17. Juni 2022 in Spirituelles
„Durch innerweltliches Denken kann die Wahrheit des offenbarten Glaubens weder bewiesen noch widerlegt werden. Die Kirche weiß, dass wir ohne das Evangelium Christi verloren sind.“ Predigt in Oxford/Oriel College. Von Kardinal Gerhard L. Müller
Oxford-Vatikan (kath.net/pl) kath.net dokumentiert die Predigt des emeritierten Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, am 12.6.2022 in Oxford (Großbritannien) am Oriel College in voller Länge und dankt S.E. für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung – © für die Rückübersetzung aus dem Englischen: kath.net
Liebe Brüder und Schwestern in „Jesus dem Christus, dem Sohn Gottes“ (Mk 1,1).
Als Katholiken verbinden wir unser Wohlwollen allen Menschen gegenüber mit der wunderbaren Erfahrung, dass im Licht Gottes alle Dinge – Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges – einen Sinn haben. Wenn das Opfer Christi für das Heil der Welt in der Messe gegenwärtig wird, sagen wir „Dank Gott, dem Vater, allezeit für alles, im Namen unseres Herrn Jesus Christus“ (Eph 5,20). Wir danken Gott dafür, dass er die Welt erschaffen hat und uns alles gegeben hat, was wir brauchen. Wir danken ihm, dass Christus für uns Mensch geworden ist und dass er uns seinen Heiligen Geist gesandt hat. Wir danken ihm für die Kirche, die unsere Mutter im Glauben geworden ist: Sie ist der Leib Christi, in den wir durch Taufe und das Bekenntnis des katholischen Glaubens eingegliedert sind. Wir danken ihm für unsere Familien, in denen wir aufwachsen durften, und für unsere Freunde, die unsere treuen Begleiter durchs Leben sind. Und wenn Gott uns zur Ehe berufen hat, danken wir ihm für unseren Mann oder unsere Frau und für die Kinder, die wir lieben, denn sie sind Gottes Geschenk an ihre Eltern.
Als Christen haben wir ein musikalisches Lebensgefühl: In unseren Herzen widerhallt der Dankgesang der Erlösten. Seine Melodie ist Liebe, und seine Harmonie ist Freude an Gott. Wir glauben nicht an den oberflächlichen Optimismus des Schicksals, von dem wir hoffen, dass es uns gnädig bleibt. Niemand wird von den Leiden dieser Welt verschont bleiben, und jeder muss sein Kreuz tragen. Stattdessen setzt ein Christ in Arbeit und Freizeit, in Glück und Schmerz, in Leben und Tod seine ganze Hoffnung auf Christus allein, denn „wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind“ (Röm 8,28). Wie Wasser, das aus einer Quelle sprudelt und zu einem lebendigen Strom wird, der die Wüste zum Blühen bringen kann, so ist unsere Freude an Gott die Saat auf dem Feld unseres Lebens, die hundertfache Frucht bringt. Anbetung Gottes im Geiste Christi ist dies: „dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer geistiger Gottesdienst“ (Röm 12,1). Nach dem Beispiel Christi, der sein Leben auf dem Altar des Kreuzes gab, ist unser Leben ein Opfer für Gott. Aber derselbe Christus hat durch seine Auferstehung auch uns die Tür zum ewigen Leben geöffnet. Das ist unser Glaube.
Heute jedoch sind viele Christen besorgt und besorgt: Passt das Christentum angesichts der Krise der althergebrachten christlichen Gesellschaften im Westen, und angesichts der Skandale in der Kirche noch in unsere Zeit? Wankt der Felsen, auf dem Jesus seine Kirche gebaut hat?
Die Krise in der Kirche ist menschengemacht und ist entstanden, weil wir uns behaglich an den Geist eines Lebens ohne Gott angepasst haben. Es gibt keinen Mangel an Gottes Gnade, sondern nur einen Mangel an unserer angemessenen Antwort. Deshalb sind in unseren Herzen so viele Dinge unerlöst und sehnen sich nach Ersatzbefriedigung!
