12. Mai 2022 in Interview
„Das Kind, das in eine Leihmutter zum Austragen eingepflanzt wird, ist das Opfer einer Beraubung seines natürlichen Rechts auf seine eigene Mutter und seinen eigenen Vater.“ kath.net-Interview mit Kard. Müller. Von Rechtsanwalt Lothar C. Rilinger
Vatikan (kath.net) Das atheistisch-evolutionistische Menschenbild sieht den ungeborenen Menschen als einen „Zellhaufen“ und als ein „Schwangerschaftsgewebe“ an, was bedeutet, dass er als Sache eingestuft wird, über den man auch wie über eine Sache verfügen kann. Diese rechtliche Qualifizierung als Sache hat nicht nur für die Abtreibung rechtliche Konsequenzen, sondern auch für die sogenannte Reproduktionsmedizin. Wenn der ungeborene Mensch als eine Sache angesehen wird, kann über ihn nach sachenrechtlichen Vorgaben entschieden werden. Aus einem Rechtssubjekt wird ein Rechtsobjekt, das der freien Verfügbarkeit Dritter unterworfen ist. Als ich als Student eine römisch-rechtliche Arbeit über die Sachmängelhaftung bei Sklaven geschrieben habe, bin ich davon ausgegangen, dass menschliche Leistung nie mehr unter den Gesichtspunkten der Sachmängelhaftung und des Sachenrechtes beurteilt werden dürfte. Doch im Rahmen des atheistisch-evolutionistischen Menschenbildes kehrt diese Vorstellung wieder ins Rechtsleben zurück. Inwieweit diese das christliche Menschenbild verändert hat, wollen wir an Hand der Reproduktionsmedizin mit Kardinal Gerhard Ludwig Müller erörtern.
Lothar C. Rilinger: Unsere Rechtsordnung kennt kein Recht oder keinen Anspruch auf einen Menschen – nur auf Sachen. Da aber nach dem atheistisch-evolutionistischen Menschenbild ungeborene Menschen als Sache angesehen werden, wird ein Recht oder Anspruch auf ein Kind eingefordert. Ist es mit der christlichen Vorstellung vom Menschen vereinbar, dass der Wunsch nach einem Kind in einen Rechtsanspruch umgedeutet wird?
Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Unter „Sache“ verstehen wir im Allgemeinen ein lebloses Ding. Davon zu unterscheiden sind die Pflanzen und die Tiere und schließlich die Menschen. Der Mensch ist ein biologisch zu beschreibendes Lebewesen, das von einer geistigen Seele durchformt wird. Einem anderen Menschen das Menschsein abzusprechen und ihn auf die Stufe einer Sache zu reduzieren, ist genau der Unterschied zwischen dem christlichen Weltbild und dem rassistischen Faschismus oder soziologischen Kommunismus. Der Andere, der nicht meinen Vorstellungen entspricht, darf im ideologisch pervertierten Denken verdinglicht, entwürdigt, versklavt und ermordet werden. Leider ist die Menschenverachtung der atheistischen „Heilslehren“, aus denen die fürchterlichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit entstanden sind, auch in den heutigen Ideologien der „Abtreibung und des Kinderhandels“ als Prinzip des Handelns und der Propaganda verankert.
Rilinger: Kann der Wunsch, ein Kind zu bekommen, es rechtfertigen, dass alle tradierten ethischen Vorstellungen außer Kraft gesetzt werden?
Kard. Müller: Der Wunsch nach einem Kind ergibt sich aus der personalen Liebe von Mann und Frau, die sich eine lebenslange eheliche Gemeinschaft versprochen haben. Dadurch, dass man technisch zu einer In-vitro-Fertilisation in der Lage ist, leitet sich aber nicht das Recht ab, sich ein kleines Menschenwesen wie ein Hündchen in der Tierhandlung zu bestellen, zu bezahlen und sich zum eigenen Pläsier nach Hause mitzunehmen. Wenn ein Kind gezeugt ist, gibt es nur sein ureigenes Recht, geboren zu werden und bei seinem eigenen Vater und bei seiner eigenen Mutter aufzuwachsen. Denn für die Eltern ergibt sich nach der Zeugung ihres Kindes die Pflicht, ihr Kind als ihr eigenes anzunehmen, zu lieben, zu pflegen und zu erziehen und ihm ein treusorgender Vater und eine liebende Mutter zu sein. Das proklamierte Recht auf Ermordung des eigenen Kindes, was man euphemistisch „Abtreibung“ nennt, ist die Ausgeburt eines kranken Hirns von Menschen, die jede moralische Orientierung verloren haben, auch wenn sie sich mit medialer und juristischer Gewalt rücksichtslos als das Maß des Fortschrittes etablieren wollen.
