Die Kevelaer-Katastrophe. Ist die Wallfahrt noch zu retten?

7. Juni 2022 in Kommentar


Es kann dem Herzen Jesu nicht gefallen, da er selber Marienverehrer ist, wir sind es mit ihm, die Mutter Jesu als unsere Mutter in den Schatten zu stellen - Kommentar zu Pfingsten von Franz Norbert Otterbeck


Köln (kath.net)

"Maria dich lieben, ist allzeit mein Sinn; dir wurde die Fülle der Gnaden verliehn: du Jungfrau, auf dich hat der Geist sich gesenkt; du Mutter hast uns den Erlöser geschenkt." So sangen wir katholische Christen von Herzen. Uns allen fallen sofort viele, viele andere Marienlieder ein. Wer in Kevelaer am Niederrhein aufgewachsen war, der kannte sie auch, wenn er nicht fromm war; zumindest ihre Melodien. Denn die vielen Prozessionen zur Mutter des Erlösers prägten das Stadtbild von Frühjahr bis Herbst, in Resten auch heute. Aber wie lange noch?

Auf kath.net wurde diese Sorge einige Male angesprochen, mit immer noch abwägenden Kommentaren. Manchmal allzu provokativ verfasst, aber im Fazit doch milde urteilend. Allerdings trifft die Legende seit jeher nicht zu, dass 'sachliche Kritik' bei Kirchen's jederzeit willkommen sei. Denn man definiert hierarchisch: Die Grenzen der "Sachlichkeit" will der höhere Adressat selber bestimmen. Jede Kritik muss so formuliert werden, dass sie höheren Orts leicht vom Tisch gewischt werden kann. Wo das nicht gelingt, da wird die Person ausgegrenzt. Es sei denn, sie bediente sich lediglich aus dem Katalog deutsch-diözesan vorformulierter, inzwischen sakrosankter 'Kritik' im Sinne der "Synodalforen" 1-4. Was in den Fünfzigerjahren noch einigen Vorläufern des Konzils widerfuhr, das erleben heute in Deutschland die Wenigen, die sich an das Vatikanum II in allen Teilen gebunden fühlen: an seine Lehre vom bischöflichen und päpstlichen Lehramt, an seine Aussagen zur Offenbarung und zur Liturgie, seine Worte über Familie und Elternschaft, zum Priestertum und Zölibat, zu den Ständen in der Kirche, zum pilgernden Gottesvolk und nicht zuletzt: gebunden auch an die konziliare Mariologie ('Lumen gentium', Kapitel VIII), die 1964 der hl. Papst Paul VI. treffend in den Begriff brachte, Maria sei die Mutter der Kirche. Ein Buch des in Kevelaer verstorbenen Lehrers Hanswerner Reißner über die Marienwallfahrt trug dementsprechend den Titel: "Wir ziehen zur Mutter der Kirche". Das Bistum Münster hätte gut daran getan, in den jüngsten Jahren mit eindeutigen Leitworten dieser Art seine Rest-Wallfahrten besser zu begleiten, anstatt etwa 2022 nur mit: "Himmel(plus)Erde berühren" (in den Vorjahren war die Mottopolitik kaum besser). Auf den Mottokerzen erscheint das "plus" als blassblaues Kreuzchen. Der Werbegrafiker wird seinen Spaß gehabt haben. Vielleicht ein Blaukreuzler? Das Kreuz Christi war eine blutige Angelegenheit, was auf fast jeder Osterkerze farblich noch nachzuvollziehen ist. Aber man verwässert das luftige Kreuzchen gern. Denn Evangelium, das ist für die Sakralbonzen ja Inspiration zum Lebensgenuss. Himmel und Bauchfett berühren! Für die "Erdarbeiten" hat man doch Personal.

Die Bauarbeiten schreiten auf dem Kapellenplatz in Kevelaer lustig voran (siehe Foto). Ich geriet vorige Tage als Zaungast in eine werktägliche Pilgerandacht. Die Predigt bedarf keiner Erwähnung. Es hielt sie ein Laienvorbeter. In seiner Begrüßung kommentierte derselbe den Baustaub entschuldigend mit den Worten: "Wir putzen uns heraus". Eine völlig harmlose Bemerkung, aber überaus signifikant für die ekklesial grassierende, kommunikative Blockade. Es ist einfach nicht mehr möglich, die Dinge, auch belanglose, einfach geradeheraus beim Namen zu nennen. Jedes triste Faktum muss mit einem "Dreh" bepackt werden, sozusagen eschatologisch eingefangen. Der Ausblick auf den zukünftigen 'Herausputz' soll über den gegenwärtigen Hausputz hinwegtrösten. Herausputz für wen?

