Das Moskauer Patriarchat und der Vatikan – Eine Tragödie der Polit-Ökumene

18. Mai 2022 in Aktuelles


Patriarch Kyrill I. und Putin missbrauchen Gott und die Welt – „Papst Franziskus kann sich sein Ticket nach Moskau sparen. Er sollte lieber nach Kiew fahren.“ Gastbeitrag von Archimandrit Andreas-Abraham Thiermeyer


Eichstätt-Moskau (kath.net) Der kirchliche und politische Westen hat Patriarch Kyrill I. (*1946) und Putin (*1952) zu lange verwöhnt und größenwahnsinnig gemacht. Nun bedarf es einer Neudefinition der kirchlichen und staatlichen „Ost-Politik“.

Seit Monaten rechtfertigt der Patriarch den Krieg und den Militäreinsatz Russlands als „metaphysischen Kampf“ des Guten gegen das Böse aus dem Westen. Er weist jede Kritik an seiner Haltung zum Ukrainekrieg zurück: „Meine Worte sind keine militaristische Rede des Patriarchen, wie es unsere Gegner bezeichnen wollen. Das ist alles Blödsinn“, sagte er jüngst vor den russischen Streitkräften in der Militärkathedrale bei Moskau. Er behauptet, Russland habe nie einen Angriffskrieg geführt und wolle keinem Land Schaden zufügen, es besetzen oder plündern. Er sagte bei diesem Gottesdienst zu den Soldaten, dass die Freiheit und Unabhängigkeit Russlands von ihrer Vaterlandsverteidigung abhänge. Sie sollen daher bereit sein, ihre „Seele“ für ihre Freunde zu geben, wie es Gottes Gebot sei; denn Russland brauche „wahre Freiheit“ und Unabhängigkeit von mächtigen Staaten, die Russland feindlich gesinnt seien. „Wir müssen all unsere geistigen und materiellen Kräfte bündeln, damit es keiner wagt, einen Anschlag auf die heiligen Grenzen unseres Vaterlandes zu verüben“, so Kyrill I. Die Orthodoxie ist ein wichtiger Pfeiler der russischen Ideologie des Stolzes und der Überheblichkeit gegenüber dem Westen und der ganzen restlichen Welt. Die gesamte Orthodoxie und alle ökumenischen Gremien (Weltkirchenrat, Rom) sollten daher nicht nur die politischen Verbrechen Putins gegen das friedliche ukrainische Volk verurteilen, sondern auch die ideologie-begründenden Worte und Taten des Patriarchen Kyrill. Papst Franziskus gibt Kyrill zu bedenken: „Wir sind nicht Kleriker des Staates, wir sind Hirten für das Volk – und müssen gemeinsam Lösungen für den Frieden finden … Der Patriarch kann sich nicht zum Ministranten Putins machen.“ Die Konsequenz für alle ökumenischen Gremien müsste lauten: Patriarch Kyrill I. ist als ökumenischer Partner untragbar, er ist ein klerikaler Oligarch von Putins Gnaden. Der Kiewer Metropolit Epiphanius der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) sagt: „Niemand mit Blut an seinen Händen kann den Kelch oder den Hirtenstab halten.“ Immerhin sagte Papst Franziskus wenigstens das vorgesehene Treffen mit Patriarch Kyrill I. ab. Dies wäre von Moskau nur zu propagandistischen Zwecken genutzt worden, in der Ukraine hätte niemand Verständnis dafür gehabt.

Papst Franziskus und seine Aussagen im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg

Viele Äußerungen von Papst Franziskus sind leider missverständlich: Der Papst sei bereit, zuerst Putin in Moskau zu treffen und dann eventuell auch nach Kiew zu reisen. Einen Besuch in Kiew halte Franziskus für wenig friedensdienlich. Zuvor müsse er nach Moskau reisen (so im Interview mit Franziskus, „Corriere della sera“). Als der Papst am 8. Juli 2013 spontan nach Lampedusa geflogen war, hatte er damit nicht das Problem der Migrantenaufnahme gelöst, aber er hatte ein klares Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen gesetzt und sich an die Seite der Opfer gestellt. Sein Besuch in Kiew wäre ein ähnlich starkes Zeichen gewesen, das dann weitere Schritte eröffnet hätte. Jetzt aber, nach diesen Äußerungen des Papstes, wird eine Verzögerung des Besuchs immer problematischer.

