Religionssoziologe über Kirchenaustritt wegen des Synodalen Wegs: „Auch diese Gruppe hat Relevanz“

15. Juli 2022 in Deutschland


Prof. Gert Pickel (evangelisch) im „Welt“-Interview: Einige treten aus, weil sie „den Synodalen Weg für eine falsche Liberalisierung“ halten und Reformen befürchteten - Was ist davon zu halten? Einordnung von Petra Lorleberg


Leipzig (kath.net/pl) Man sehe heute eine Veränderung bei den Kirchenaustritten: „Waren Austritte bislang überwiegend durch religiöse Gleichgültigkeit und Distanz zu Kirche und Glauben motiviert, treten jetzt auch Gläubige aus, die bisher zu den Stützen der Gemeinden zählten.“ Die Gründe für Kirchenaustritte bei der römisch-katholischen Kirche in Deutschland sowie den evangelischen Landeskirchen beleuchtete Gert Pickel, Professor für Kirchen- und Religionssoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, im Interview mit Matthias Kamann in der „Welt“. Der Protestant nennt als Grund für Kirchenaustritte aus beiden Kirchen hauptsächlich den Missbrauchsskandal, wobei er dabei schafft, den sexuellen Missbrauch letztlich einseitig bei der katholischen Kirche zu verorten: Vorfälle in den evangelischen Einrichtungen sowie protestantische Aufarbeitungs- und Präventionsbemühungen werden nicht benannt. Als einen weiteren Grund nannte er - wieder intern-katholisch - das, was er als Infragestellung und Torpedierung der Reformbemühungen des Synodalen Wegs durch den Vatikan thematisierte. Soweit eigentlich nichts Neues in der Medienlandschaft. Interessant ist aber dennoch die Frage des Welt-Politikredakteurs Kamann, dass es ja bei den Ausgetretenen „auch andere Stimmen“ gibt, jene nämlich, die „den Synodalen Weg für eine falsche Liberalisierung“ halten und deshalb austräten, weil sie Reformen befürchteten. Pickel erläutert dazu, dass auch diese Gruppe „Relevanz“ habe und antwortete ausführlich darauf.

Im Einzelnen erläutert Pickel dann, dass es, „grob gesprochen“, neben jenen, die aus Gleichgültigkeit austreten, noch zwei weitere Gruppen gibt. Zum einen „Kirchennahe, die Strukturreformen und Gegenwartsorientierung fordern und jetzt austreten, weil das immer wieder blockiert wird“. Der anderen Gruppe verweigert Pickel zwar das - hier letztlich für demokratisches Mitspracherecht stehende - Label „Kirchennah“, räumt aber ein, dass jene Gruppe „ebenfalls aktiv“ ist, aber „die sogenannte Anbiederung an den Zeitgeist“ ablehnt. Diese Gruppe „will keine Gleichstellung, keine queeren Geistlichen und wendet sich ab, wenn über Reformen geredet wird“. Zwar ist diese Gruppe, so Pickel weiter, „kleiner als die der aktiven Reformbefürworter, aber sie ist gut organisiert und weiß, sich Gehör zu verschaffen“.

Die Entzweiungen unter engagierten Christen werden auch dadurch verschärft, so die Einschätzungen Pickels wieder mit deutlich stärkerer Betonung der Situation in der katholischen Kirche statt seiner eigenen, „dass die Unterschiede durch die unübersehbaren Gegensätze zwischen der Mehrheit der deutschen Bischöfe und dem Vatikan angeheizt werden. Wenn Papst Franziskus mehr oder weniger unverhohlen Sympathien für die neue amerikanische Rechtsprechung zum Schwangerschaftsabbruch bekundet, freut das traditionalistische Katholiken, provoziert aber liberale Katholiken.“

Was ist davon zu halten?

Zunächst einmal: Es ist lobenswert, dass die Gruppe jene Kirchenaustrittswilligen, die eigentlich in die innere Mitte der Kirche gehören, überhaupt erwähnt werden statt stillschweigend zu übergehen, dass gerade die von Herzen Gläubigen Katholiken in steigendem Maße Probleme mit der deutsch-katholischen Kirche haben.

Die Lösungsvorschläge, die der evangelische Theologe für die Situation der vielen Kirchenaustritte aus beiden Großkonfessionen macht, sind dann allerdings wieder weniger neu oder zielführend. Er hält bsp. Demokratisierung für ein wichtiges Stichwort, wieder ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung katholische Kirche, denn bei den evangelisch-landeskirchlichen Christen Deutschlands kann bekanntermaßen keine Rede von mangelnder Demokratisierung sein. Die Worte „Jesus“, „Gott“, „persönlicher Glaube“/„persönliche Glaubensentscheidung“ oder eine Rückkehr zu den geistlichen Wurzeln (bei ihm als evangelischem Christen wären da unverzichtbar zu nennen: Die großen „solae“ der Reformation) tauchen nicht auf. Kirche erscheint bei ihm als Verein für Gemeinschaft und Sozialeinsätze und geht nicht über das hinaus, was letztlich auch jeder Sport- oder Nachbarschaftsverein leisten kann.

Wer Kirche aber nur als eine Art Nachbarschaftsverein mit einem Touch Folklore versteht, der muss sich fragen lassen, ob er überhaupt verstanden hat, um was es bei „Kirche“ im Eigentlichen geht. Was „Kirche“ ist, darüber gibt schon die Herkunft des Wortes eine erste Auskunft, es steht im Griechischen für „die dem Herrn Gehörige“. Wie man eine Gemeinschaft versteht, „die dem Herrn gehört“, mag dann zwar in den Ausprägungen zwischen den beiden Konfessionen deutlich unterschiedlich definiert werden - FAKT ist aber, dass diese Gemeinschaft ohne Jesus und ohne Glauben nicht existiert, weder katholischerseits noch evangelischerseits. Es wäre hilfreich gewesen, wenn die entsprechenden Worte auch im Interview mit der „Welt“ genannt worden wären. Für den christlichen Soziologieprofessor wäre dies eine Möglichkeit gewesen, seinen eigenen Glauben zu bezeugen und damit vielleicht die Saat auszusäen, auch andere Menschen mit dem gelebten, überzeugten Christentum „anzustecken“, auf katholisch gesagt: es wäre eine Möglichkeit zur „Neuevangelisierung“ gewesen. In der vorhandenen Form offenbaren die Antworten des Experten aber erhebliche Grundsatzmängel, plus eine erkennbare Tendenz, die Probleme besonders gern bei jener Konfession zu beleuchten, die nicht die eigene ist. Warum kehrt der evangelische Professor nicht stärker auch vor seiner eigenen Tür? Die Art und Weise, wie Kritikwürdiges (zb. Missbrauch) in starkem Maße einseitig den Katholiken zugeschoben wird, kann zu Verwunderung führen. Sollte nicht gerade Wissenschaft für eine gewisse Objektivierung des Blickes sorgen?

Das Interview greift deshalb in seinem Fragen nach Kirchenaustrittgründen sehr grundsätzlich zu kurz.

Foto: Symbolbild


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