„Was nützen denn alle Menschenrechte, wenn nicht zuvor das Grundrecht auf Leben geschützt wird?“

13. Juli 2022 in Prolife


„Nein, es gibt kein Recht auf Abtreibung“ – Das Urteil Roe vs Wade und seine Aufhebung bewegt die Welt. Gastbeitrag von Hartmut Steeb


Washington-Stuttgart (kath.net) Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten (USA) hat Recht gesprochen. Das bewegt die Welt. Weil in der aufgeheizten öffentlichen Debatte nicht selten vergessen wird, um was es damals eigentlich ging, bringe ich zunächst die Sachlage in Erinnerung. Am 22. Januar 1973 hatte der Oberste Gerichtshof aufgrund einer Sammelklage schwangerer Frauen gegen das Abtreibungsverbot in Texas (sie bekam die Bezeichnung „Roe versus Wade“) entschieden: Das Gesetz zum Verbot von Abtreibungen in Texas verletze das Recht der Frauen, über die Fortführung oder Beendigung einer Schwangerschaft selbst zu entscheiden. Dass es ein solches Recht gäbe, hat der Oberste Gerichtshof nun am 24. Juni 2022 verneint und damit das damalige Skandalurteil nach fast 50 Jahren aufgehoben. Das bedeutet nun freilich nicht, dass von jetzt ab Abtreibungen in den USA verboten wären. Nein, es gibt nur den einzelnen Staaten der USA die Möglichkeit, solches zu tun, was ihnen aufgrund jener Entscheidung aus dem Jahr 1973 bisher nicht möglich erschien. Als Folge davon wird nun ein „rechtlicher Flickenteppich“ entstehen, weil die einzelnen Staaten dies sehr unterschiedlich regeln werden. Dabei weise ich zum Verständnis auch darauf hin, dass die USA eben nicht wie die Bundesrepublik Deutschland ein Bundesstaat ist sondern ein Staatenbund, der auch deshalb den einzelnen Staaten viel mehr Freiheit gibt als das bei uns im Land der Fall ist.

Die Aufregung ist in der sogenannten „Pro Choice“-Community groß, weil die sich immer mehr ausbreitende und den Mainstream in der westlichen Welt bestimmende Ideologie einer Selbstbestimmung auch gegen das ungeborene Kind einen kräftigen Dämpfer erhielt. Der berühmteste Repräsentant dieser „Pro Choice“- Bewegung ist der derzeitige US-Präsident Biden. Wie die Tagesschau berichtete, hat er ein Dekret unterzeichnet, das unter anderem den Zugang zu medikamentösen Schwangerschaftsabbrüchen und die medizinische Notfallversorgung für Frauen sicherstellen soll. Außerdem sollen das Justizministerium und die Rechtsabteilung des Weißen Hauses ein Team von Anwälten aufbauen, die unentgeltlich Frauen beraten oder vertreten, die wegen einer Abtreibung in juristische Schwierigkeiten geraten. Er verband dies mit einer harschen Kritik an der "extremen" konservativen Mehrheit der Richter am Obersten Gericht. Firmen haben schon deutlich gemacht, dass sie Frauen künftig zur Abtreibung auch dadurch unterstützen, dass sie Fahrtkosten übernehmen, wenn sie dann wegen der unterschiedlichen Rechtslage weitere Wege auf sich nehmen müssen, um eine Abtreibung zu erhalten. Nachdem der Entwurf des Urteils schon vor der Verkündung durchgesickert war, gab es gewaltsame Proteste und Anschläge auf Einrichtungen der „Pro Life“-Bewegung, die auf diese Revision langfristig so gut es ging hingearbeitet hat und sich natürlich über diese Aufhebung des Fehlurteils freut.

Ich nenne das Urteil von 1973 mit dem jetzigen Obersten Gerichtshof der USA in der Tat ein Fehlurteil. Denn eigentlich sollte doch im Blick auf persönliche Freiheitsrechte sonnenklar sein: Die persönliche Freiheit endet immer dort, wo das Freiheitsrecht anderer eingeschränkt oder gar verhindert wird. Und wo kann dieses eigentlich besser dargelegt werden als am Schwangerschaftskonfliktfall? Ja, eine Schwangerschaft – und das erlaube ich mir auch als Mann zu sagen, dessen Frau häufiger schwanger war und dessen Töchter und Schwiegertöchter auch nicht wenige Schwangerschaften austragen durften – verändert ein Leben. Total. Und natürlich erst recht danach, wenn das Kind geboren wird und – mindestens für einen großen Zeitabschnitt – auch zum Mittelpunkt des familiären Lebens wird. Und natürlich hat jede Frau die absolute Freiheit, Nein zu einer Schwangerschaft zu sagen. Sie muss sich nicht auf die geschlechtliche Gemeinschaft mit einem Mann einlassen. Es darf ihr doch zugemutet werden, ihr Selbstbestimmungsrecht rechtzeitig vorausschauend auszuüben (den Sonderfall der Vergewaltigung, aus der glücklicherweise viel seltener ist als die Medien uns einflüstern eine Schwangerschaft wird, lassen wir jetzt einfach mal außen vor. Das ist ein eigenes Thema).