Rilinger: Ist es gerechtfertigt, das Schicksal aus unserem Leben zu verbannen und den Staat zu zwingen, alles zu unternehmen, damit das Schicksal überwunden werden kann?
Kard. Müller: An das Schicksal im Sinne des Fatalismus glauben wir als Christen ohnehin nicht. Alle sind wir in Gottes gnädiger Hand, der denen, die ihn lieben, am Ende alles zum Besten gereichen lässt. (vgl. Röm 8, 28). Aber es gibt auch die Zweitursächlichkeit der geschaffenen Wirklichkeiten und die aus der Sünde resultierende Verwirrung der moralischen Weltordnung. Deshalb gibt es auch tragische Unfälle und Krankheiten im Leben sowie Verbrechen, denen wir zum Opfer fallen können – wie jetzt unschuldige Menschen in der Ukraine Opfer von Kriegsverbrechen werden. In einem Rechtsstaat, der auf moralischen Prinzipien aufbaut, geht es um das bonum commune, um das Gemeinwohl möglichst aller Bürger des Landes. Man wird aber nicht jedes Unglück abwenden und jedes Verbrechen verhindern können – schon gar nicht um den Preis, dass der Staat unsittliche Mittel anwendet, wie z.B. die Lüge von den chemischen Waffen im Irak, um den Diktator Saddam Hussein zu beseitigen. Am Ende dieser Operation war aber tausendmal mehr Unglück über die Iraker hereingebrochen als es von dem zu überwindenden Unrechts-System ausgegangen war.
Rilinger: Der Rechtspositivist Hans Kelsen hat gefordert, dass Recht und Moral getrennt werden müssten. Ist nicht vielmehr Recht die in Gesetzesform gegossene Moral als Ausdruck der moralischen Vorstellungen eines Staatsvolkes und des natürlichen Sittengesetzes?
Kard. Müller: Der Rechtspositivismus geht auf die Staatstheorien von Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes zurück. Recht ist, was der Stärkere festlegt, und gut ist, was dem Staate oder seinem Repräsentanten, also der Partei oder dem absoluten Herrscher, nützt. Wer nach den Menschheitsverbrechen des deutschen Nationalsozialismus und des Sowjetkommunismus in Russland und China immer noch am Rechtspositivismus als Grundlage eines Staates festhält, ist entweder selbst ein Nutznießer dieses Unrechtssystems oder ein verblendeter Prinzipienreiter. Ein demokratischer Rechtstaat kann nur auf dem natürlichen Sittengesetz aufgebaut werden, das sich in der moralischen und metaphysischen Vernunft erschließt. Die Gebote: „Du sollst nicht töten, Du sollst nicht stehlen, Du sollst nicht lügen, Du sollst nicht die Ehe eines Anderen zerstören!“ kann jeder auch ohne Schulbildung als die einzige Grundlage eines geordneten Gemeinschaftslebens begreifen. Auch wo sie missachtet werden oder sogar eine Rechtfertigungsideologie dagegen entwickelt wurde, spricht doch das Gewissen eine klare Sprache. Das Gute braucht keine Rechtfertigung; das Böse hingegen muss sophistisch gedrechselte Gründe erfinden, um sich selbst zu rechtfertigen, wie jetzt im Krieg Russlands gegen die Ukraine im russischen Argument deutlich wird, wonach es sich gegen die NATO-Bedrohung verteidigen müsse und deshalb seien die Russen nicht schuld am Tod unschuldiger ukrainischer Kinder und Alten, Väter und Mütter.
Rilinger: Darf die sogenannte Reproduktionsmedizin nur die Rechte der Frau oder des Mannes berücksichtigen oder müssen nicht auch die Rechte des zu schaffenden Kindes, das nach der Geburt selbst nach der atheistisch-evolutionistischen Theorie ein Rechtssubjekt wird, in dem Prozess des Kinderwunsches berücksichtigt werden?
Kard. Müller: Ein Kind wird nicht von Menschen gemacht, sondern aufgrund der geschlechtlichen Differenz von Mann und Frau gezeugt. Im absoluten Sinn, in der Hervorbringung des Menschen aus dem Nichts, ist Gott allein der Schöpfer jedes einzelnen Menschen, den er zur Teilhabe an seiner dreieinigen Liebe von Ewigkeit her vorherbestimmt hat. „In Christus hat Gott uns erwählt vor der Grundlegung der Welt […] und in Liebe im Voraus dazu bestimmt, seine Söhne und Töchter zu werden.“ (Epheser-Brief 1, 4f).
