnis des Menschen nur im Licht des Fleisch gewordenen Wortes wahrhaft aufklärt (II. Vatikanum, Gaudium et spes, 22). Weil die Kirche nicht irgendeine von Menschen organisierte Hilfsorganisation (NGO) ist, sondern „in Christus das Sakrament des Heil der Welt“, konnte das II. Vatikanum zu Beginn der Pastoralkonstitution über „Die Kirche in der Welt von heute“ prinzipiell das Verhältnis von geistlicher Autorität und weltlicher Gewalt in heutiger Terminologie so bestimmen: „Die Heilige Synode bekennt darum die hohe, [d.h. die göttliche Berufung; GS 22] Berufung des Menschen, sie erklärt, dass etwas wie ein göttlicher Same in ihn eingesenkt ist, und bietet der Menschheit die aufrichtige Mitarbeit der Kirche an zur Errichtung jener brüderlichen Gemeinschaft aller, die dieser Berufung entspricht. Dabei bestimmt die Kirche kein irdischer Machtwille, sondern nur dies eine: unter Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben; zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht, sich bedienen zu lassen.“ (GS 3).
Das Verhältnis der katholischen Kirche zu den modernen Staaten ist vermittelt durch den Aufbau einer „Kultur des Friedens“ und einer „Kultur des Lebens“, wie Papst Johannes Paul II. sagte. Sie beginnt mit der Achtung der Würde jedes Menschen als Person von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod und findet ihre Vollendung in unserer Berufung „zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes.“ (Röm 8, 21).
Archivfoto Kardinal Müller (c) Bistum Regensburg
Foto unten: Kardinal Müller empfängt den Preis
© 2022 www.kath.net