15. Juli 2022 in Aktuelles
Benedikt XVI. – Licht des Glaubens: der heilige Bonaventura und die Gefahr eines schwerwiegenden Missverständnisses des heiligen Franziskus. Das wahre ‚Itinerarium mentis in Deum’. Von Armin Schwibach
Rom (kath.net/as) 15. Juli: Festtag des heiligen Bonaventura. Im März 2010 widmete Papst Benedikt XVI. bei den Generalaudienzen drei große Katechesen diesem seinem Meister.
Giovanni Fidanza wurde im Jahr 1218 in Bagnoregio (Viterbo) geboren. Als Kind wurde er vom heiligen Franziskus geheilt, der ausgerufen haben soll: „Oh bona Ventura“. Es blieb bei seinem Namen, und er war in der Tat ein „guter Ventura“ für die Kirche. Er wollte Franziskaner werden, studierte Philosophie und Theologie in Paris und war dort lange Zeit Professor. Er wurde zum Generaloberen seines Ordens gewählt und organisierte und leitete ihn so klug, dass man ihn als „zweiten Gründer und Vater“ bezeichnete. Tatsächlich hatte Franziskus keine genaue Verfassung hinterlassen. Um ihn in der Nähe Roms zu halten, ernannte ihn der Papst zum Bischof von Albano und zum Kardinal und beauftragte ihn mit der Vorbereitung des Ökumenischen Konzils von Lyon II zur Vereinigung der lateinischen und griechischen Christen.
Seine augustinisch geprägte und stark christozentrisch ausgerichtete Theologie ermöglichte ihm ein tiefes Verständnis der östlichen Theologie. Das Konzil wurde am 7. Mai 1274 eröffnet, am 28. Juni wurde eine Einigung über die Union erzielt (die leider später wieder gebrochen wurde), aber am 15. Juli starb Bonaventura, im Beisein von Papst Gregor X. Einige Monate zuvor war der heilige Thomas von Aquin, mit dem er eng befreundet war, gestorben.
Bonaventura war ein Mann des Handelns und des Regierens, praktisch und spekulativ, reich an ausgewogenen Gefühlen und sympathisch „menschlich“. Er sah eine grundlegende Übereinstimmung zwischen den Künsten, den Wissenschaften, der Philosophie, der Theologie und der Geschichte. Selten waren Wissenschaft und Glaube in einem Menschen so harmonisch vereint und vor allem so von Liebe beseelt; er war ein großer Kontemplativer, ein Mystiker. Deshalb wurde er mit dem Titel „Doctor Seraphicus“ geehrt.
In seiner zweiten Katechese zum Heiligen (10. März 2010) setzte sich Benedikt XVI. mit seinem Denken und sein Werk auseinander. In seinem letzten, unvollendet gebliebenen Werk Hexaëmeron – eine Auslegung zu den sechs Schöpfungstagen – legte er eine Geschichtstheologie vor.
„Innerhalb des Franziskanerordens war die Bewegung der Spiritualen entstanden, die in Franz von Assisi die Erfüllung der Prophezeiungen des schon verstorbenen Zisterzienserabtes Joachim von Fiore sah. Das heißt: Es wird ein neues Zeitalter des Heiligen Geistes kommen, das die bisherige Kirche hinter sich lassen wird und wo die Menschen in einer neuen Freiheit und Weite leben werden. Bonaventura, der sich um eine authentische Deutung des heiligen Franziskus und um den inneren Zusammenhalt seines Ordens und dessen Sein in der Kirche mühte, wies diese Interpretation zurück: Es gibt nicht nach der Zeit Christi noch eine Zeit des Heiligen Geistes, es ist keine andere Kirche zu erwarten. So muß sich die franziskanische Gemeinschaft in die konkrete, reale Kirche mit ihrer Lehre und ihrer inneren Ordnung einfügen. Aber das Phänomen Franziskus zeigt, daß der Reichtum Christi unerschöpflich ist und die Tatsache, dass in Christus schon alles gesagt ist, nicht bedeutet, daß wir an die Vergangenheit angekettet sind. Er ist unerschöpflich, und immer Neues wird sichtbar. Franziskus war in seiner Zeit das Zeichen dafür, daß die Neuheit Christi in der Kirche lebt und in ihr unerschöpflich ist. So hat Bonaventura den Franziskanerorden einerseits auf dem Realismus aufgebaut, daß er in diese eine Kirche Christi gehört, andererseits auf das Wissen um die Neuheit dieser Bewegung, die die alten Ordensideale überschritt zu einer neuen Weise des Lebens in der Weite der Verkündigung und in missionarischer Dynamik. Große Bedeutung hat Bonaventura als Autor spirituell-mystischer Schriften, mit denen er seine Ordensregierung in diesem Sinne als zugleich voranführend und konkret, den Menschen Rechnung tragend, darstellt und die Menschen von innen her zu führen versucht. Das wichtigste Werk daraus ist das Itinerarium mentis in Deum – die Wanderschaft des Menschen zu Gott –, wo er zeigt, daß, um zu Gott zu kommen, intellektuelle Anstrengung allein nicht ausreicht, sondern die Reinigung des Herzens notwendig ist und das innere Aufwärtsgehen des Menschen, die wirkliche Nachfolge Christi, die dann zu lebendiger Erfahrung Gottes und zu innerer Freude führt“.