Die soeben erwähnte Kritik an der bischöflich-münster'schen 'Kevelaerpolitik' (oder wer auch immer sie tatsächlich bestimmt) fand übrigens seitens der so gen. Leitungsebene des immer noch so gen. Priesterhauses eine äußerst harsche Gegenkritik, die mich nur auf Umwegen erreichte. Sie zeugt weder von Gelassenheit noch von Souveränität. Ein Hauch von Panik liegt über dem heiligen Ort. Mit Gründen? Ich habe auf diese Gegenkritik hin, die, wie so oft beim hiesigen Klerus, "ad personam" zielt und keine Argumente kennt, mir das Geschehen vor Ort noch etwas gründlicher angesehen. Man will ja niemandem Unrecht tun.  Tatsächlich: Die Besucherzahlen scheinen sich etwas zu erholen, wenn man Beter und Touristen addiert. Ein Teil der Aufmerksamkeit gilt allerdings inzwischen dem Gradierwerk, dem Solegarten an der Westkante der Noch-Wallfahrtsstadt. Dort hielt auch Hendrik Wüst am 7. Mai seine beachtliche CDU-Veranstaltung ab, nicht mehr in der Innenstadt. Neue Schwerpunkte darf es geben. Doch der aktuelle Kontrast zwischen der Baustelle im alten Zentrum und der Ruhmeshalle neuerer Art fällt auf.

Die Entwicklungen sind langfristig und nur teilweise von den handelnden Personen zu verantworten. Das heißt aber leider nicht, dass alle immer guter Absicht sind. Es wird auch viel Wirbel gemacht, der zumindest als "selbstreferenziell" zu erleben war. Inzwischen erscheint auch die bedeutende Ära des Wallfahrtspastors Schulte Staade (1975-2006), von mir komplett erlebt, vom Zwielicht der nahenden Abenddämmerung mitgeprägt. Teilweise war sie bereits eine letzte, große Illusion, wenn auch mit Höhepunkten beglückt, die nicht mehr wiederkehren: Papstbesuch und Marienkongress 1987, das Jubiläum 1992. Seither geht es allmählich bergab. Es gab immer nur einige, zu wenige inspirierte Beter unter den Bürgern der Marienstadt, zu wenige, um die "Fackel der Tradition" einer jüngeren Generation anzuvertrauen, die nicht mehr vorhanden ist. Diese objektiven Defizite lassen sich nicht mit kreativem Aktionismus oder vollmundiger Ankündigung neuer Horizonte kompensieren. Man muss die eher düstere Zukunftsprognose also erst einmal aushalten. Widerspruch ist aber unerwünscht. Man bleibt selbstzufrieden. Denn Kompetenz ergibt sich bekanntlich aus Zuständigkeit.

Mein Eindruck, ohne Anspruch auf Unfehlbarkeit: "Konkursverwalter" Kauling kann es nicht. Beispiel: Der Domherr und Wallfahrtsleiter empfing neulich einen seit über 40 Jahren engagierten Kevelaer-Experten. Dieser interessierte sich für Heilungswunder am Gnadenort aus jüngerer Zeit. Es gibt Berichte darüber. Derselbe darf sie nicht lesen. Er erfuhr auch keine Namen. Datenschutz! Nur ganz intern ist man gern indiskret? Hier war doch jeder Missbrauch auszuschließen. Soll man also aus Gründen des Datenschutzes lieber den Kapellenplatz einfach ganz zusperren? Maria, breit' den Mantel aus: Mach' Datenschutz für uns daraus?

Mein Eindruck: Hier ist kein Trick zu billig, um die Frage nach der Übernatur, nach dem Gnadenerweis auszublenden. Denn die bis vor kurzem in Geltung befindliche Theologie ist unbequem. Sie traut Gott nämlich Wunder zu und der Mutter der Kirche die "Fürsprache". Wenn ich von einem Gnadenerweis berichten würde, würde ich denn dann heutzutage in die Psychatrie überstellt? Auch weit diesseits eines "Religionswahns", den es ja geben kann?  "Gott heute" ist ein Abstraktum. Es liebt alle gleich, indem es niemandem etwas Besonders gibt. Keine Gnade, sondern nur Talente? Die sind auch ungleich verteilt! Das Problem bleibt. Doch das bloße Gefühl seliger Gott"innig"keit hat auch keine Mutter nötig. Es ist als eine esoterische Mutmaßung zu begreifen, die dürftige Lyrik hervorsprudeln lässt, manchmal auch brillante. "Pilger" sind wir, indem wir uns von einem Narrativ zum andern durch die an sich trostlose Geschichte mühen, die jedem nur das Totenbett bereitet. Manchmal kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Das ist dann mitunter noch eine kümmerliche "Botschaft des Evangeliums", dessen tatsächliche Erdung in der wirklichen Geschichte aber nicht mehr als solche behauptet wird: Jesus, als eine große Erzählung, darf mutterlos bleiben. Christus allerdings, der wirkliche Erlöser, realpräsent in Seiner Kirche, hat eine Mutter, die wir kennen und immer wieder wiedererkennen. Denn sie spricht für uns. Wenn auch mit jedem anders.

