„Es gibt legitim nur einen Papst und der heißt Franziskus“

8. Juni 2022 in Kommentar


„Durch den Rücktritt des Papstes Benedikt ist eine Spannung in das petrinische Prinzip der Einheit des Glaubens und der Gemeinschaft der Kirche hineingelangt, die geschichtlich keine Parallele hat.“ Von Gerhard Card. Müller


Vatikan (kath.net) kath.net dokumentiert die Worte des emeritierten Präfekten der Glaubenskongregation, Gerhard Kardinal Müller, zur Präsentation des Buches „Benedetto XVI nove anni di papato-ombra“ von Massimo Franco (Milano 2022). Franco ist ein renommierter italienischer Journalist und Buchautor, er schreibt für den Corriere della Sera und internationale Medien wie den britischen „Guardian“. kath.net dankt S.E. Kardinal Müller für die freundliche Erlaubnis, seine Worte zur Buchpräsentation zu veröffentlichen.

Niemand wird das neue Buch von Massimo Franco als ein Libretto abwerten können, wie es Dario Viganò, dem damaligen Präfekten des vatikanischen Dikasteriums für die Kommunikation, passierte, als er die Zustimmung von Benedikt XVI. vorspiegelte zu einen Panegyrikus auf das „Neue Paradigma“ seines Nachfolgers, dem die Medien mit dem Nimbus des „großen Reformers“ versahen (S. 91).

Wir haben es vielmehr mit einem echten Sach-Buch zu tun, das nicht eine Person propagandistisch promotet, sondern sich dem theologisch kirchensoziologisch und psychologisch unbewältigten Problem der Ko-Existenz zweier Päpste in der katholischen Kirche widmet.

Dass der Verfasser gerade mich gebeten hat, bei der Vorstellung seines hervorragend recherchierten Buches mit einer detaillierten Kenntnis der dramatischen Ereignisse der letzten neun Jahre mitzuwirken, ehrt mich zwar, setzt mich aber auch einem gewissen Risiko aus, von zwei Seiten missverstanden zu werden. Immerhin ist in dem Buch von 250 Seiten von meiner Position zwischen den kirchlichen Brennpunkten „Santa Marta“ und dem „Monasterium Mater ecclesiae“ am meisten die Rede. Denn ich passe genau ins Erzähl-Schema, insofern ich als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre von Papa Ratzinger berufen und von Papa Franziskus nach der ersten abgelaufenen Amtsperiode von fünf Jahren abrupt abberufen wurde. Seither werde ich nach der Logik politischer Machtspiele entweder als Haupt der Opposition gegen den einen oder als letzter Hort der Orthodoxie im Sinne des anderen gehandelt oder auch zu instrumentalisieren versucht.

Doch die effektive und affektive Verbindung jedes Bischofs mit dem Papst ist nicht zu verwechseln mit der berechnenden Servilität an Fürstenhöfen. Der apostolische Freimut, mit dem Paulus dem Mitapostel Petrus wegen der „Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,14) einst entgegengetreten ist, hat den Paulus weder zum Leugner des petrinischen Primates gemacht nach Petrus daran gehindert, demütig seine unklare Haltung zu korrigieren. So legte bekanntlich der hl. Augustinus (ep. 82) im Austausch mit dem hl. Hieronymus die berühmte Stelle im Galaterbrief aus. (Vgl. Johann Adam Möhler, Hieronymus und Augustinus im Streit über Gal. 2, 14: ders., Gesammelte Schriften und Aufsätze I, hg. v. Ign. Döllinger, Regensburg 1839, 1-18).

Nach dem Schema einer innerweltlichen Psychologie können viele nicht glauben, dass man aus Liebe zu Christus seine menschlichen Enttäuschungen über seine Repräsentanten nicht auch an seiner Kirche selbst auslassen wird. Der große Kardinal Roberto Bellarmin (1542- 1621) ist trotz seiner zweimaligen Entfernung vom päpstlichen Hof als „persona non grata“ nicht müde geworden, die sichtbare katholische Kirche und das Papsttum als göttliche Stiftung gegen ihre damals mächtigsten Widersacher im Protestantismus zu verteidigen. Ein gläubiger Katholik kann sich niemals wünschen, dass ein Pontifikat scheitert oder ein Papst, der in höchster Verantwortung die Kirche in seiner Person trotz aller menschlichen Schwächen verkörpert, zum Gegenstand von Polemik, Streit und Spaltung wird.