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Benedikt XVI., Generalaudienz vom 10. März 2010:
Vergangene Woche habe ich über das Leben und die Persönlichkeit des hl. Bonaventura von Bagnoregio gesprochen. Heute vormittag möchte ich die Vorstellung dieses Heiligen fortsetzen und bei einem Teil seines literarischen Werkes und seiner Lehre verweilen.
Wie ich bereits sagte, hatte der hl. Bonaventura unter anderem das Verdienst, die Gestalt des von ihm mit großer Liebe verehrten und studierten hl. Franz von Assisi authentisch und getreu gedeutet zu haben. Im besonderen vertrat zur Zeit des hl. Bonaventura eine Bewegung der Minderbrüder, die sogenannten »Spiritualen«, die Ansicht, daß mit dem hl. Franziskus eine völlig neue Phase der Geschichte eingeleitet worden sei, das »ewige Evangelium« erschienen sei, von dem die Geheime Offenbarung spricht und das das Neue Testament ersetze. Diese Gruppe behauptete, die Kirche hätte nunmehr ihre historische Rolle erschöpft, und an ihre Stelle wäre eine charismatische Gemeinschaft freier Männer getreten, die innerlich vom Geist geleitet würden, nämlich die »Franziskaner Spiritualen«. Den Ideen dieser Gruppe lagen die Schriften eines Zisterzienser - abtes, Joachim von Fiore, zugrunde, der 1202 gestorben war. In seinen Werken machte er einen trinitarischen Rhythmus der Geschichte geltend. Er betrachtete das Alte Testament als Zeitalter des Vaters, gefolgt von der Zeit des Sohnes, der Zeit der Kirche. Es sei noch das dritte Zeitalter, das des Heiligen Geistes, zu erwarten. Auf diese Weise wurde die ganze Geschichte als eine Geschichte des Fortschritts interpretiert – von der Strenge des Alten Testaments zur relativen Freiheit der Zeit des Sohnes in der Kirche bis zur vollen Freiheit der Kinder Gottes in der Zeit des Heiligen Geistes, die schließlich auch die Zeit des Friedens unter den Menschen, der Versöhnung der Völker und der Religionen sein würde. Joachim von Fiore hatte die Hoffnung geweckt, daß der Beginn der neuen Zeit von einem neuen Mönchtum ausgehen würde. So ist es verständlich, daß eine Gruppe von Franziskanern dachte, im hl. Franz von Assisi den Initiator der neuen Zeit und in seinem Orden die Gemeinschaft des neuen Zeit - alters zu erkennen – die Gemeinschaft der Zeit des Heiligen Geistes, welche die hierarchische Kirche hinter sich ließ, um die nicht mehr an die alten Strukturen gebundene neue Kirche des Geistes zu beginnen.
Es bestand also die Gefahr einer sehr ernsten Mißdeutung der Botschaft des hl. Franziskus, seiner demütigen Treue zum Evangelium und zur Kirche, und dieses Mißverständnis hatte eine irrige Vorstellung vom Christentum insgesamt zur Folge.
