Das entkernte Christentum

13. Mai 2022 in Kommentar


Zur Antwort von Prof. Striet auf die weltkirchliche Kritik am Synodalen Weg – „Die bis zum Zerfall heruntergewirtschaftete ‚deutsche Kirche‘ lässt sich nur schwer als Modell für die universale Kirche empfehlen“. Von Gerhard Card. Müller


Vatikan-Freiburg i.Br. (kath.net/Die Tagespost) Difficile est satiram non scribere. Dieser Ausspruch des römischen Dichters Juvenal kommt einem unwillkürlich in den Sinn nach der Lektüre des Gastbeitrags von Magnus Striet, den der Freiburger Professor auf den Propagandaforen der Deutschen Bischöfe veröffentlicht hat. Darin führt er die um die Wahrheit des Evangeliums und die Einheit der Kirche tief besorgte Kritik der nordischen und polnischen Bischofskonferenz wie auch die Befürchtungen im Offenen Brief von 74 amerikanischen und afrikanischen Kardinälen an den Thesen des Deutsch-Synodalen Weges zurück auf die mangelnde intellektuelle Kompetenz ihrer Verfasser und Unterzeichner. Deren Warnung vor einem Schisma kann seiner Meinung nach nur darin den hinreichenden Grund haben, dass diese „Würdenträger“ sich nie ernsthaft mit der aufgeklärten Kritik am kirchlich-sakramental verfassten Christentum und vor allem mit der Philosophie Immanuel Kants beschäftigt haben. Und selbst wenn sie die wichtigsten Autoren der Offenbarungs- und Religionskritik seit dem 18. Jahrhundert gelesen haben sollten, dann wären sie apriori nie in der Lage, sie zu verstehen oder gar zu widerlegen. Denn nur auf dem intellektuellen Niveau der deutschen Theologie und ihrer Ableger, meint er, kommt ein Ausländer über die paar angelernten Phrasen in den neoscholastischen Studienhäusern seiner Heimat hinaus.

Offenbar reichte die offizielle Antwort des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz an seine weltkirchlichen Kollegen, die unter dem Mangel an Problembewusstsein für die moderne Zeit leiden, nicht aus, um den deutschen Führungsanspruch in der Weltkirche durchzusetzen.

Das Große Striet-Ross des Synodalen Wegs musste daher in den Kampf geworfen werden. Doch auf dem Schaukelpferd seines Relativismus sind ihm bisher nur ein paar Luftstreiche geglückt.

Denn die bis zum Zerfall heruntergewirtschaftete „deutsche Kirche“ lässt sich nur schwer als Modell für die universale Kirche empfehlen wie auch für die Neuevangelisierung, auf die Papst Franziskus das deutschen Kirchenestablishment vergeblich einzuschwören versucht hatte. Nun musste der allerdings schon verblasste Nimbus der stets intellektuell überlegenen und permanent fortschrittlichsten deutschen Theologie auf die Waagschale gelegt werden. Denn nach dem Großen Striet ist die geoffenbarte Wahrheit nur eine Fiktion von geistig beschränkten und trotz ihrer mangelnden Bildung von doch recht verschlagenen Bischöfen und Päpsten, welche „die hochkomplexe, von Umbrüchen und Transformationen des überkommenen Glaubens gekennzeichnete Geschichte des Christentums, das es immer nur im Plural gegeben hat, nicht kennen beziehungsweise sich durch die von ihnen konstruierte Singularkonstruktion nur jeder Diskussion entziehen wollen.“

Angesichts solch lächerlicher Selbstüberschätzung und verstiegener Überlegenheitsansprüche ist es auch dem sanftmütigsten Heiligen kaum möglich seine Lust auf Spott und Satire über diese altdeutsche Professorenherrlichkeit zu zügeln.