Rilinger: Um einen Kinderwunsch erfüllen zu können, können Ei- und Samenzellen Dritter außerhalb des Mutterleibes befruchtet werden, um diese befruchtete Eizelle dann der Frau, die den Kinderwunsch geäußert hat, einzupflanzen. Wen soll das Kind als Mutter ansehen – die Spenderin der Eizelle oder die den Kinderwunsch äußernde Frau, die das Kind ausgetragen hat, wen als Vater, der die Samenzelle gespendet hat?
Kard. Müller: Die wirklichen Eltern sind der Mann und die Frau, denen die beiden Zellen entstammen, die zur Zeugung eines Kindes notwendig sind. Die Mutterschaft ist unteilbar. Wenn eine Frau sich in die widersprüchliche Position gebracht hat oder dazu überreden oder nötigen ließ, ihren weiblichen Leib als eine Leihmutter zur Verfügung zu stellen, dann kann sich oft auch das natürliche Muttergefühl entwickeln. Auch wenn dann pragmatisch gemäß dem Kindeswohl zu entscheiden ist, bei wem der neugeborene Mensch dann aufwachsen soll, kann aber rückwirkend die unsittliche Trennung der Zeugung durch die wirklichen Eltern von der Schwangerschaft einer dritten Person nicht für ethisch einwandfrei erklärt werden. Das Nützliche des eigenen Vorteils ist nicht das Kriterium für das sittlich Gute im Handeln aller Beteiligten oder sogar des Kindes, das dadurch zu einem Mittel und Objekt gemacht wurde.
Rilinger: Unsere Rechtsordnung kennt das Adoptionsrecht, wonach fremde Kinder rechtlich als eigene – „an Kindesstatt“ – angenommen werden. Kann das Adoptionsrecht zum Vorbild herangezogen werden, um für die durch in vitro-Befruchtung von Zellen Dritter erzeugten Kinder ein Verwandtschaftsverhältnis zu den einen Kinderwunsch äußernden Personen zu konstruieren?
Kard. Müller: Die Adoption ergibt sich aus der Notwendigkeit, dass ein Kind an Vater- oder Mutterstatt angenommen wird, wenn einem Menschen die eigenen Eltern entrissen sind. Aus der Überwindung eines Notstandes kann man nicht sophistisch den Rechtsanspruch entwickeln, um ein Unrecht zu begehen. Wenn ich als medizinischer Laie bei einem Unfall mit mehr Glück als Verstand erfolgreich Erste Hilfe leiste, könnte ich danach auch nicht beanspruchen, den Arztberuf auszuüben – ohne das entsprechende Fachstudium.
Rilinger: Durch die fälschlicherweise als Leihmutterschaft bezeichnete Mietmutterschaft – schließlich ist die in Auftrag gegebene Schwangerschaft kostenpflichtig – ist es möglich, fremde Eizellen durch fremde Samenzellen befruchten und durch eine Mietmutter austragen zu lassen. Da in diesem Fall kein genetisches Verwandtschaftsverhältnis zwischen den bestellenden Personen und dem geborenen Kind besteht und darüber hinaus die Schwangerschaft auch durch eine Dritte erledigt wird, können die den Kinderwunsch äußernde Personen keine wie auch immer gestaltete körperliche Beziehung zu dem Kind aufweisen, so dass diese Form der Produktion eines Kindes als Kauf des Kindes angesehen werden muss. Kann es mit unseren sittlichen Vorstellungen vereinbar sein, dass wir uns, wie zur Zeit der Sklaven, einen Menschen kaufen können?