Die Kirche ist eine göttliche Stiftung und im Gott-Menschen Jesus Christus deshalb gott-menschlich, d.h. sakramental verfasst. Sie ist darum in ihrer Lehre unfehlbar, in den sakramentalen Gnadenmitteln objektiv heilsvermittelnd und in ihrer wesentlichen Verfassung göttlichen Rechtes. Aber in ihren Menschen - vom einfachen Laien bis zum höchsten Amtsträger angefangen bei Simon, den Jesus zum Petrus und Felsengrund seiner Kirche - gibt es alles Gemeine, Niedrige und Erbärmliche, was uns zu Sündern macht, die der Vergebung bedürfen. Letztlich müssen wir unsere Sache dem Herrn anvertrauen, vor dem sich jeder Einzelne für all sein Tun und Lassen verantworten muss.

Gegen alle gekünstelten Theorien und aufgeschaukelten Aversionen ist die Feststellung einwandfrei und unwiderlegbar: Es gibt legitim nur einen Papst und der heißt Franziskus. Wer Papst war, ob lebendig oder tot, ist es nicht mehr, wenn ihm auch alle Dankbarkeit und persönliche Verehrung zustehen.

Dem sichtbaren einzigen Haupt der Kirche schuldet jeder Katholik den „religiösen Gehorsam des Willens und des Verstandes“ in seiner Lehrautorität und in seinen Urteilen über Glaubensfragen eine „aufrichtige Anhänglichkeit“, so wie ihm auch als dem Vater der Christenheit die echte Liebe seiner Söhne und Brüder im Glauben gebührt (vgl. Lumen gentium 25).

Durch den Rücktritt des Papstes Benedikt 2013 ist eine Spannung in das petrinische Prinzip der Einheit des Glaubens und der Gemeinschaft der Kirche hineingelangt, die geschichtlich keine Parallele hat und dogmatisch bisher nicht aufgearbeitet ist. Die Normen des Kirchenrechtes genügen hier keineswegs und noch weniger die Kniffe der Diplomatie. Das konkrete Nebeneinander ist kaum zu bewältigen ohne dass nicht der vergleichende Blick, das Sprechen und Schweigen von der einen oder anderen Seite in eine dialektische Beziehung gesetzt werden kann.

Allein schon die Tatsachen der räumlichen Nähe, der medialen Aufmerksamkeit und die Länge der parallelen Lebenszeit stellen den amtierenden und den gewesenen Papst vor große menschliche Herausforderungen bei der Bewältigung der beispiellosen Situation. Die radikalen Forderungen blinder Eiferer auf Seiten der Franziskus-Freunde oder der Benedikt-Anhänger sind weder dogmatisch tragbar, noch kirchenrechtlich umsetzbar. Sie lassen oft die Grundregeln des menschlichen Anstandes geschweige denn die Gebote christlicher Liebe vermissen.

Massimo Franco beschreibt die schillernden Ereignisse um Harmonie und Disharmonie zwischen Santa Marta und dem Monastero, die von den jeweiligen Lobbies erfunden, befeuert und instrumentalisiert wurden: Die Wirren um den kontraproduktiven Franziskus-Panegyrikus, den Artikel Benedikts zur Pädokriminalität unter Priestern, ihre Ursachen und ihre Überwindung; die gemeinsame oder differente Stellungnahme von Papst Franziskus und Kardinal Sarah zur Verhinderung der viri probati bei der Amazons-Synode, meine Entlassung als Präfekt und die Ausgrenzung von Erzbischof Georg Gänswein, aber auch die vielen lobenden Worte von Papst Franziskus für seinen Vorgänger bei dessen 65. Priesterjubiläum aber auch den Beistand gegen die rufmörderischen Machenschaften um das Gutachten zum Kindesmissbrauch in seinem ehemaligen Erzbistum München.