Als einen der Gründe für den Krieg macht Franziskus den Waffenhandel des Westens mit der Ukraine aus. Der Papst meint, Putins „Wut“ sei „vielleicht durch das ‚Gebell‘ der NATO an den Toren Russlands ausgelöst“ worden, das den Kreml dazu gebracht habe, „falsch zu reagieren und den Konflikt zu entfesseln.“ Diese Äußerungen sind einfach nur die Wiederholung von russischen Propaganda-Slogans, die ständig als Vorwand für den Angriff verwendet werden. Mit diesem „Erklärungsversuch“ für Putins Verhalten und dem Vorwurf der NATO gegenüber, sie habe mit der Osterweiterung Russland provoziert, hat der Papst seine Neutralität verletzt. Angesichts des tausendfachen Leids der Ukrainer dürfte es für Papst Franziskus keinen Grund geben, den Aggressor Putin zu verstehen und zu erklären. Der Papst hätte sich vielmehr eindeutig auf die Seite der Leidtragenden zu stellen. Für viele Betroffene sind diese Aussagen des Papstes bestenfalls nur naiv, im Grunde müsste man sie zynisch nennen. Der Vatikan mit all seinen diplomatischen Verbindungen weiß sehr genau, dass es Putin nie um die NATO gegangen ist, dass er nie Angst vor diesem Bündnis hatte, sondern dass er die Ost-Erweiterung nur als Argument für sein Ziel nutzt, nämlich den Erhalt und Ausbau seiner eigenen Macht um jeden Preis. Obengenannte Aussagen des Papstes und sein langes Zögern, das Wort „Krieg“ in der Ukraine auszusprechen, wird – bei aller Diplomatie – der Rolle des Papstes nicht gerecht. Wir Deutsche und viele Europäer, auch die Kirchen, waren nach der Rede Putins im Bundestag (2001) in einer Russland-Euphorie. Bereits in den 2000er Jahren versuchte Putin in Gesprächen mit Präsident George W. Bush allerdings schon zu erklären, dass die Ukraine kein Staat sei und kein Recht auf eine eigene Existenz habe. Das wurde jedoch geflissentlich „überhört“. Nach dem Übergriff auf die Krim und dem Versuch, die Ukraine durch einen Angriff im Osten des Landes zu spalten, begann Putin aufgrund des westlichen Verhaltens an seine Straflosigkeit für alle seine Taten zu glauben. Er ließ in den vergangenen Monaten die ganze westliche Politprominenz bei sich antreten, hörte huldvoll zu und tat das Gegenteil von dem, was er sagte. Er sah, dass es allen nur um die Beruhigung ihrer ökonomischen Ängste ging, daher schätzte er vor dem Ukrainekrieg die eventuellen Sanktionen des Westens, die er mit dem Gas- bzw. Ölhahn zu regeln glaubte, als „vernachlässigbar“ ein. Und er begann seinen Ukrainekrieg.

Die ROK war und ist seit Stalin (1878-1953) eine Propagandaeinrichtung für das russische Regime

Seit ca. 50 Jahren verfolge ich, anfangs durchaus auch mit einer gewissen Begeisterung, die Entwicklungen der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK). Wir im Westen waren ab den 1970er Jahren nach dem II. Vaticanum fasziniert von der Liturgie, der Spiritualität, der Kunst, der langsamen Öffnung der ROK der katholischen Kirche gegenüber. Vor allem in den 1980er Jahren erhoffte ich, dass im Zuge der politischen Öffnung auch ökumenisch einiges geschehen könnte. Metropolit Nikodim Rotov (1929-1978), dem ich einmal begegnen durfte, war ein großer Sympathieträger dieser ökumenischen Bewegung. Der damalige Rektor von Leningrad (1974-1984) und spätere Erzbischof Kyrill (heute Patriarch) wurde als sein Zögling und Hoffnungsträger von ihm gefördert. Ihre Besuche in Rom (Vatikan, Russicum, Villa Cavaletti) sind unvergesslich. Tatsache ist aber, dass sich die Rhetorik und das Narrativ der Russischen Orthodoxen Kirche in ökumenischer und politischer Hinsicht ab den 1990er Jahren und vor allem mit dem Beginn des Patriarchats von Kyrill (ab 2009) stark in Richtung einer „imperialen Ideologie“ verändert hat. Jetzt wird die ehedem beruhigende Rhetorik aufgegeben, stattdessen wird das terroristische KGB-Gesicht immer deutlicher sichtbar. Wir hatten alle ob der idealisierten und perfekt dargebotenen Schönheit des liturgischen und monastischen Lebens verdrängt, dass keiner ohne die Genehmigung des KGB Patriarch, Bischof oder Archimandrit werden kann. D.h. alle haben den gleichen „Taufschein“, nämlich die Mitgliedschaft beim KGB.