Der Herr Professor Striet ist nun selbst schon 58 Jahre alt und müsste den Zenit des jugendlichen Stolzes auf seine Hyper-Intelligenz und die Inhaberschaft eines Lehrstuhls überschritten und schon bei ein wenig mehr sokratischer Bescheidenheit angekommen sein: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Oder ganz schlicht gesagt: „Die anderen wissen auch etwas und ich nicht alles oder immer besser.“ Denn sosehr wir gegen die bloße Gefühlsreligion in der katholischen Theologie die Vernunft in ihrer Synthese mit dem Glauben schätzen, müssen wir doch nicht auf die späte Altersweisheit warten, um zu begreifen, dass die auf sich selbst zurückgeworfene endliche Vernunft nur zu einer „Erkenntnis kommt, die aufbläht, während die Liebe aufbaut.“ Gott macht es uns im Lichte seines Geistes möglich, dass wir ihn erkennen, weil er vorher uns erkannt hat (vgl. 1 Kor 8, 2). Der geoffenbarte Glaube macht jeden, der ihn annimmt, selig, auch wenn er von theologischen Diskussionen nichts versteht. Die Theologie ist wichtig für die Kirche und ihr Lehramt, aber nicht heilsnotwendig für den Glauben der Einfältigen und Schwachen. Die Gnade genügt.

„Die Vernunft ist“ -gewiss nicht vulgär mit Luther gesagt- „eine Hure.“ Aber sie ist weiblich. Und damit ist unsere geschaffene Vernunft empfänglich für das Wort Gottes, der sich uns in seinem Sohn Jesus Christus mitgeteilt hat als Wahrheit und Leben und der im Heiligen Geist sich uns vermittelt in Martyria, Leiturgia und Diakonia Seiner Kirche, die Christi Leib ist und Tempel des Heiligen Geistes.

Bei aller Wertschätzung für Kant, sind doch auch die von ihm selbst zugestandenen Aporien seiner Erkenntniskritik (Kritik der reinen Vernunft B 30; 863) nicht zu übersehen, die ihm die Anerkennung der Selbstoffenbarung Gottes in seinem heilsgeschichtlichen Wirken und in seinem schließlich in Christus Fleisch gewordenen Wort unmöglich machten. Begreift sich aber der Mensch als Person in seiner geistig-leiblichen Einheit, dann ist er auch Hörer eines tatsächlich an ihn ergangenen Wortes Gottes in der Vermittlung der menschlichen Worte seiner Propheten und Jesu Christi, seines Sohnes. Mit dem Beistand des Heiligen Geistes wird das Wort Gottes in der Lehre der Apostel und der Kirche seiner ganzen Wahrheit und Fülle nach den Menschen aller Zeiten verkündet. So geht dem Verstehen der geoffenbarten Wahrheit (intellectus fidei) das Hören des Wortes und seine Annahme im Glauben voraus (auditus fidei).

Unser Herr Professor schmeichelt sich etwas süßlich bei den Protagonisten des Synodalen Weges ein, wenn er hinter ihrer Agenda den heldenhaften Kampf für rechtlich abgesicherte Selbstbestimmungsrechte vermutet. Die würden schon in den liberalen Demokratien praktiziert und müssten nur jetzt noch gegen das „Wahrheitsentscheidungsmonopol“ bischöflicher Hierokraten durchgefochten werden. Im Kampf um die Durchsetzung der Selbstbestimmungsrechte jedes einzelnen Christen exakt in all dem, was für ihn subjektiv wahr oder gut und damit persönlich angenehm ist, sei nach dem Vorbild Jesu auch ein Schisma in Kauf zu nehmen. Das Gebet um die Einheit der Jünger im Glauben an den Vater und den Sohn, damit die Welt glaube an ihn als den Gesandten des Vaters, wäre leicht mit dem Zweifel an seiner historischen Authentizität aufs dem Weg zu räumen.