Zwar kann nach rein kirchlichem Recht der Papst von Rom frei seinen Rücktritt erklären, was aber unausgeglichen neben der Tatsache steht, dass er nach göttlichem Recht persönlich von Christus, dem unsichtbaren aber wahren Haupt der Kirche, als Nachfolger Petri bestellt ist und zu seinem Stellvertreter im universalen Hirtenamt und dass er als sichtbares Haupt der ganzen Kirche alle geistliche Vollmacht hat, um in Gemeinschaft mit den anderen Bischöfen das Haus des lebendigen Gottes zu leiten. Deshalb ist der Papst niemals nur der von den Bischöfen bestellte Präsident ihrer Versammlung, der nach Ablauf einer Amtszeit oder nach eigenen Gutdünken sich in den wohlverdienten Ruhestand zurückziehen könnte oder sollte.

Das verbietet schon die Sendung und Vollmacht, für Christus Zeugnis zu geben im Wort der Verkündigung bis in den Tod des Martyriums in der Nachfolge des leidenden und gekreuzigten Jesus. Weil der Inhaber der Cathedra Petri „das immerwährende und sichtbare Prinzip und Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft“ (Lumen gentium 18; 23) aller Bischöfe und Gläubigen ist, darum spitzt sich die ekklesiologische Problematik zu, die schon bei dem automatischen Rücktrittsgesuch der Bischöfe bei der Altersgrenze von 75 Jahren gegeben ist. Auch hier wird in eigentümlicher Verkehrung der Verhältnisse das göttliche Recht von den positiven Festlegungen des rein kirchlichen Rechtes begrenzt, verdunkelt und überlagert.

Dennoch mehr als bei einem Bischof, der bei seine Emeritierung Glied des Bischofskollegiums bleibt, ist es problematisch, dass der Papst als dessen Spitze und Prinzip der Einheit, zwar formell durch Rücktritt wieder Glied des Bischofskollegiums wird, aber in der effektiven Erinnerung und affektiven Anhänglichkeit der Gläubigen doch irgendwie der Papst bleibt und so der Eindruck von zwei Päpsten unvermeidlich ist.

Aber allein schon durch sein theologisches Schwergewicht von Joseph Ratzinger als berühmter Theologieprofessor, Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation und Papst, der jahrzehntelang im Mittelpunkt des kirchlichen Lebens und des römischen Lehramtes stand und durch die Beibehaltung sichtbarer päpstlichen „Insignien“ ist besonders unter den Gesetzen einer globalen Mediengesellschaft der Eindruck einer polaren Doppelspitze der katholischen Kirche entstanden. Und das, obwohl doch als einzige unter allen dezentral verfassten christlichen Gemeinschaften, in der katholischen Kirche der Papst das für alle sichtbare Prinzip der weltweiten Einheit ist. Irgendwie werden die beiden Protagonisten auch wider Willen zum Anziehungspunkt für Katholiken unterschiedlicher geistlicher und theologischer und Orientierung oder auch nur menschlicher Sympathien. Im schlechtesten Fall werden sie zu Identifikationsfiguren sich widerstreitender Flügel und Fraktionen. Der Dienst des Papstes an der Einheit der Kirche könnte sich in sein Gegenteil verkehren.

Aber auch wer sich pragmatisch mit den Tatsachen abfindet und ihnen normative Kraft zugesteht, kann - das ist der Schluss aus den neun Jahren der Ko-Existenz eines einzigen Papstes und seines Vorgängers als papa emeritus- den Rücktritt eines Papstes aus Alters- und Gesundheitsgründen keineswegs zum Normalfall erklären. Es muss die strengste Ausnahme bleiben und darf dann nur ausschließlich zum Wohl der Kirche ins Auge gefasst werden. Das bonum ecclesiae ist dabei aber nicht mit den Kategorien weltlicher Berufe zu interpretieren, sondern im Hinblick auf das Zeugnis für Christus, das den Apostel und ihren Nachfolgern anvertraut ist bis zum Tode.