Der hl. Bonaventura, der im Jahr 1257 Generalminister des Franziskanerordens geworden war, fand sich einer schweren Spannung innerhalb seines Ordens gegenüber, eben wegen derjenigen Brüder, welche die erwähnte Strömung der »franziskanischen Spiritualen« vertraten, die auf Joachim von Fiore zurückging. Um dieser Gruppe zu antworten und dem Orden die Einheit wiederzugeben, studierte der hl. Bonaventura sorgfältig die echten Schriften des Joachim von Fiore und ebenso jene, die ihm zugeschrieben wurden, und während er der Notwendigkeit Rechnung trug, die Gestalt und die Botschaft seines geliebten hl. Franziskus korrekt vorzustellen, wollte er eine richtige Sicht der Geschichtstheologie darlegen. Der hl. Bonaventura setzte sich mit dem Problem gerade in seinem letzten Werk auseinander, einer Sammlung von Vorträgen vor den Mönchen des Pariser Studiums, die unvollendet geblieben und durch die Mitschriften der Hörer auf uns gekommen ist; die Sammlung trägt den Titel Hexaëmeron, das heißt eine allegorische Erklärung der sechs Schöpfungstage. Die Kirchenväter betrachteten die sechs bzw. sieben Tage des Schöpfungsberichtes als Prophezeiung der Geschichte der Welt, der Menschheit. Die sieben Tage stellten für sie sieben Zeitabschnitte der Geschichte dar, die später auch als sieben Jahrtausende ausgelegt wurden. Mit Christus wären wir in den letzten, also den sechsten Abschnitt der Geschichte eingetreten, auf den dann der große Sabbat Gottes folgen würde. Der hl. Bonaventura setzt diese geschichtliche Auslegung des Berichts der Schöpfungstage voraus, allerdings auf sehr freie und innovative Weise. Für ihn machen zwei Erscheinungen seiner Zeit eine neue Auslegung des Laufes der Geschichte notwendig:
Erstens: Die Gestalt des hl. Franziskus, des Menschen, der mit Christus bis zur Gemeinschaft der Stigmata vollständig vereint ist, gleichsam ein »alter Christus« (zweiter Christus), und mit dem hl. Franziskus die von ihm geschaffene neue Gemeinschaft, die von dem bisher bekannten Mönchtum verschieden ist. Dieses Phänomen erforderte eine Neuinterpretation, als Neuheit Gottes, die in jenem Moment zutage getreten war.
Zweitens: Die Position des Joachim von Fiore, der ein neues Mönchtum und ein völlig neues Zeitalter der Geschichte ankündigte und dabei über die Offenbarung des Neuen Testaments hinausging, verlangte eine Antwort.
Als Generalminister des Franziskanerordens hatte der hl. Bonaventura sofort gesehen, daß der Orden mit der von Joachim von Fiore inspirierten spiritualistischen Auffassung nicht regierbar war, sondern sich logischerweise auf dem Weg in die Anarchie befand. Für ihn ergaben sich daraus zwei Konsequenzen:
Die erste: Die praktische Notwendigkeit von Strukturen und der Eingliederung in die Wirklichkeit der hierarchischen Kirche, der wirklichen Kirche, bedurfte eines theologischen Fundaments, auch deshalb, weil die anderen, die der spiritualistischen Auffassung folgten, ein scheinbares theologisches Fundament erkennen ließen.
Die zweite Konsequenz: Auch wenn man dem notwendigen Realismus Rechnung trug, durfte die Neuheit der Gestalt des hl. Franziskus nicht verloren gehen.
Wie hat der hl. Bonaventura dem praktischen und theoretischen Erfordernis entsprochen? Von seiner Antwort kann ich hier nur eine ganz schematische und unvollständige Zusammenfassung in einigen Punkten geben:
1. Der hl. Bonaventura weist die Vorstellung des trinitarischen Rhythmus der Geschichte zurück. Gott ist einer für die ganze Geschichte und teilt sich nicht in drei Gottheiten. Folglich ist die Geschichte eine, auch wenn sie ein Weg und – nach dem hl. Bonaventura – ein Weg des Fortschritts ist.
2. Jesus Christus ist das letzte Wort Gottes – in ihm hat Gott alles gesagt, indem er sich selbst geschenkt und zum Ausdruck gebracht hat. Mehr als sich selbst kann Gott weder sagen noch geben. Der Heilige Geist ist Geist des Vaters und des Sohnes. Christus selbst sagt vom Heiligen Geist: »Er wird euch … an alles erinnern, was ich euch gesagt habe« (Joh 14,26), »er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden« (Joh 16,15). Es gibt also kein anderes, höheres Evangelium, es gibt keine andere Kirche, auf die man warten müßte. Daher muß sich auch der Orden des hl. Franziskus in diese Kirche, in ihren Glauben, in ihre hierarchische Ordnung einfügen.