Jesu Botschaft vom Reich Gottes, das mit seiner Lehre kommt und in Kreuz und Auferstehung geschichtlich verwirklicht wurde, ist für Prof. Striet keineswegs der „Kern des Evangeliums.“ Das Wesentliche, Vorbildliche und Nachahmenswerte an Jesus ist für ihn allein sein bewusst vollzogenes Schisma mit dem damaligen religiösen Establishment.

Selbstredend meint er nicht das Establishment der deutschen Kirchenfunktionäre mit ihren willfährigen Repräsentanten im Bischofsgewand, sondern „den Papst und die Bischöfe in Einheit mit ihm, denen Christus seine Kirche zu weiden und zu leiten übertragen hat“ (vgl. II. Vatikanum Lumen gentium 8). Jesus hat demnach keineswegs sein Blut „für uns vergossen zur Vergebung der Sünden.“ Nur „für seine Kritik an einem ausgrenzenden religiös begründeten Moralismus ist er in den Tod gegangen.“ Ob die Deutsch-Synodalen ihm bei ihrem Kampf gegen die repressive Sexualmoral der katholischen Kirche, für die Segnung homophiler Paare und gegen das sakramentale Priestertum und den Zölibat, gegen die hierarchische Verfassung der Kirche und gegen den Lehr- und Jurisdiktionsprimat des römischen Papstes ihrem „schismatischen Jesus“ auch bis in der Tod folgen oder doch lieber die katholisch Gläubigen „mundtot“ machen?

Ganz klar stellt der Herr Professor fest: Wenn Jesus heute noch leben würde, wäre er auf der Seite des Deutsch-Synodalen Weges. Nur im Geist dieses längst Verstorbenen, der womöglich nur in die Phantasie der liberalen Katholikinnen und Katholiken auferstanden ist, wie Striet sagen würde, können wir die Bibel auslegen. Aus den Streitereien in der Kirchen- und Dogmengeschichte müssen wir nur lernen, dass es keine geoffenbarte und kirchlich feststellbare Wahrheit Gottes gibt, „dem sich der Mensch Gott als ganzer in Freiheit mit Vernunft und freiem Willen in Glaube, Hoffnung und Liebe überantwortet.“ (vgl. II. Vatikanum, Dei verbum 5). Demnach gibt es auch und keine sichtbare gesellschaftlich verfasste Kirche, die „in Christus das Sakrament des Heils der Welt ist“ (Lumen gentium 1; 48; Gaudium et spes 45).

Denn in seiner historischen Beschränktheit habe Jesus „nichts gewusst von Vorstellungen eines modernen Selbstbestimmungsrechtes.“ Zum Glück lassen sich aber von der „Gottespraxis des Juden Jesus“ her Linien ziehen nach Königsberg und Paris“, d.h. also zu Kants Reduktion des Christentums auf Moral oder im Sinne des Deismus auf eine aufgeklärte Humanitäts- oder dem Staat bequeme Zivilreligion. Ihr fehlt dann jeder Bezug zum Geheimnis des Seins, zu einem personalen Gott der dreifaltigen Liebe, zur Hoffnung des Menschen über die Grenzen seines kurzen Erdendaseins hinaus. Transzendenzlos und naturalistisch können wir im Geiste dieser Brüderlichkeit auch den atheistischen Flügel der Aufklärung miteinbeziehen, der mit La Mettrie den Menschen auf eine Maschine reduzierte oder mit dem Baron Holbach das Christentum in seinem falschen Wahrheitsanspruch „entschleierte“ und die Glücksfeindlichkeit seiner rigiden Sexualmoral „entlarvte“.

Also die Herren Kardinäle und Bischöfe nicht allzu ernst nehmen! Keine Angst vor Apostasie, Häresie und Schisma! Es wird schon alles gut, wenn wir nur den Herrn Professor Striet ernst nehmen und blind seinen Eingebungen folgen.