Der Kreml und sein Patriarch

Moskau sieht sich als das „Dritte Rom“ („…und ein viertes wird es nicht geben“, so der Mönch Philotheus, 16. Jh.). Die ROK fühlt sich nun exklusiv als Bewahrerin der „Heiligen Rus“. Es gab in ihrem religiösen Bewusstsein zwar schon lange einen radikalen Konservatismus, aber er war nicht so national betont wie heute. Die unter Kyrill I. noch mehr gewachsene Ideologie dieser selbstgerechten Sichtweise der ROK kam insbesondere auch Putin und seiner Ideologie zugute. Von daher hat Kyrill einen großen Anteil an der gegenwärtigen Tragödie. Er hat die Ideologie der sog. „Russischen Welt“ („Russkij mir“) jahrelang gepredigt und verbreitet. Diese Ideologie, die von Hunderten Intellektuellen auf der ganzen Welt verurteilt wird, gilt für Putin als Vorwand und Rechtfertigung seiner Aggression. Die Orthodoxie in Russland war und ist ein gewichtiges Werkzeug des Staates. Die russische Kirche beugte sich dem Zaren oder dem Imperium willig, bezeichnete die Macht als sakral und erhielt dafür Privilegien und Unterstützung. Und so ist es bis heute für beide eine „win-win-Situation“. Der politisch-imperiale Nationalismus, religiös begründet, versucht und ermöglicht nun auch kirchlicherseits nach einer teilweisen Vorherrschaft über den byzantinischen Osten zu streben. Die ROK betreibt in der Ukraine, in Afrika, gegenüber dem Patriarchen von Konstantinopel, gegenüber dem Patriarchen von Alexandrien, gegenüber der griechisch-orthodoxen Kirche in Griechenland, gegenüber der griechisch-orthodoxen Kirche in Zypern und nicht zuletzt gegen die griechisch-katholische Kirche in der Ukraine eine ähnlich aggressive und dominierende Kirchenpolitik wie Putin im staatlichen Bereich.

Wo russische Macht ist, gibt es zurzeit keine Meinungs- und Religionsfreiheit. Patriarch Kyrill unterbindet rigoros jede Möglichkeit, in seiner Kirche eine öffentliche Position zu vertreten, die nicht die seine ist. Er ist in seiner absoluten Machtfülle Putin bzw. einem Monarchen sehr ähnlich. Er geht mit seinen Erzbischöfen um, wie Putin mit seinen Ministern. Das gesamte Eigentum der Kirchengemeinden wurde (vgl. neues Kirchenstatut) Eigentum der Eparchie, d. h. des Bischofs, der darüber die absolute Macht hat. Patriarch Kyrill wiederum verfügt über die Bischöfe und ist dadurch ein absoluter Monarch in seinem religiösen Imperium, zu dem neben Russland auch Weißrussland, die Ukraine, die ehemaligen Sowjetrepubliken und die weltweiten Diaspora-Eparchien gehören.