Aber wer glaubt, braucht keine Ideologie. Wer hofft, greift nicht zu Betäubungsmitteln gegen den Nihilismus in seinem Herzen.
Wer liebt, ist nicht hinter der Lust dieser Welt her, die mit der Welt vergeht. Wer Gott und den Nächsten liebt, findet Glück im Opfer der Selbsthingabe. Glücklich und frei werden wir sein, wenn wir im Geiste der Liebe die Lebensform annehmen, zu der Gott jeden von uns persönlich berufen hat: im Sakrament der Ehe, im ehelosen Priestertum oder im Ordensleben nach den drei evangelischen Räten der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit um des Himmelreiches willen.
Ich möchte an eine berühmte Weihnachtspredigt des hl. Leo des Großen erinnern. Inmitten von Völkerwanderung und Ordnungsauflösung, inmitten des Zerfalls des Römischen Reiches, spricht der heilige Papst Leo über den persönlichen Glauben eines jeden Katholiken. Mit seinen Worten möchte ich heute jeden Katholiken ansprechen, der in der gegenwärtigen Krise der Kirche verunsichert ist: „Erkenne, o Christ, deine Würde! Kehre nicht, nachdem du der göttlichen Natur teilhaftig geworden, durch entartete Sitten zur alten Niedrigkeit zurück! Denke daran, welchen Hauptes, welchen Leibes Glied du bist! Vergegenwärtige dir, daß du der Macht der Finsternis entrissen und in Gottes lichtvolles Reich versetzt worden bist! Durch das Sakrament der Taufe wurdest du zu einem Tempel des Heiligen Geistes. Vertreibe nicht durch schlechte Handlungen einen so hohen Gast aus deinem Herzen!“ (Predigt 21,3).
Wir können dem tödlichen Gift der Schlange nicht entkommen, wenn wir uns mit ihr anfreunden, sondern nur, wenn wir umsichtig Abstand halten und das Gegenmittel griffbereit haben. Das Gift, das die Kirche lähmt, ist die Meinung, wir sollten uns dem „Zeitgeist“ anpassen, Gottes Gebote relativieren und die Glaubenslehre neu interpretieren. „Die Kirche des lebendigen Gottes“ ist „Säule und Fundament der Wahrheit“ (1Tim 3,15), aber heute möchten manche Menschen sie als bequeme Zivilreligion rekonstruieren. Eine postchristliche Gesellschaft und antichristliche Meinungsmacher in den Mainstream-Medien billigen eine solche Selbstsäkularisierung. Aber das bedeutet keineswegs, dass sie den Glauben an Jesus Christus akzeptieren, ganz zu schweigen davon, dass einige kirchliche Autoritäten darüber in Verwirrung fallen. Menschen, die rund um den Vatikan lauern und versuchen, den Papst für ihre Agenda zu Klimawandel und Bevölkerungskontrolle zu instrumentalisieren, kommen der Kirche nicht näher, sondern nur diejenigen, die gemeinsam mit Petrus auf Jesus schauen und bekennen: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16).
Das Gegenmittel gegen die Säkularisierung der Kirche ist die „Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,14) und das Leben „im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ Gal 2,20).
Heute lautet das Zauberwort der Versucher „notwendige Modernisierung“. Folglich wird jeder, der sich dieser Ideologie widersetzt, wie ein Feind bekämpft und beschuldigt, ein Traditionalist zu sein. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel für diese perverse Logik geben: Der Schutz des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod wird als „konservative“, „rechte“ politische Position diskreditiert – während gleichzeitig das Töten unschuldiger ungeborener Kinder als „ Menschenrecht“ und daher als „fortschrittlich“ gelten. In Politik und Medien geht es um die Macht über den menschlichen Verstand und über das Geld in den Taschen der Menschen. Dazu werden Menschen mit Wahlkampfslogans wie „konservativ“ oder „modern“ konditioniert. Aber beim Glauben an Gott geht es um den Gegensatz zwischen wahr und falsch, und bei der Ethik geht es um die Unterscheidung zwischen Gut und Böse.