Kard. Müller: Dieser ganzen diabolischen Ideenkonstruktion liegt einfach nur die wirre Vorstellung zugrunde, der Mensch sei eine Sache, die man produzieren oder entsorgen, kaufen und verkaufen kann. Es ist immer so, dass die Sklavenhändler am meisten gejammert haben, wenn sie selbst versklavt wurden. Und diejenigen, die andere, denen sie das Menschsein abgesprochen haben, tausendfach in den Tod geschickt haben, am meisten Angst hatten, wenn der Strick um ihren Hals gelegt wurde oder sie dem Erschießungskommando gegenüberstanden, wie wir es z. B. bei den hohen Nazis anlässlich der Vollstreckung der im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ergangenen Todesurteile beobachten konnten. Die Goldene Regel, die in allen Kulturen gilt, lautet: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu! (vgl. Mt 7, 12). Wenn das gerade gezeugte Kind sich jetzt noch nicht wehren kann, wird es als Jugendlicher und Erwachsener sich dagegen empören, als Gegenstand behandelt worden zu sein. Das Kind, das in eine Leihmutter zum Austragen eingepflanzt wird, ist das Opfer einer Beraubung seines natürlichen Rechts auf seine eigene Mutter und seinen eigenen Vater. Die menschlichen Samenzellen sind kein Handelsgut, sondern mit der Person verbundene Möglichkeiten zum Vater- und Muttersein und dienen damit der Verantwortung für die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes.
Rilinger: Ist es mit der Würde einer Frau vereinbar, dass sie für Dritte die Durchführung der Schwangerschaft vornimmt, ohne aber das geborene Kind als eigenes behalten zu dürfen?
Kard. Müller: Die Schwangerschaft ergibt sich aus der natürlichen Befruchtung und bildet einen einzigen personalen Bezug der Mutter zu ihrem Kind. Dieses Verhältnis auf ein Ausleihen des weiblichen Körpers für kommerzielle Zwecke zu reduzieren, ist eine Entwürdigung der Frau zu einer Maschine, die zur Produktion von kommerziellen Gebrauchswaren dienen soll.
Rilinger: Besteht die Gefahr, dass durch die künstliche Erzeugung von Kindern mit Ei- und Samenzellen Dritter wie bei der Zucht von Tieren die Zellen nach bestimmten Merkmalen ausgesucht werden, um das gewünschte Zuchtziel zu erreichen?
Kard. Müller: Ja, das ist nichts anderes als Menschenzucht und damit die Reduktion des Menschen auf ein Tier. Im Übrigen werden heute in der Kultur der westlichen Werte, als deren Vertreter sich die Brüsseler Weltverbesserer mit ihren z.T. pervertierten gegen die christliche Tradition gelesenen „westlichen Werten“ ausgeben, die Tiere würdiger behandelt als diejenigen Menschen, die den westlichen ideologischen Vorgaben widersprechen. Diktatorischen Ländern, wie Russland oder der Türkei – um zwei Beispiele zu nennen –, überweist man Milliarden von Euros, weil man sich davon Vorteile verspricht. Polen und Ungarn hingegen werden Wirtschaftssanktionen angedroht und als undemokratisch diskriminiert, weil sie dem Widersinn von gleichgeschlechtlichen Ehen und der kriminellen Frühsexualisierung von Kindern nicht folgen, was sich nur mit einer ideologischen Vernebelung der sittlichen Vernunft erklären lässt.
Rilinger: Ist es sittlich vertretbar, ungeborene Menschen auf ihre genetischen Eigenschaften hin zu überprüfen, ob sie der gewünschten und idealen Ausgestaltung entsprechen, und, sollte das Ziel nicht erreicht werden, sie durch Abtreibung zu töten?
Kard. Müller: Wie gesagt, kann der Mensch nicht als Wunschprojekt produziert werden. Etwas anderes ist es, eventuelle Krankheiten oder Missbildungen medizinisch schon im Mutterleib zu behandeln. Aber so wie ein kranker und behinderter Mensch ein ungeschmälertes Existenzrecht besitzt, so hat es auch der ungeborene Mensch im Mutterleib oder auch – im Notfall – im Brutkasten.
Rilinger: Da auch der Kinderwunsch homosexueller Personen erfüllt werden soll, verändert sich die Vorstellung von Elternschaft. Nicht nur Mann und Frau können Eltern sein, sondern auch zwei Frauen oder zwei Männer. Muss nicht auch in diesen Beziehungen das Recht des Kindes auf Vater und Mutter berücksichtigt werden?
Kard. Müller: Ein Recht auf ein Kind haben nur ein zeugungsfähiger Mann und seine Ehefrau und darum ist ihr Wunsch auch etwas der Natur ihrer Ehe Entsprechendes. Ein Wunsch kann nur erfüllt werden, wo er legitim ist, und nicht einfach aus dem Grund, weil mir seine Erfüllung gefällt oder vulgär gesagt: „Spaß macht.“ Ein abgetakelter Oligarch hat kein Recht, sich viele junge Frauen für seinen Harem zu wünschen, nur weil er sich mehr Wollust mit seinem Geld kaufen kann.