3. Das bedeutet nicht, daß die Kirche unbeweglich, auf die Vergangenheit festgelegt sei und es in ihr keine Neuheit geben könne. »Opera Christi non deficiunt, sed proficiunt«, die Werke Christi gehen nicht zurück, werden nicht weniger, sondern schreiten voran, sagt der Heilige in dem Brief De tribus quaestionibus. So formuliert der hl. Bonaventura ausdrücklich die Idee vom Fortschritt, und das ist eine Neuheit gegenüber den Kirchenvätern und einem Großteil seiner Zeitgenossen. Für den hl. Bonaventura ist Christus nicht mehr, wie es für die Kirchenväter der Fall war, das Ende, sondern der Mittelpunkt der Geschichte; mit Christus endet die Geschichte nicht, sondern es beginnt ein neues Zeitalter. Eine weitere Konsequenz ist folgende: Bis zu jenem Augenblick herrschte die Idee vor, daß die Kirchenväter der absolute Höhepunkt der Theologie gewesen seien; alle nachfolgenden Generationen konnten nur ihre Schüler sein. Auch der hl. Bonaventura anerkennt die Kirchenväter als immerwährende Meister, aber das Phänomen des hl. Franziskus gibt ihm die Gewißheit, daß der Reichtum des Wortes Gottes unerschöpflich ist und daß auch in den neuen Generationen neue Geistesgrößen zutage treten können. Die Einzigartigkeit Christi gewährleistet auch Neuheit und Erneuerung in allen Zeitaltern der Geschichte.
Gewiß, der Franziskanerorden – so unterstreicht der hl. Bonaventura – gehört zur Kirche Jesu Christi, zur apostolischen Kirche und kann sich nicht in einem utopischen Spiritualismus aufbauen. Gleichzeitig aber gilt die Neuheit dieses Ordens gegenüber dem klassischen Mönchtum, und der hl. Bonaventura hat – wie ich in der vorhergehenden Katechese sagte – diese Neuheit gegen die Angriffe des Weltklerus von Paris verteidigt: Die Franziskaner haben kein festes Kloster, sie können überall zugegen sein, um das Evangelium zu verkündigen. Gerade der Bruch mit der für das Mönchtum charakteristischen Stabilität zugunsten einer neuen Flexibilität gab der Kirche die missionarische Dynamik zurück.
An diesem Punkt ist es vielleicht nützlich zu sagen, daß es auch heute Anschauungen gibt, nach denen die ganze Geschichte der Kirche im zweiten Jahrtausend ein ständiger Niedergang gewesen sei; einige sehen den Niedergang schon sofort nach dem Neuen Testament. In Wirklichkeit »Opera Christi non deficiunt, sed proficiunt«, gehen die Werke Christi nicht zurück, sondern schreiten voran. Was wäre die Kirche ohne die neue Spiritualität der Zisterzienser, der Franziskaner und Dominikaner, ohne die Spiritualität der hl. Teresa von Avila und des hl. Johannes vom Kreuz, und so weiter? Auch heute gilt dieser Satz: »Opera Christi non deficiunt, sed proficiunt«, sie schreiten voran. Der hl. Bonaventura lehrt uns das Zusammengehen der notwendigen, auch strengen Unterscheidung des nüchternen Realismus und der Öffnung für neue Charismen, die von Christus seiner Kirche im Heiligen Geist geschenkt werden. Und während sich diese Vorstellung vom Niedergang wiederholt, gibt es auch die andere Vorstellung, nämlich diesen »spiritualistischen Utopismus«, der sich wiederholt. Wir wissen in der Tat, wie einige nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil davon überzeugt waren, daß alles neu wäre, daß es da eine andere Kirche gäbe, daß die vorkonziliare Kirche zu Ende wäre und wir eine andere, eine völlig »andere« Kirche haben würden. Ein anarchischer Utopismus! Und Gott sei Dank haben die weisen Steuermänner des Schiffes Petri, Papst Paul VI. und Papst Johannes Paul II., einerseits die Neuheit des Konzils und andererseits gleichzeitig die Einzigkeit und Kontinuität der Kirche verteidigt, die immer Kirche der Sünder und immer Ort der Gnade ist.