Nicht von ungefähr erhob schon gleich zu Beginn seiner Ausführungen der Herr Professor seinen Zeige- und Deutefinger, mit dem er seine bischöflichen Gasthörer ermahnt, immer nur dann eine Antwort zu geben, wenn sie vorher gefragt wurden. Ansonsten gibt sich der Herr Professor nur mit Menschen ab, die auf den „Geschmack der Freiheit“ gekommen sind, den längst auch viele Katholikinnen und Katholiken als evangeliumsgemäß kosten wollen, der die Distanz geschaffen hat.“

Das Schisma als Verlust der Einheit mit dem zu vernachlässigenden Rest der Weltkirche ist nicht zu fürchten, weil es ohnehin längst da ist und als Katalysator wirkt auf dem Weg zur Autonomie aller Christen von dem Wort und Willen Gottes, so wie ihn das Lehramt im Glaubensbekenntnis und Katechismus vorlegt. Die auf den „Geschmack der Freiheit“ gekommenen Katholiken vollziehen jetzt endlich die Trennung von der „römisch-katholischen Kirche, die sich unter dem Papst und einer Einheitsdoktrin versammelt“, welche die Reformatoren im 16. Jahrhundert schon erfolgreich vorexerziert hatten. Es gilt jetzt, beherzt auch in der Moderne anzukommen und deren Erfolgsrezept für die Selbst-Säkularisierung der Kirche übernehmen.

Das Christentum sei nicht die Einheit der Jünger im Glauben an Jesus, den Christus und „Sohn des lebendigen Gottes“, sondern im Wesen Streit und Kampf um die Interpretationen von einer unerkennbaren Wahrheit. Man wundert sich -nur nebenbei bemerkt- darüber, dass angesichts der prinzipiellen Nichterkennbarkeit von natürlichen und geoffenbarten Wahrheiten der intellektuell haushoch überlegene Herr Professor dennoch den Unterschied zwischen „rechtschaffenen liberalen Katholiken“ und nicht-rechtschaffenen Katholiken, d.h. „intellektuell nicht allzu ernst zu nehmenden ausländischen Kardinälen und Bischöfen“ definitiv festmacht an der Begeisterung für „die Rechte von LGBTQ-Menschen“ und die Zulassung von biologischen Nichtmännern „zu den Ämtern“ und dem bedingungslosen Ja zur „sogenannten Genderideologie.“

Nach so viel professoraler Akrobatik sehnt sich mein intellektuell überforderter bischöflicher Verstand zurück nach der einfachen Logik eines katholischen Kirchenlehrers aus dem 2. Jahrhundert, den Papst Franziskus am 21. Januar 2022 zum Doctor unitatis erklärt hat. Gegen die pluralistische und subjektivistische Verfälschung des apostolischen Glaubens durch die Gnostiker schrieb im Jahre 185 n. Chr. Irenäus, der Bischof von Lyon: “Die Häretiker, können, weil sie blind sind für die Wahrheit, gar nicht anders, als dauernd neue Wege zu gehen, die von der rechten Bahn abweichen. Und deshalb sind die Spuren ihrer Lehren ohne Sinn und Zusammenhang. Aber der Pfad derer, die aus der Kirche kommen, führt um die ganze Welt; er hat nämlich von den Aposteln her eine feste Tradition, und er lässt uns bei allem ein und denselben Glauben sehen, indem alle den einen und denselben Gott Vater annehmen und dieselbe Heilsordnung der Menschwerdung des Sohnes Gottes glauben; sie kennen dieselbe Schenkung des Geistes und bedenken dieselben Gebote und bewahren dieselbe Form der kirchlichen Verfassung; sie warten auf dieselbe Ankunft des Herrn und halten am selben Heil für den ganzen Menschen fest, das heißt für Leib und Seele. Die Predigt der Kirche ist demnach wahr und fest; bei ihr findet sich ein und derselbe Heilsweg in der ganzen Welt.“ (Gegen die Häresien V 20, 1).

Archivfoto Kardinal Müller (c) Bistum Regensburg

Dieser Artikel erschien zunächst in "Die Tagespost" Nr. 18 Jahrgang 75 am 5. Mai 2022.

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