Eine Schwangerschaft ist nicht nur eine Frage der persönlichen Lebensgestaltung. Durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ist neues menschliches Leben entstanden. Im Laufe der Schwangerschaft entwickelt sich der Mensch nicht erst irgendwann zum Menschen sondern er entwickelt sich als Mensch weiter. Und darum muss der freiheitlichen Selbstbestimmung der Schwangeren die freiheitliche Selbstbestimmung des ungeborenen Kindes gegenüber stehen. Gewiss! Und eine humane Gesellschaft zeigt sich gerade darin, dass sich nicht einfach die Stärkere gegen den Schwächeren durchsetzen darf sondern dass die Gesellschaft, der Rechtsstaat, für den Schwächeren und sein Recht einzutreten hat. Dieses fundamentale Menschenrecht hat der Oberste Gerichtshof der USA 1973 außer Acht gelassen. Fahrlässig, grob fahrlässig oder vorsätzlich? Ein Fehlurteil mit fatalen Folgen. Es hat gewiss Millionen von Menschenleben gekostet, Menschen, die das Licht der Welt nicht erblicken durften.

Auch wenn gewiss am deutschen Wesen nicht die Welt genesen wird: Es wäre wert gewesen, sich die Erkenntnis schon aus dem 18. Jahrhunderts zu Gemüte zu führen. Im Preußischen Landrecht von 1794 standen die wunderbaren Sätze in §§ 10 und 11: "Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungeborenen Kindern schon von der Zeit ihrer Empfängnis…Wer für schon geborene Kinder zu sorgen schuldig ist, der hat gleiche Pflichten in Ansehung der noch im Mutterleibe befindlichen.“ Auch wenn das Preußische Landrecht natürlich nicht in den USA galt: Wer dies übersieht, übergeht, negiert, hat das Wesentliche des Grundrechtsschutzes nicht begriffen. Denn was nützen denn alle Menschenrechte, wenn nicht zuvor das Grundrecht auf Leben geschützt wird?

Wie in einer pubertären Trotzreaktion hat nun das Europäische Parlament auf die Gerichtsentscheidung in den USA reagiert und als Reaktion mehrheitlich am vergangenen Donnerstag eine Resolution verabschiedet, nach der in die Europäische Grundrechtscharta das „Recht auf Abtreibung“ für jeden Menschen hinzugefügt werden soll (die Idee dazu hatte vor Monaten schon der französische Präsident Macron in die Öffentlichkeit posaunt). Zum Glück wird das so schnell nichts werden, weil eine solche Veränderung die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bräuchte. Aber zur Stimmungsmache für ein Recht, dass es nie und nimmer geben darf, eignet sich natürlich ein solcher Beschluss. Aber wenn Menschen über Menschenleben Dritter entscheiden dürfen, dann ist nicht nur das Nein zur Todesstrafe obsolet, auf das die Europäer doch so stolz sind, sondern dann verabschiedet sich der Rechtsstaat aus seiner humanen und christlichen Geschichte und wird zum Unrechtsstaat.

Auch wenn sich Viele ereifert haben über die Justizentscheidung in den USA bleibt doch die Hoffnung, dass diese Entscheidung langfristig auch in Europa und in Deutschland gute Spuren hinterlässt. Der Großteil der Ampelfraktionen und die Linken haben wohl derzeit die Mehrheit im Deutschen Bundestag nach der Aufhebung des Werbeverbots für Abtreibungen nun weiter voranzuschreiten zur Auflösung jeglichen Lebensschutzes vor der Geburt. Wenn der pubertäre Trotz gefallen ist – vielleicht lassen sich doch noch mehr Abgeordnete finden, die dem Menschenrechtsschutz Vorrang gewähren. Nach dem wir im Gegensatz zu 1794 so viel von der vorgeburtlichen Entwicklung des Menschen wissen und im Ultraschall die Entwicklung des Menschen nachverfolgen können, will ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass am Ende wir nicht hinter das Preußische Landrecht zurückfallen. Ora et labora. Lasst uns dafür arbeiten und beten!

Hartmut Steeb war bis zu seiner Pensionierung der Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz. Weitere kath.net-Artikel von und über Hartmut Steeb: siehe Link.


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