Ein kirchenpolitischer Störfall

Einen für Moskau unverzeihlichen Akt setzte der Ökumenische Patriarch Bartholomaios I. von Konstantinopel, als er am 6. Januar 2019 sein Recht der „Tomos-Verleihung“ in Anspruch nahm und vor der Weltorthodoxie die aus dem „Kiewer Patriarchat“ und der „Autokephalen Kirche“ vereinte und erneuerte „Orthodoxe Kirche der Ukraine“ (OKU) als eine autokephale und eigenständige Kirche anerkannte. Das Moskauer Patriarchat reagierte darauf völlig unangemessen: es vollzog den Abbruch der Gebets- und Kommuniongemeinschaft mit Konstantinopel und den anderen Kirchen, welche die OKU ebenfalls anerkennen. Putin berief wütend eine Sitzung des Sicherheitsrates Russlands ein. Dort wurde die Anerkennung der OKU „als Gefahr für die nationale Sicherheit Russlands“ eingestuft. Denn gemäß der Aussage Putins sind das Pfand der Unabhängigkeit Russlands die Nuklearwaffen und die Russische Kirche (die ukrainische Orthodoxie gilt für ihn und Kyrill als Teil der ROK!). D.h. die ROK ist in ihrer kompromisslosen und exklusivistischen Form eine mächtige ideologische Stütze seiner arroganten und hasserfüllten Beziehung zu anderen Nationen und Völkern. Diese Zusammenhänge sind auch der Grund dafür, dass Patriarch Kyrill und die meisten anderen Bischöfe der ROK im vergangenen Jahrzehnt sich in Schweigen hüllten, als in Russland Menschenwürde und Freiheit missachtet, als Regierungsgegner getötet, und einzelne Völker (Tschetschenien, Syrien, Ukraine) angegriffen wurden. Putin hat den festen Willen, die Welt in die Zeit nach 1945 zurück zu versetzen. Dafür zerstört er zurzeit die Ukraine und verbrennt Russlands Zukunft. Und der Patriarch unterstützt ihn dabei.

Was sollte man in Rom nun endlich aus dem „ökumenischen Holzweg“ lernen?

1. Aufhören mit all diesen falschen ökumenischen Rücksichtnahmen dem Moskauer Patriarchat gegenüber.

2. Zur Kenntnis nehmen, dass die derzeitige ROK schon seit vielen Jahren an keiner ehrlichen theologischen Ökumene interessiert ist, bestenfalls an sozialen und kulturellen Aktionen, die sie für ihre Zwecke nutzt.

3. Erkennen, dass in der ROK Ökumene nur nach den Grundsätzen der Staatsraison und des politischen Vorteils und in Form von großen PR-Aktionen vor den Augen der Welt betrieben wird.

4. Klar und eindeutig zur griechisch-katholischen ukrainischen Kirche stehen: Nicht nur mit schönen Worten, die nichts kosten, sondern endlich mit mutigen Taten.

5. Die griechisch-katholische ukrainische Kirche endlich zum Patriarchat erheben. Was muss diese Kirche noch alles erleiden, bis endlich großzügigst und gnädigst aus den Polstersesseln in Rom die Erlaubnis dafür kommt? Es ist blamabel, wenn aus abgelegensten Orten Kardinäle ernannt werden, aber aus dieser großen Bekennerkirche keiner.

6. Die ROK fragt keine anderen Kirchen, ob sie irgendwo eine Diözese, ein Erzbistum oder eine Metropolie (d.h. Parallel-Strukturen) errichten darf. Warum klärt Rom eine Veränderung des Status der Griechisch-katholischen Kirche z.B. in Weißrussland, in Kasachstan, Karaganda etc. immer erst mit der ROK ab? Dies ist eine Schande für Rom, ein ökumenisches Schmieren-Theater mit der politisch agierenden ROK und eine fortwährende Demütigung der Griechisch-katholischen Kirchen.

7. Bereit sein zum Dialog: Ja, aber wenigstens auf der Basis des Völkerrechts, der anerkennenden Wertschätzung und nicht in der Gleichstellung von Aggressor und Überfallenen.

Fakt ist: Patriarch Kyrill I. und Putin sind so von ihrem Handeln überzeugt, dass sie mittlerweile „beratungsresistent“ geworden sind. Papst Franziskus kann sich sein Ticket nach Moskau sparen. Er sollte lieber nach Kiew fahren: „Du aber, geh und stärke deine Brüder!“ (vgl. Lk 22,32).

Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer ist Gründungsrektor des Collegium Orientale, Eichstätt


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