Gott liebt diese Welt. Aber jeden einzelnen Menschen auf eine höchstpersönliche Weise. Das nannte man früher "Plan Gottes". Wie sich dieser mit dem freien Willen verträgt, gehört zu den unlösbaren Fragen, bis zur Wiederkunft des Herrn. Beides stimmt. Gnade und Freiheit. Zum verborgenen "System" eines mystischen Ausgleichs unter den Seelen gehört, gottgewollt, die Interzession der Heiligen hinzu, der begnadeten Menschen zugunsten der größeren Sünder, allen voran: insbesondere die Fürsprache der immerwährenden Jungfrau und Gottesmutter Maria, hier: als Trösterin der Betrübten.  Der bereits erwähnte, seit 2017 in Kevelaer tätige "Chefideologe" neuen, laikalen Typs hat in der Bistumszeitung allerdings 2020 schonmal die Schlagzeile zur Welt gebracht: "Die Trösterin ist doch unser Kapital!" Eine erschreckend ehrliche, zugleich aber auch ein wenig niederträchtige Zuspitzung.

 

Arbeitet das Kapital? Bringt es Zinsen? Nicht jedem. Die Wallfahrt hat Kevelaer auch Wohlfahrt gebracht. Aber diese Rendite sinkt. Und was den Trost in der Betrübnis betrifft, da kneifen die Offiziellen vor dem Problem, dass dieser auch ausbleiben kann. Auch wenn alle Gebete erhört werden, bestellt der Christ bei Gott nicht wie beim Pizza-Service. Margherita, Funghi, Diavolo? Gott ist Gott, der Herr ist der Herr. Mitunter hat er anderes mit mir vor und ich erkenne noch nicht, dass das für mich besser ist, in seinem Licht. Da beginnt die Religion: Das erst ist Trost "in" der Betrübnis, wenn 'Sein Wille' geschieht, nicht meiner. Aber auch dann ist die Trösterin aller Gnaden dem bangen Herzen nicht fern, keinem einzigen. Das allerdings ist eine Religion, die den mal mehr nationalen, mal mehr sozialistischen 'Deutschen Christen' nicht schmeckt, deren Hoffart zum Himmel reiten will, aus eigener Kraft, gnadenlos. "Das haben wir uns verdient!" 

Wenn also der Heilige Geist "und wir" beschlossen haben, die Wallfahrt nach Kevelaer allmählich auslaufen zu lassen, dann wird der Herr neue Quellorte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aufsprudeln lassen, die seinem Herzen mehr Ehre erweisen. Denn es kann dem Herzen Jesu nicht gefallen, da er selber Marienverehrer ist, wir sind es mit ihm, die Mutter Jesu als unsere Mutter in den Schatten zu stellen, als sei sie eine ausgediente Schießbudenfigur "überwundener" theologischer Epochen. Mater Dei: memento mei. Doch das Marienlied des 'Synodalen Wegs' lautet wahrscheinlich: "Maria, Dich lieben, hat gar keinen Sinn. Dir wurde vom Himmel rein gar nichts verliehen. Die Geistkraft hat Dich in der Jugend erfasst, drum lehre uns Aufstand im Erdenmorast." Gott sei Dank berührt von dort aber niemand mehr Himmel oder Erde poetisch. Ein Werbetexter würde das hier angerissene Problem vielleicht so zusammenfassen: "You can't run a Shrine without real holy shine." Ohne echt heiligen Glanz kannst Du ein Heiligtum nicht führen. Oder prosaischer gesagt: Wer die überlieferte Mariologie ausklammert und sie unerläutert neben dem "mystischen Phänonem" auf sich beruhen lässt, der kann in diesen Tagen keine Marienwallfahrt mehr beflügeln. Denn der "anthropologische Ansatz" allein genügt nicht. Es liegt ein höheres Lied über allen Dingen, die da träumen fort und fort! Davon erzählte auch Kevelaer. Wie lange noch?

 

Foto: (c) FN Otterbeck


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