Was die Kardinäle mit Blick auf das Konklave bewegen sollte, ist eine klare Theologie des Bischofsamtes und des Papsttums im katholischen Sinne. Die Motive der Wahl können nicht bloß reaktiv sein. „Entweder wir wählen einmal einen, der mit der korrupten Kurie aufräumt oder der das lateinamerikanische Chaos beseitigt“, wie Massimo Franco am Ende cum grano salis resümiert: „Und die Geschichte dieser Jahre der ‚zwei Päpste‘ wird nicht nur das Problem der Regelung des Rücktritts aufwerfen, sondern auch eine Rückwirkung haben, die zur Überprüfung der „Macht“ eines Papstes drängt. Wenn das Konklave von 2013 das des Angriffs auf eine „italienische“ Kurie und ihr Establishment war, das Benedikts Rücktritt verursacht hatte, wird das nächste, wenn es eröffnet wird, wahrscheinlich ein Konklave sein gegen das Vakuum der Regierung, visionäre und prophetische Reformen, gegen die Verwirrung und die freundschaftsnepotistische, jesuitische und lateinamerikanische Logik von Casa Santa Marta. Das kuriale Modell Benedikts ist gescheitert, aber auch die Parallelkurie von Franziskus vermittelt ein Bild von Chaos und Willkür. Und deshalb wird das Thema sein, beide Erfahrungen kritisch zu analysieren.“ (S. 261f). Gefährlich sind die sekundären Kriterien oder nationale und ideologische Eigeninteressen. Parolen, wie: „jetzt muss mal wieder ein Italiener dran“ oder „jetzt wäre Asien dran“ oder „die Kirche hat noch nie einen schwarzen Papst gehabt“ klingen wie Parolen auf dem Pausenhof und haben wenig zu tun mit der überragenden Bedeutung des Papsttums für die „Wahrheit des Evangeliums“ und die „Einheit der Kirche“. Absurd ist das Gerede „es muss einer von unserer Richtung sein“ oder: die Gruppe von Sankt Gallen, die Jesuiten oder Sant’Ägidio wissen am ehesten, wie die Kirche der Zukunft aussehen soll. Es geht nicht darum, den eigenen Kandidaten nach menschlichen Vorstellungen durchzusetzen in der falschen Meinung, wir könnten die „Kirche machen“ oder „ihr eine Zukunft geben“ nach dem veränderlichen und wankelmütigen Menschenmaß.

Bei der Wahl zwischen den beiden Kandidaten Matthias und Joseph Barsabbas für das Apostelamt gab es nur das Kriterium, dass sie mit den Aposteln zusammen waren von der Zeit des öffentlichen Auftretens Jesu bis zu seiner Himmelfahrt, damit der Erwählte Zeuge der Auferstehung Jesu sein kann. Sie beteten zusammen und sprachen: „Du, Herr kennst die Herzen aller; zeige, wen von diesen beiden du erwählt hast.“ (Apg 1, 24).

Die Kriterien formuliert vielmehr Christus der Herr seiner Kirche selbst. Er legt sie den Kardinälen als den Vertretern der Heiligen Römischen Kirche vor, die ihren Bischof wählt, den Nachfolger des hl. Petrus. Petrus eint die Kirche im Bekenntnis zu Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes (Mt 16,16). Zu Simon Petrus sagte der Herr vor seinem heilbringenden Leiden: Stärke deine Brüder im Glauben (Lk 22, 32). Und der auferstandene Herr überträgt dem Papst wie einst Petrus am See Tiberias die Hirtensorge für die universale Kirche mit dreimal widerholten Auftrag: Weide meine Lämmer, weide meine Schafe, weide meine Schafe (Joh 21, 15-17).

Trotz aller menschlichen Mängel und Fehler der Päpste der Vergangenheit und Zukunft, die ihnen als armen Sündern bis zum Tod anhaften werden, können wir gerade hier in Rom und Italien dankbar sein, dass Gott diese Erde gewürdigt hat, Sitz der Cathedra Petri zu sein bis zur Vollendung der Welt.

Dass Sie, werter Massimo Franco, uns mit Ihrem Buch durch die aufregenden und anregenden letzten neun Jahre des römischen Papsttums geführt und Orientierung geboten haben, dafür gebührt Ihnen Dank und Anerkennung.

Archivfoto Kardinal Müller (c) Bistum Regensburg


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