1. Juni 2022 in Aktuelles
Franziskus: das unwürdige Verhalten gegenüber der Würde des Alters. Es gibt ein ‚Lehramt der Gebrechlichkeit’, das uns das Alter für die gesamte Dauer des menschlichen Lebens glaubwürdig in Erinnerung rufen kann. Von Armin Schwibach
Rom (kath.net/as) „Denn du bist meine Hoffnung, Herr und Gott, meine Zuversicht von Jugend auf. Vom Mutterleib an habe ich mich auf dich gestützt, / aus dem Schoß meiner Mutter hast du mich entbunden, dir gilt mein Lobpreis allezeit. [...] Du ließest mich viel Angst und Not erfahren, / du wirst mich neu beleben, du führst mich wieder herauf aus den Tiefen der Erde. Bring mich zu Ehren! Du wirst mich wieder trösten“ (Ps 71,5-6.20-21).
Einundzwanzigste Generalaudienz des Jahres 2022 mit Pilgern und Besuchern auf dem Petersplatz. Papst Franziskus setzte seine Katechesenreihe zum Alter fort. Die zwölfte Katechese stand unter dem Thema: „Verlass mich nicht, wenn meine Kräfte schwinden“.
Bei Psalm 71, aus dem wir in der Lesung einen Ausschnitt gehört haben, so der Papst, handle es sich um das Gebet eines älteren Menschen, der angesichts seiner spürbar schwindenden Kräfte Gott um Hilfe anrufe. Er erlebe nicht nur die eigene Schwäche, sondern auch die Angst, alleingelassen, betrogen und in seiner Würde missachtet zu werden.
Diese bedrückende Erfahrung des Ausgeliefertseins machten viele, manchmal sogar innerhalb der eigenen Familie. Das Alter bzw. der alte Mensch scheine nur noch einen geringen Stellenwert in unserer Wegwerfgesellschaft zu haben. Mehr oder weniger unverhohlen werde bisweilen die Frage laut, ob „so ein Leben“ überhaupt noch würdig und lebenswert sei.
„Wie ist eine solche Infragestellung Alter, Kranker und Schwacher mit den oft beschworenen Werten unserer fortschrittlichen und wohlhabenden Gesellschaft zu vereinen?“, fragte sich Franziskus: „warum haben wir solche Schwierigkeiten im Umgang mit Alter und Krankheit?“. Dabei könnte die Gesellschaft gerade von den alten und schwachen Menschen etwas Entscheidendes lernen, das für alle Menschen – egal welchen Alters – gelte, in späteren Jahren jedoch besonders hervortrete: „dass wir alle in irgendeiner Weise hilfsbedürftig und aufeinander angewiesen sind“.
Die Gesellschaft als Ganze müsse sich beeilen, sich um die immer zahlreicheren und oft noch mehr verlassenen älteren Menschen zu kümmern: „wenn wir hören, dass ältere Menschen ihrer Autonomie, ihrer Sicherheit, ja sogar ihrer Wohnung beraubt werden, verstehen wir, dass die Ambivalenz der heutigen Gesellschaft gegenüber älteren Menschen kein Problem gelegentlicher Notfälle ist, sondern ein Merkmal also eben jener Kultur des Wegwerfens, die die Welt, in der wir leben, vergiftet“.
Die Folgen seien fatal. Das Alter verliere nicht nur seine Würde, sondern man zweifle sogar daran, dass es ein Weiterleben verdiene. So seien wir alle versucht, unsere Verletzlichkeit zu verbergen, unsere Krankheit, unser Alter, unser Alter zu verheimlichen, weil wir fürchteten, dass sie das Vorzimmer zum Verlust unserer Würde sei.
„Fragen wir uns“, so der Papst wieder eindringlich: „ist es menschlich, dieses Gefühl hervorzurufen? Wie kommt es, dass sich die moderne Zivilisation, die so fortschrittlich und effizient ist, so wenig mit Krankheit und Alter anfreunden kann? Und wie kommt es, dass die Politik, die sich so sehr dafür einsetzt, die Grenzen eines menschenwürdigen Überlebens zu definieren, gleichzeitig für die Würde eines liebevollen Zusammenlebens mit alten und kranken Menschen unempfänglich ist?“,
Der Gläubige erkenne darüber hinaus, dass er sich auf den verlassen könne, von dem letztlich alles abhänge: auf Gott. Mit dem Psalmisten dürfe er beten: „Du bist mein Fels und meine Festung. Du bist meine Hoffnung, meine starke Zuflucht“ (vgl. V. 3-7).
In der Tat sollten sich dann diejenigen schämen, die die Schwäche von Krankheit und Alter ausnutzen. Das Gebet erneuere im Herzen des älteren Menschen die Verheißung der Treue und des Segens Gottes. Der ältere Mensch entdecke das Gebet wieder und lege Zeugnis von seiner Kraft ab. In den Evangelien weise Jesus das Gebet derer, die Hilfe brauchen, niemals zurück. Die älteren Menschen könnten aufgrund ihrer Schwäche die Menschen in anderen Lebensabschnitten lehren, dass wir uns alle dem Herrn hingeben und seine Hilfe in Anspruch nehmen müssten. In diesem Sinne müssten wir alle vom Alter lernen: „ja, es ist ein Geschenk, alt zu sein, verstanden als Hingabe an die Fürsorge der anderen, angefangen bei Gott selbst“.
Es gebe also ein „Lehramt der Gebrechlichkeit“, das uns das Alter für die gesamte Dauer des menschlichen Lebens glaubwürdig in Erinnerung rufen könne. Dieses Lehramt eröffne einen entscheidenden Horizont für die Reform unserer eigenen Zivilisation. Eine Reform, „die heute für das Zusammenleben aller unerlässlich ist. Die begriffliche und praktische Ausgrenzung des Alters korrumpiert alle Lebensabschnitte, nicht nur den des Alters: „möge der Herr den älteren Menschen, die Teil der Kirche sind, die Großzügigkeit dieser Aufforderung und Provokation schenken. Zum Wohle aller!“.
Die Pilger und Besucher sowie die Zuschauer und Zuhörer aus dem deutschen Sprachraum grüßte der Heilige Vater mit den folgenden Worten:
Liebe Pilger deutscher Sprache, der Heilige Geist, um den wir in diesen Tagen vor Pfingsten besonders bitten, schenke uns die Gesinnung Jesu und stärke uns in der Wahrheit und in der Liebe. Herr, sende aus deinen Geist und das Antlitz der Erde wird neu!
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