4. In diesem Sinn schlug der hl. Bonaventura als Generalminister der Franziskaner in der Leitung eine Richtung ein, bei der es ganz klar wurde, daß der neue Orden als Gemeinschaft nicht auf derselben »eschatologischen Höhe« leben konnte wie der hl. Franziskus, in dem er die künftige Welt vorweggenommen sah, sondern daß er sich – gleichzeitig geleitet von einem gesunden Realismus und vom spirituellen Mut – möglichst weit der höchsten Verwirklichung der Bergpredigt nähern mußte, die für den hl. Franziskus die Regel schlechthin war, und dabei den Grenzen des von der Erbsünde gezeichneten Menschen Rechnung zu tragen hatte.
Wir sehen also, daß für den hl. Bonaventura die Leitung nicht bloßes Tun war, sondern vor allem Denken und Beten. An der Basis seiner Leitung finden wir immer das Gebet und das Denken; alle seine Entscheidungen ergeben sich aus der Reflexion, aus dem vom Gebet erleuchteten Denken. Sein inniger Kontakt mit Christus hat seine Arbeit als Generalminister immer begleitet, und daher hat er eine Reihe theologisch-mystischer Schriften verfaßt, die den Geist seiner Führung zum Ausdruck bringen und die Absicht bekunden, den Orden innerlich zu führen, das heißt nicht allein durch Befehle und Strukturen zu regieren, sondern indem er die Seelen leitete und erleuchtete und sie auf Christus ausrichtete.
Von diesen seinen Schriften, die die Seele seiner Regierung sind und den Weg zeigen, der sowohl vom einzelnen wie von der Gemeinschaft beschritten werden soll, möchte ich nur eine erwähnen, sein Hauptwerk, das Itinerarium mentis in Deum, das ein »Handbuch« mystischer Kontemplation ist. Dieses Buch wurde an einem Ort tiefer Spiritualität konzipiert: auf dem Berg La Verna, wo der hl. Franziskus die Stigmata empfangen hatte. In der Einleitung erläutert der Verfasser die Umstände, die diese seine Schrift entstehen ließen: »Während ich über die Möglichkeit der Seele nachdachte, zu Gott aufzusteigen, stellte sich für mich unter anderem jenes wunderbare Ereignis ein, das an jenem Ort dem seligen Franziskus widerfahren ist, nämlich die Vision des geflügelten Seraphs in der Gestalt des Gekreuzigten. Und während ich darüber meditierte, wurde ich mir plötzlich gewahr, daß diese Vision mir die kontemplative Ekstase des Vaters Franziskus und zusammen damit den Weg bot, der zu ihr hinführt« (Itinerarium mentis in Deum, Prolog 2).
Die sechs Flügel des Seraphs werden so zum Symbol der sechs Etappen, die den Menschen fortschreitend von der Erkenntnis Gottes durch die Beobachtung der Welt und der Geschöpfe sowie durch die Erforschung der Seele selbst mit ihren Möglichkeiten bis zur erfüllenden Vereinigung mit der Dreifaltigkeit durch Christus führen – in Nachahmung des hl. Franz von Assisi. Die letzten Worte des Itinerarium des hl. Bonaventura, die auf die Frage antworten, wie diese mystische Gemeinschaft mit Gott erreicht werden könne, sollten in die Tiefe des Herzens eingesenkt werden: »Wenn du dich nun danach sehnst zu wissen, wie dies (nämlich die mystische Gemeinschaft mit Gott) zustande kommen könne, befrage die Gnade, nicht die Wissenschaft; die Sehnsucht, nicht den Verstand; den Seufzer des Gebets, nicht die Wißbegierde des Lesens; den Bräutigam, nicht den Meister; Gott, nicht den Menschen; den Schleier, nicht die Klarheit, nicht das Licht, sondern das Feuer, welches das Sein entflammt und in die abgründigen Tiefen Gottes hineinführt, weil es den Menschen in delikater Weise salbt und glühende Empfindungen weckt … Treten wir also in die Dunkelheit ein, bringen wir die Sorgen, die Begierden und die Trugbilder zum Schweigen; gehen wir mit dem gekreuzigten Christus von dieser Welt zum Vater, damit wir, nachdem wir ihn gesehen haben, mit Philippus sagen: Das genügt mir« (ebd. VII, 6).
Liebe Freunde, nehmen wir die vom hl. Bonaventura, dem Doctor Seraphicus, an uns ergangene Einladung an und begeben wir uns in die Schule des göttlichen Meisters; hören wir auf sein Wort des Lebens und der Wahrheit, das im Innersten unserer Seele widerklingt. Reinigen wir unser Denken und unser Handeln, damit er in uns wohnen kann und wir seine göttliche Stimme verstehen können, die uns zum wahren Glück hinzieht.
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