Für einige hinkt die katholische Kirche im Vergleich zur heutigen Welt um 200 Jahre hinterher. Ist an dieser fragwürdigen Anschuldigung, die sogar von einigen Kirchenführern formuliert wird, etwas Wahres dran? Ein Vorwurf, den rechthaberische Atheisten in ihrer „Schadenfreude“ hämisch wiederholen! Progressive Katholiken ihrerseits spielen die Musterschüler der Aufklärung und versprechen, die Lehren der atheistischen Religionskritik schnell nachzuholen.
Bedeutet „notwendige Modernisierung“, dass die Kirche die historische Offenbarung Gottes in Jesus Christus ablehnen sollte? Kann die Kirche ihrem Fundament und ihrem Gründer treu bleiben, wenn sie zu einer Religion der Menschheit mutiert? Die vermeintlich friedlichen Agnostiker von heute erlauben den einfachen Menschen großzügig, ihre Religion zu behalten, aber sie sind bestrebt, das Bedeutungspotential der Kirche für ihre Zwecke zu nutzen: Sie halten den offenbarten Glauben nicht für wahr, würden ihn aber gerne nutzen als Baumaterial für die neue Religion der Welteinheit. Um in diese internationale Meta-Religion aufgenommen zu werden, müsste die Kirche lediglich ihren Wahrheitsanspruch aufgeben. Keine große Sache, wie es scheint, denn der in unserer Welt ohnehin vorherrschende Relativismus lehnt die Idee ab, dass wir die Wahrheit tatsächlich wissen könnten, und präsentiert sich als Garant des Friedens zwischen allen Religionen und Weltanschauungen. Und in der Tat: Ein Katholizismus ohne Dogmen, ohne Sakramente und ohne unfehlbares Lehramt ist die Fata Morgana, nach der sich sogar etliche Kirchenführer sehnen.
Doch „als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt“ (Gal 4,4), den die Hirten von Bethlehem auffanden als „das Kind, das in der Krippe lag“ (Lk 2,16) – deshalb ist jede Zeit für Gott unmittelbar.
Jesus kann nicht vom Wandel der Zeiten übertrumpft werden, denn Gottes Ewigkeit umfasst alle Epochen der Geschichte und die Biographie eines jeden Menschen. Im konkreten Menschen Jesus von Nazareth ist Gottes universelle Wahrheit hier und jetzt konkret gegenwärtig – in geschichtlicher Zeit und Raum. Jesus Christus ist nicht die Repräsentation einer überzeitlichen Wahrheit: Er ist „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ in Person (Johannes 14,56). Gott „ will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Denn: Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und Menschen: der Mensch Christus Jesus“ (1Tim 2,4f).
Die Kirche geht mit der Zeit in ihren gesellschaftlichen Veränderungen. Und die Theologie formuliert im Dialog mit modernen naturwissenschaftlichen und technischen Weltbildern, wie Glaube und Vernunft vereinbar sind. Glaube ist ein Wissen um Gottes Wahrheit und ein Licht, in dem wir uns selbst und die Welt in ihrem innersten Ursprung und Zweck verstehen. Diese Erkenntnis aber verdanken wir dem Wort Gottes, das „Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat“ (Johannes 1,14).
Durch innerweltliches Denken kann die Wahrheit des offenbarten Glaubens weder bewiesen noch widerlegt werden. Die Kirche weiß, dass wir ohne das Evangelium Christi verloren sind. In ihrem Schoß empfing Maria Gott selbst, der aus ihr geboren wurde: Jesus Christus, der einzige Retter der ganzen Welt. Er allein kann die Welt retten; und ehrlich gesagt möchte ich auch von niemand anderem gerettet werden als von ihm, dem wahren Gott und wahren Menschen. Barmherziger Herr, möge die Mutter der Barmherzigkeit alle Zeiten unseres irdischen Lebens für uns Fürbitte halten, denn durch sie „wurden wir für würdig befunden, den Urheber des Lebens zu empfangen, unseren Herrn Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir lebt und herrscht in der Einheit des Heiligen Geistes, ein Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Amen.
Archivfoto: Kardinal Müller bei einer Predigt in Polen (c) Gerhard Müller/privat
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