Rilinger: Nach unserer Rechtsordnung hat jedes Kind das Recht, seine biologischen Eltern, von denen es ja unstreitig abstammt, zu kennen. Ist es sittlich gerechtfertigt, Kindern ihr Recht auf Kenntnis ihres Herkommens vorzuenthalten, da ihre rechtlichen Eltern sich anonymer Ei- und/oder Samenzellen bedient haben?
Kard. Müller: Das ist ein klares Unrecht, den Kindern die Identität ihrer Eltern vorzuenthalten. Denn ihre Eltern sind die beiden Personen, aus deren Ei- und Samenzellen sie gezeugt sind. Diese sind nicht ein dingliches Baumaterial, aus dem meine körperliche Hülle aufgebaut ist, sondern mein Leib, der meine individuelle Existenz als Person einer geist-leiblichen Natur ausmacht. Eine Rechtsordnung, die anderes festlegt, ist unsittlich und nicht anderes als eine Legitimation von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Abschreckend sind die totalitären Diktaturen, die den Kindern der von ihnen ermordeten oder vertriebenen Regimegegner die Identität geraubt haben.
Rilinger: Zeigt sich in dem Kinderwunsch um jeden Preis, auch um den Preis der Aufgabe tradierter Menschenrechte und Einforderung neuer, positivistischer sogenannter „Menschenrechte“, die Abkehr vom Gemeinwohl hin zum egoistischen Individualwohl, in dem auf das Wohl Dritter – in unserem Fall der Kinder – keine Rücksicht mehr genommen wird?
Kard. Müller: Da der Mensch sowohl Person als auch Gemeinschaftswesen ist, hat es a priori keinen Sinn, Individualrechte gegen das Gemeinwohl geltend zu machen. Aber die Person ist keineswegs auf den Individualismus des bürgerlichen Kapitalismus festzulegen oder im Sinne des Kommunismus im Kollektiv untergehen zu lassen. Die Menschenrechte liegen in der geist-leiblichen Natur des Menschen als Person, der nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen ist. Als solche wehren sie auch die totalitären Ansprüche des Staates ab, der nur ein menschliches Gebilde ist und keineswegs – wie Hegel und seine sittlich entgleisten Schüler von rechts und links meinten – eine Art „Gott auf Erden“.
Rilinger: Wir denken die Menschenrechte, wie sie sich aus dem Naturrecht ergeben, als universal und als allgemeinverbindlich, so dass wir jedes Handeln unter diesen Voraussetzungen überprüfen. Wenn aber die Menschenrechte durch neue, positivistisch begründete „Menschenrechte“ ergänzt, aufgeweicht oder ersetzt werden, besteht die Gefahr, dass auch die tradierten Menschenrechte nicht mehr von der Mehrheit der Staaten als allgemeinverbindlich anerkannt werden. Wenn auch die sogenannten „Menschenrechte“ als veränderbar und dem Zeitgeist angepasst angesehen werden, könnte dann die Gefahr bestehen, dass die Menschenrechte insgesamt an Bedeutung verlieren?
Kard. Müller: Ja, die westlichen Demokratien sind dabei, ihre eigenen Grundlagen zu untergraben, wenn naturwissenschaftliche Theorien zur sexuellen Differenz von Mann und Frau von Staatsanwälten und Richtern bewertet werden, wie wir es in Prozessen gegen Prof. Ulrich Kutschera und Dariusz Oko in Polen erleben oder wenn in Kanada Journalisten nur mit einem Qualitätsausweis des Staates arbeiten dürfen und deshalb nur Anhänger der Trudeau-Ideologie übrigbleiben. Hier wird rechtspositivistisch argumentiert, dass eine Meinung auch gegen alle Vernunft allein deshalb zu gelten habe, weil das Gesetz es befiehlt. Die Richter berufen sich auf den Befehlsnotstand, statt auf ihr Gewissen, das ihnen sagt, dass die Politiker keine Prinzipienfragen der Theologie, Philosophie und Wissenschaft nur mit Berufung auf ihre Gesetzgebungskompetenz entscheiden können.
Entweder ergeben sich die Menschenrechte und -pflichten aus der geistigen und sittlichen Natur des Menschen als eines leiblichen Wesens im Kontext von Geschichte und Gesellschaft oder sie sind ein willkürliches Konstrukt machtgieriger Politiker und Oligarchen, selbst wenn sie sich im Westen dem staunenden Publikum als Philanthropen darbieten.
Rilinger: Eminenz, vielen Dank.
Archivfoto: Kardinal Müller im Presseraum des Vatikans (c) Michael Hesemann
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